Aus: Gisbert Strotdrees, Fremde in Westfalen - Westfalen in der Fremde. Zur Geschichte der Ein- und Auswanderung von 1200 bis 1950, Münster 1996, S. 179-181:
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„Der ostwestfälische Kreisamtmann von Borries läßt im Spätsommer 1851 einen Landwirt namens Ernst Ludwig Kirchhoff auskundschaften. Kirchhoff besitzt einen 90 Morgen großen Hof in der Ortschaft Dehme an der Weser, auf halber Strecke zwischen Minden und Bad Oeynhausen gelegen. Was die ‚inoffiziellen Mitarbeiter" über den 51jährigen Landwirt in Erfahrung bringen, faßt der Kreisamtmann von Borries im September 1851 folgendermaßen zusammen:
‚... berichte ich gehorsamst, daß eingezogener Erkundigung zufolge der Colon Kirchhoff No 1 zu Dehme hauptsächlich der Urheber der vielen Auswanderungen aus dem diesseitigen Amte gewesen ist.‘ Und weiter: ‚Der Colon Kirchhoff gehört zu den Leuten, die sich unzufrieden fühlen, hat nach seiner Art demokratische Gesinnungen – wohl richtiger bezeichnet: obrigkeitsfeindliche Gesinnungen; will sich den Gesetzen nicht unterwerfen.‘
Der 51jährige Bauer ist offensichtlich ein Anhänger des demokratischen ‚Umsturzes‘. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848, die kaum mehr als drei Jahre zurück liegt, trägt sich Kirchhoff mit dem Plan zur Auswanderung. ‚Obwohl er hier in guten äußeren Verhältnissen lebte, hat er sich durch die Ueberredungsgabe seines Sohnes – muthmaßgeblich – zur Auswanderung bewegen lassen‘, so jedenfalls stellt es der Kreisamtmann von Borries dar.
Tatsächlich ist der Sohn des aufsässigen Landwirts namens Carl Friedrich Wilhelm bereits 1849 im jugendlichen Alter von 17 Jahren ausgewandert. Der Vater folgt ihm nach. Er verkauft seinen Besitz und verläßt seine Heimat in Richtung Amerika. Später kehrt er noch einmal zurück, aber damit verlieren sich schon seine Spuren.
Von ihm selbst ist kein Schriftstück überliefert, aus dem etwas über sein Denken und Handeln zu erfahren wäre. Offensichtlich aber verläßt er Westfalen vor allem aus politischen Gründen: aus Unzufriedenheit mit dem königlich-preußischen Obrigkeitsstaat, in dem die große Masse des Volkes zu gehorchen, im Militär zu dienen und ansonsten nichts zu sagen hat.
‚Wir sind steuer-, militär- und früher auch wegedienstpflichtig, sind aber nicht im Landtag vertreten‘, so stellen Heuerlinge im Osnabrücker Land im April 1848, im Windschatten der Revolution also, in einer Bittschrift fest. Und weiter: ‚In den Kommunen sind wir zu Schul-, Kirchen- und anderen Steuern verpflichtet, nicht aber in Gemeindeberatungen zugezogen noch gefragt um Maßregeln, die unsere Interessen berühren.‘
Die Ereignisse des Frühjahrs 1848 wühlen gerade auch das ländliche Westfalen auf. In vielen Gegenden flackern Aufstände auf. Sie werden oft mit Militärgewalt niedergeknüppelt. Landwirte und Kleinbauern stürmen Kaufmannshäuser, Adelsschlösser und Rittergüter. In Dülmen etwa plündern Bauern das Schloß des Herzogs von Croy. In Suttrop bei Warstein wird das Gut des Freiherrn von Fürstenberg, bei Lübbecke das Gut des Freiherrn von Ledebur gestürmt; in Fürstenberg (Kreis Büren) geht das Archiv des Grafen Clemens August von Westphalen, in dem die Abgaben und Leistungen der Bauern festgehalten sind, in Flammen auf.
Eine große Gruppe aufgebrachter Heuerlinge belagert im ostwestfälischen Eisbergen das Gut Schellersheim, um vom Gutspächter und Verwalter eine Ermäßigung des Fährgeldes über die Weser und die Abtretung gepachteter Ländereien zu erzwingen. Dieser Aufruhr wird von eilig herbeigerufenem Militär aus Minden niedergeschlagen, die "Rädelsführer" werden verhaftet. Unter ihnen befindet sich ein Heuerling namens Schnüll. Er emigriert drei Jahre später mit seiner Familie nach Amerika.
Der Heuerling Schnüll wie der eingangs genannte Rehmer Landwirt Kirchhoff zählen zu den sogenannten ‚Forty-Eighter‘, zu den ‚Achtundvierzigern‘ also, wie die Anhänger der demokratischen Revolution von 1848 in den USA damals genannt werden. Gerade in den Jahren nach 1848 schwillt der Strom der Amerika-Auswanderer ungewöhnlich stark an. Allein im Spitzenjahr 1854 kehren fast 240.000 Menschen ihrem Vaterland Deutschland den Rücken. Sind sie durchweg politische Flüchtlinge, die nun ihre ganze Hoffnung auf die Demokratie der USA setzen? Sind sie alle über das Scheitern der Revolution enttäuscht und über die obrigkeitsstaatliche Reaktion in Deutschland entsetzt? Verlassen sie alle das Land, weil sie wegen ‚democratischer Umtriebe‘ verfolgt werden?
Die Antwort lautet schlicht: Nein. Die meisten Menschen verlassen Deutschland bzw. Westfalen in den 1840er und 1850er Jahren kaum aus Mangel an Demokratie und Mitspracherechten, sondern vornehmlich aus Mangel an Brot, aus Mangel an Arbeit – mithin aus sozialen und wirtschaftlichen Motiven. Darin sind sich die Historiker, die die Amerika-Auswanderung erforschen, einig. Die Massenflucht allein aus politischen Motiven sei ‚eine der Mythen, die wohl endgültig begraben worden sind‘, so Walter D. Kamphoefner, der die Geschichte der ‚Westfalen in der Neuen Welt‘ erforscht hat. Dennoch besteht zwischen der 1848er Revolution und dem Massenexodus nach Amerika ein Zusammenhang, den Kamphoefner so formuliert: ‚Die revolutionären Aktivitäten in den ländlichen Gebieten und die Emigration vor und nach 1848 wurden zumindest von denselben Mißständen genährt.‘
Gleichwohl gibt es damals Amerika-Auswanderer, auf die das Wort der ‚Forty-Eighter‘ als politische Flüchtlinge zutrifft. Im Massenexodus der vielen Hunderttausend stellen sie aber allenfalls eine Minderheit. Der Historiker Peter Marschalck schätzt ihre Zahl auf ‚einige tausend Menschen‘. Viele Biographien wie die des Landwirts Kirchhoff aus Dehme oder des Heuerlings Schnüll aus Eisbergen sind kaum dokumentiert und erforscht. Andere hingegen sind recht gut bekannt. Aus der Reihe der westfälischen ‚Forty-Eighter‘ seien hier an die Lebensläufe von drei Emigranten erinnert: Ernst Kapp, Mathilde Franziska Anneke und Friedrich Wilhelm von Laer.
Den Mindener Lehrer und stellvertretenden Gymnasialdirektor Ernst Kapp haben die Schulbehörden bereits 1845 wegen seiner demokratischen Gesinnung ins Visier genommen. Als 1848 die Direktorenstelle am Mindener Gymnasium vakant wird, gibt das Schulkuratorium einem Mann von konservativer Gesinnung den Vorzug vor ihm. Konsequenterweise scheidet Kapp aus dem Schuldienst. Er geht einige Zeit bei einem Wagenbauer, Tischler und Schmied in die Lehre, bevor der 1849 mit seiner Familie nach Texas auswandert. Dort gründet er nicht nur eine Farm, sondern auch die ‚Lateinische Kolonie‘ Sisterdale. In ihr steht neben der Landwirtschaft auch die Pflege der Wissenschaften hoch in Kurs, und sie erregt mehrfach großes Aufsehen in der amerikanischen Öffentlichkeit. Später besucht Kapp Verwandte in Deutschland. Wegen seiner stark angeschlagenen Gesundheit kehrt er nicht mehr nach Texas zurück. Er stirbt 1895 in Düsseldorf.
Von einem Landgut nahe des Dorfes Blankenstein, heute ein Stadtteil von Hattingen, stammt Mathilde Franziska Anneke, geborene Giesler. Dort wird sie am 3. April 1817 geboren. Als 19jährige wird sie mit einem Mülheimer Weinhändler namens Tabouillot verheiratet. Nach einer kurzen, unglücklichen Ehe reicht nicht er, sondern sie die Scheidung ein – damals eine Sensation in Westfalen. Die alleinstehende und alleinerziehende Frau zieht mit ihrem Säugling zunächst nach Wesel, dann nach Münster.
In der westfälischen Provinzialhauptstadt der Vormärz-Zeit hält sie sich mit Theaterstücken und mit der Herausgabe von Literatur-Almanachen und frommen Gebetbüchern über Wasser. Freunde findet sie im ‚Demokratischen Verein‘, einem Zirkel junger liberaler Juristen und Offiziere. Der preußische Leutnant Fritz Anneke, wegen Verbreitung angeblich ‚communistischer Ideen‘ nach Münster strafversetzt, wird ihr zweiter Mann.
An seiner Seite kämpft sie – ab 1847 in Köln – für die demokratischen Ideale. Sie bringt eine ‚Frauen-Zeitung‘ heraus, greift schließlich sogar im badisch-pfälzischen Aufstand selbst zu den Waffen. 1850 emigriert sie mit ihrem Mann nach Amerika. In Milwaukee gründet Mathilde Franziska Anneke eine angesehene deutschsprachige Mädchenschule. Außerdem wird sie eine der engagiertesten Vorkämpferinnen der US-amerikanischen Frauenbewegung. Mathilde Franziska Anneke verstirbt in Milwaukee am 25. November 1884. In Deutschland, in Westfalen ist sie heute nahezu vergessen. In den USA hingegen gilt sie als ‚most famous and most distinguished of the German women 48ers‘.
Wie sie stammt auch Friedrich Wilhelm von Laer aus ländlich-wohlhabenden Verhältnissen. Er wird am 9. Juni 1829 auf dem Rittergut Oberbehme bei Kirchlengern im Kreis Herford geboren. Nach dem Jurastudium wird Wilhelm von Laer Referendar am Kreisgericht in Herford. Der junge Mann, von den liberaldemokratischen Ideen des Vormärz begeistert, schließt sich einem Kreis demokratisch gesinnter Bürger um den Arzt Dr. Hermann Schauenburg, den Lehrer Quidde und den Juristen Kindermann aus Enger an. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes von 1848 gründet Schauenburg in Herford einen ‚Bildungsverein‘, später ‚Volksverein‘ genannt, der das allgemeine und gleiche Wahlrecht fordert und sich für die Rechte der Handwerker einsetzt.
In diesem Volksverein engagiert sich Wilhelm von Laer. Er, der ab 1849 seine Briefe und Schriften demonstrativ ohne das Adelsprädikat ‚von‘ unterzeichnet, wird eine der herausragenden Persönlichkeiten der demokratischen Bewegung in Herford. Der preußische Polizeiapparat schickt ihm Spitzel auf den Leib. Sie sollen den Gutsbesitzerssohn überwachen. Er steht unter Verdacht, in seinen literarisch-historischen Vorträgen für den Volksverein parlamentarisches und demokratisches Gedankengut zu verbreiten.
Einen Namen macht sich der junge Wilhelm von Laer durch mehrere Schriften, die er 1849 und 1850 veröffentlicht. Darin widmet er sich dem Elend der Arbeiterschaft und vor allem der besitzlosen Landbevölkerung. Mit scharfem Blick geht er den Ursachen der Mißstände auf den Grund. Von Laer beläßt es nicht bei bitterer Anklage, sondern er unterbreitet einen Lösungsvorschlag: Die Heuerlinge sollten auswandern – aber nicht nach Amerika, sondern in wenig besiedelte Gegenden Deutschlands, etwa nach Westpreußen. Den preußischen Staat forderte er auf, staatseigenes Domänenland den ‚Binnenwanderern‘ zur Verfügung zu stellen. Diese Vorschläge verhallen ohne nennenswertes Echo.
1851 wendet sich von Laer noch einmal direkt an das Königlich Preußische Landesökonomiekollegium. In einer nüchtern geschriebenen und gerade deswegen noch heute beeindruckenden Schrift schildert er die überaus miserable Lage der unterbäuerlichen Landbevölkerung Ostwestfalens. Er rechnet Einkommen und Ausgaben der Knechte und Mägde, der Kleinbauern und Landhandwerker nach. Die Rechtsverhältnisse auf dem Land beschreibt von Laer ebenso wie die dürftige Ernährung der Menschen. Gerade diese Schrift von Laers wird später oft nachgedruckt und gilt bis heute als eine zeitgenössische Quelle ersten Ranges.
Beachtet wird seine Eingabe seinerzeit so gut wie gar nicht. Als sie 1851 erstmals veröffentlicht wird, befindet sich der junge Autor bereits jenseits des Atlantiks. Er ist geflohen vor dem reaktionären preußischen Unterdrückungsapparat.
Herforder Behörden haben bereits in der ersten Jahreshälfte 1850 gegen den liberalen ‚Rädelsführer‘, den Lehrer Quidde, ermittelt. Wegen politischer Tätigkeit wird Quidde am 17. Juni 1850 seines Amtes enthoben. Der breite Protest Herforder Bürger hat dagegen nichts auszurichten vermocht. In diesen turbulenten Wochen ist vermutlich auch von Laer, immerhin einer der engsten Mitarbeiter Quiddes, von der Polizei bespitzelt worden. Weiteren Ermittlungen entzieht er sich durch die Auswanderung nach Amerika.
Sein Vater, der Oberbehmer Gutsbesitzer von Laer, gibt über den Verbleib seines Sohnes später folgendes an: ‚Es sey ihm eine Stelle bei einem Professor für Landwirthschaft angeboten, wo er in gebildeter Gesellschaft und sehr angenehmen Verhältnissen in pecuniärer Hinsicht eine so vortheilhafte Stellung erhält, daß er noch 10 Jahre leben könne, wo und wie er wolle.‘
Diese Sätze scheinen die Ausrede eines Vaters zu sein, der sich vor seinen Sohn stellt. Denn tatsächlich schlägt sich Wilhelm von Laer in den USA zumindest in den ersten Jahren als einfacher Landarbeiter durch, wie aus einem erhaltenen Tagebuch hervorgeht.
Daneben setzt er in den USA auch sein politisches Engagement fort. Er hält Vorträge über ‚The Attitude of the Farmer toward the Social Question‘, wie die New Yorker Staatszeitung am 18. April 1853 berichtet, und er trifft sich mindestens zweimal mit dem Bielefelder Juristen Christian Nasse – auch er einer der frühdemokratischen ‚Forty-Eighter‘-Emigranten aus Westfalen.
Nach der Familienüberlieferung soll von Laer in den USA der 1850er Jahre gemeinsam mit Studienfreunden eine Farm aufgebaut haben. Das Projekt aber scheitert. Die näheren Umstände sind bislang nicht bekannt.
Sicher ist, daß Friedrich Wilhelm von Laer 1859 unbehelligt nach Westfalen zurückkehrt. Zwei Jahre lang verwaltet er das elterliche Gut, ehe er sich an führender Stelle im landwirtschaftlichen Organisationswesen Westfalens engagiert. 1862 wird er Generalsekretär des ‚Landwirtschaftlichen Provinzialvereins für Westfalen und Lippe‘, dem Vorläufer der heutigen Landwirtschaftskammer. 15 Jahre lang arbeitet von Laer als Generalsekretär – sozusagen als ‚rechte Hand‘ des Vorsitzenden Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst. Die Herkunft aus westfälischem Landadel und das agrarische Engagement verbindet die beiden Männer, die ansonsten sehr unterschiedlich geprägt sind. Hier der ehemals kämpferisch-liberale ‚Alt-Achtundvierziger‘ mit seiner bewegten Vergangenheit, dort der adlig-altkonservative, so ganz und gar nicht demokratisch gesinnte Landadlige.
Gemeinsam errichten sie Anfang der 1870er Jahren die ‚Landwirtschaftliche Versuchsstation‘ in Münster – ein frühes Institut zur Agrar-, Lebensmittel- und Umweltforschung, das seinerzeit weit über Westfalen hinaus hohes Ansehen genießt. Auf Schorlemers und Laers Engagement vor allem geht auch die Gründung der Agrarkreditbank ‚Westfälische Landschaft‘ 1877 zurück. Friedrich Wilhelm von Laer wird Gründungsdirektor der Bank. Er bleibt ‚Generallandschaftsdirektor‘, so sein offzieller Titel, bis zu seinem 90. Geburtstag im Jahr 1919!
Seit seiner Rückkehr aus den USA scheint ihm auch die preußische Obrigkeit wohlgesonnen zu sein. Bereits in den 1860er Jahren ist von Laer zum Mitglied im einflußreichen Königlich-Preußischen Landes-Ökonomie-Kollegium ernannt worden. Später sitzt er im Nachfolgegremium, dem Deutschen Landwirtschaftsrat. Staatliche Orden werden ihm ebenfalls nicht vorenthalten. Wie aus einem zeitgenössischen Bericht hervorgeht, wird ihm 1907 der ‚Kronenorden 2. Klasse‘, zwei Jahre später der ‚Rote Adlerorden 2. Klasse mit Eichenlaub‘ verliehen. Offenbar sieht ihm die staatlich-preußische Obrigkeit seine ‚Jugendsünden‘ nach. Oder honoriert sie einen Gesinnungswandel von Laers? Spielt vielleicht weder das eine noch das andere eine Rolle? Gibt vielmehr allein ein agrarisches Engagement den Ausschlag – so wie es die politische Öffentlichkeit jener Zeit wahrnimmt? ‚Die Landschaft der Provinz Westfalen verdankt ihm in erster Linie ihre Entstehung und ihre Erfolge‘, schreibt eine Münsteraner Zeitung zum 85. Geburtstag im Juni 1914, und: ‚Die heimische Landwirtschaft verehrt ihn als ihren hervorragenden Lehrer, Ratgeber und tatkräftigen Helfer‘.“
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