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Ein gutes Beispiel für die Amerikaauswanderung "in zweiter und dritter Generation" ist die Biografie des Heuerlings Wilhelm Handieck aus Ledde im Tecklenburger Land (1854 geboren), der sich 1881 nach Amerika einschiffte. Als ihm sein Bruder viele Jahre später (um 1930) Berichte über Auswandererschicksale, abgedruckt im "Tecklenburger Heimatblatt", zuschickte, entschloss sich Handieck seine eigenen Erlebnisse nieder zu schreiben und der Redaktion des Heimtblattes zur Verfügung zu stellen. So sind wir bis heute über das Auswandererschicksal eines „Heuerlings in Pittsburgh“ informiert:

 
Aus: Brigitte Jahnke, Ein Heuerling in Pittsburgh, in: Gisbert Strotdrees, Fremde in Westfalen - Westfalen in der Fremde. Zur Geschichte der Ein- und Auswanderung von 1200 bis 1950, Münster 1996, S.


„Heinrich Wilhelm Handieck wird am 26.3.1854 als zweiter Sohn eines Steinbrucharbeiters und Heuerlings in Ledde bei Tecklenburg geboren. Das Haus, in dem die Familie lebt, ist von einem Grundbesitzer 1821 für die Familie seines Großvaters gebaut worden. Von den Handiecks wird es wie ein Eigentum behandelt. Die Größe der Heuerstelle reicht gerade aus, um zwei Kühe und ein paar Schweine zu halten. Man arbeitet hart und lebt in bescheidenem Wohlstand.
Dann muß Heinrich als Kind miterleben, wie die Familie in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten gerät. Ein neuer Besitzer erhöht die Heuer um die Hälfte. Wenig später werden die Handiecks nach fast fünfzig Jahren Mietdauer kurzfristig auf die Straße gesetzt, weil sich ein Käufer für das Haus gefunden hat.
Für die Familie ist dies ein großer Schock. Wegen der allgemeinen Wohnungsnot kann nur noch ein baufälliges Heuerhaus auf einem heruntergekommenen Hof gepachtet werden. Der verbitterte und verzweifelte Vater erholt sich davon nicht mehr. Er stirbt drei Jahre später.
Nach dem Ende der Schulzeit arbeitet Heinrich Handieck als Knecht auf dem Bauernhof des Verpächters. Vom Heuerlohn sieht er keinen Pfennig. Sein Lohn wird als Pachtgeld für die elende Heuerlings-Unterkunft der Familie verrechnet.
Der Achtzehnjährige ist für den Unterhalt der kränklichen Mutter und der jüngeren Geschwister verantwortlich, bis sein älterer Bruder vom Militärdienst entlassen wird. Er übernimmt die Verpflichtungen eines Heuermannes, führt die kleine Landwirtschaft und arbeitet als ‚Schufkaorenfahrer“ in einem Kalksteinbruch, der über eine Stunde Fußmarsch entfernt ist.
Heinrich Handieck verläßt erstmals die Heimat, um den Militärdienst abzuleisten. In Düsseldorf lernt er ein völlig neues, anderes Leben kennen. Wochenweise vom Dienst beurlaubt, kann der junge Mann durch Gelegenheitsarbeiten zum ersten Mal in seinem Leben Ersparnisse machen.
Bei seiner Rückkehr vom Militär findet Heinrich zunächst keine Arbeit. Schließlich nimmt er auf einem Hof in Westerkappeln-Hambüren eine Stellung als Knecht an. Nach dem Tod des Bauern kann sich der Knecht mit dem neuen ‚Gebieter‘ nicht anfreunden. Handieck sieht sich ungerecht und herabsetzend behandelt; dadurch wird er in seinem Entschluß, nach Amerika auszuwandern, bestärkt. Als er dieses Vorhaben seinem Chef eröffnet, reagiert der mit einem Satz, an den sich Henry Handieck als alter Mann noch fünfzig Jahre später erinnert: ‚Er sagte dann, dahin kommst du dein Lebetage nicht!‘
Heinrichs Entschluß aber ist gefaßt. Der Pastor versucht vergeblich, ihn an seine Pflichten gegenüber der alten kranken Mutter zu erinnern. Auch die kann den jungen Mann nicht von seinem Vorhaben abhalten. Sie ist verzweifelt: ‚Ich möchte dich lieber zum Kirchhof bringen. Mein Bruder wollte damals auch nach Amerika. ist aber nicht hingekommen, ist auf dem Schiffe gestorben und ins Wasser gekommen, und so geht es dir auch.‘
Im Juli 1881 wandern sieben Familien gemeinsam von Westerkappeln aus nach Nordamerika aus. Zur Gruppe gehören auch etliche unverheiratete jüngere Männer und Frauen – und Heinrich Handieck mit seiner Verlobten, der Magd Maria Elise Welp aus Westerkappeln.
Zu Fuß und mit dem Pferdewagen begibt sich die Gruppe zum Bahnhof Bramsche. Unterwegs kommen weitere Auswanderer hinzu. Mit der Eisenbahn geht es nach Bremerhaven. Die Überfahrt auf dem Dampfschiff ‚Amerika‘ dauert 15 Tage. Am 11. August 1881 erreicht die Gruppe Baltimore. Der größere Teil der Auswanderergruppe begibt sich auf die mehrtägige Fahrt nach Arkansas. Heinrich Handieck und seine Verlobte hingegen suchen ehemalige Nachbarn aus dem Tecklenburgischen in Pittsburgh im Bundesstaat Pennsylvanien auf. Dort treffen sie auf eine größere Gruppe ‚Plattdütsker‘, die in den großen Eisen- und Stahlwerken arbeiten.
‚Am 12ten August etwa 9 Uhr Morgens war dann glücklich der Baltimore-Ohio Bahnhof in Pittsburgh, Pa. erreicht‘, schreibt Henry Handieck später. ‚Ein früherer guter Bekannter, gebürtig von Hambüren, welcher am Tage vorher telegraphisch gebeten worden, war daselbst zur Stelle und nahm zwei von den Ankömmlingen in einem von 2 Pferden gezogenen Straßenbahnwagen nach West-Pittsburgh, dann noch eine Strecke zu Fuß bergauf zu seinem vor kurzem erbauten neuen Wohnhause, wo wir von seiner lieben Frau freundlich empfangen und von mehreren herbeigeeilten alten Bekannten herzlich begrüßt, und wie es ja nicht anders sein konnte, wir auf mancherlei gestellte Fragen Antwort zu geben versuchten.‘
Weiter schreibt Handieck in seinen Erinnerungsbericht: ‚Ich habe gleich Arbeit zugesagt bekommen, und bin am Montag, den 15ten August angefangen und habe 34 Jahre angehalten, da wurde ich pensioniert. Mein erster Tageslohn im Eisen-Stahlwerk war 1 ¼ Dollar (5 Deutsche Mark).‘ Als Knecht hatte Heinrich Handieck, neben freier Verpflegung und Unterkunft, 126 Mark im Jahr verdient.
Nur wenige Tage später hat auch Maria Elisa Welp eine Anstellung als Magd in einem Milchgeschäft. Bald darauf findet das junge Paar eine Zweizimmerwohnung im Haus einer deutschen Witwe. Die mitgebrachten Ersparnisse reichen zur Anschaffung der notwendigsten Möbel. Am 11. September 1881 lassen sich die beiden von einem deutschen protestantischen Pfarrer trauen.
Von der Vermieterin lernt die junge Frau, mit einer Nähmaschine umzugehen. Danach stellt sie selbst im Auftrag eines Kaufhauses Arbeitshosen in Heimarbeit her. Der Verdienst aus dieser Heimarbeit ist so hoch, daß er ausreicht, das junge Paar über Wasser zu halten, als Heinrich während eines Streiks längere Zeit ohne Einkommen ist.
Die erste Wohnung müssen Heinrich und Elise nach zwei Jahren wieder verlassen. Auf dem Gelände einer ehemaligen Ziegelei können die Handiecks einen Bauplatz von etwa 600 qm für 450 Dollar in Raten erstehen. ‚Ohne lange zu säumen, sind dann die Vorbereitungen für den Bau eines Häuschens getroffen worden‘, so Henry Handieck später. ‚Ein Bauholzlager war in unmittelbarer Nähe, wo man Bauholz von jeder gewünschten Art und Größe haben konnte, auch Steine und Sand zum Bau einer Kellermauer wurden gegen Bezahlung gern gebracht. Das Ausgraben eines Kellers 16 x 18 Fuß und etwas über 6 Fuß tief, habe ich mit Hilfe mehrerer Landsleute, welche in der Nähe wohnten, in den Abendstunden nach er Fabriksarbeit ausgeführt. Es wurde ein Fäßchen Bier geholt und dabei getrunken, und gar nicht lange dauerte es, daß der Maurermeister und zwei Gehülfen die Mauerarbeit aufgeführt hatten, und die Bauschreinerarbeit konnte beginnen. Es traf sich auch zufällig, daß ein junger Mann, namens Hermann Mennewisch aus Metten (Westerkappeln), welcher schon ein gelernter Schreiner oder Zimmermann war, von Deutschland kam. Derselbe war dann auch gern bereit, unser Häuschen aufzubauen.‘
Handieck baut sich also mitten in Pittsburgh ein westfälischen Fachwerkhaus mit zwei Räumen. Nach nur zwei Jahren Aufenthalt in Amerika kann das tüchtige junge Paar in sein eigenes Heim einziehen. Heinrich Handieck befreit anschließend in mühsamer Arbeit das Gelände von Ziegelabfällen. Er legt einen Gemüsegarten an. Auch für einige Hühner reicht der Platz auf dem Grundstück.
Vier Jahre später ist das Häuschen bezahlt. Da inzwischen drei Kinder geboren sind, wird sofort ein Anbau in Angriff genommen. Danach verfügt die Familie über fünf Räume.
‚Als dieser Anbau kaum vollendet, begab es sich eines Tages, daß eine telegraphische Depesche an einen Mann, gebürtig aus Lotte, welcher auch in Painters Eisenwerk arbeitete, geschickt ward, welche die Bitte enthielt, am anderen Morgen am Bahnhof in Pittsburgh eine bekannte Familie, von Deutschland kommend, abzuholen. Dieser Mann hat sich erst gar nicht erst an eine Familie entsinnen können, welche das wohl sein könne. Es waren Bekannte seiner Schwester! Dann am nächsten Morgen stellte es sich heraus: Es war noch eine ziemlich junge Frau aus Lengerich mit zwei Kindern, ein Junge von etwa 4 Jahren und ein Mädchen von ein paar Monaten. Ihr Mann, welcher Schuhmacher war und nach Amerika mit ihnen wollte, war gleich die ersten Tage auf dem Schiff erkrankt und auch bald gestorben. Der Mann aus Lotte hat dann die bedauernswerte Frau mit zu seiner Wohnung genommen und für die ersten Tage auch Unterkunft gewährt. Was war zu thun, die Witwen und Waisen soll man unterstützen und ihnen in der Not beistehen.‘
Die Handiecks nehmen die junge Frau auf. Jetzt leben drei Erwachsene und fünf Kinder unter fünf Jahren in dem kleinen Häuschen. Die junge Witwe hilft bei den Näharbeiten und im Haushalt, zusätzlich übernimmt sie Gelegenheitsarbeiten und arbeitet als Wäscherin.
Als alter Mann erfüllt sich Heinrich Handieck noch einmal einen Traum. Er zieht aufs Land, vor die Tore der Industriestadt Pittsburgh. Dort baut er auf einem umfangreicheren Grundstück ein neues, größeres Haus. Später schreibt er dazu:
‚Nachdem ich 34 Jahre in dem Painters Eisenwerk gearbeitet, war ich bereits über 61 Jahre alt geworden. Es wurde mir von der United Steel Corporation, unter welchem Verband die Painters Werke schon vorher gebracht waren, eine kleine Pension angeboten. Falls ich diese nicht wünsche zu nehmen, so müsse ich den veränderten Gesetzen nach noch 4 Jahre in der Arbeit bleiben, bis zum vollendeten 65ten Jahre. Es war im Frühjahr 1915, wo die Arbeit wegen der Kriegsverhältnisse in Europa hier teilweise in den Fabriken beschränkt war. Daraufhin habe ich dann das Pensionsangebot angenommen. Wir haben uns dann einen Platz gesucht, um auf einem Stück Land daselbst unserer eigenen Beschäftigung nachgehen zu können. Ein leerer Platz war auch bald gefunden, wir haben den käuflich erworben und ein Haus darauf gebaut, wo wir seitdem etwa 1 ½ Stunde Fußweg Entfernung von der Stadtgrenze Pittsburghs wohnen und mehr Raum und Freiheit besitzen als in den Straßen der Stadt. Unser im Jahre 1883 anfänglich gebautes Haus haben wir vor einigen Jahren verkauft.‘
In seiner neuen Heimat fühlt sich ‚Henry‘ Handieck wohl. Er genießt eine soziale und finanzielle Sicherheit, die seine Eltern nie kennengelernt hatten. Rückblickend weiß er, daß er in Amerika ein Leben geführt hat, wie es in Deutschland, als armer Heuerling im ländlichen Westfalen, nicht möglich gewesen wäre. Der alte Mann muß aber auch erleben, wie nach und nach die deutsche Gemeinde zerbricht, in die er selbst einmal so freundschaftlich aufgenommen worden ist.
Die deutsche Sprache wird fast nur noch von der älteren Generation gesprochen, denn: ‚Die Kinder von den gebliebenen Deutschen wollen auch lieber Englisch sprechen, weil sie diese Sprache in der Schule lernen und auch im Verkehr auf der Straße gebrauchen. Das Deutsche kommt somit in Vergessenheit und findet nicht mehr Beachtung.‘
Zu seinem Entsetzen sieht Heinrich, der sich immer noch als Deutscher fühlt, daß die Söhne seiner Freunde und Nachbarn im Ersten Weltkrieg in der US-Army gegen Deutschland kämpfen. Während der Weltwirtschaftskrise am Ende der Zwanziger Jahre zerfällt die Gemeinschaft endgültig. Viele Familien verlassen Pittsburgh auf der Suche nach Arbeit.“

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