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Aus: Peter Mesenhöller, "Schön geträumte Bilder": Anmerkungen zur Ikonographie der Auswanderungsdiskussion in den populären Medien des frühen 19. Jahrhunderts, in: Mundus Novus. Amerika oder Die Entdeckung des Bekannten. Das Bild der Neuen Welt im Spiegel der Druckmedien vom 6. bis zum frühen 20. Jahrhunder, hg. von Peter Mesenhöller, Essen 1992, S. 92, 94:
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„Im Juli 1852 widmet der Berliner Kladderadatsch seine (wiederholte) Aufmerksamkeit einem zeitgenössischen Massenphänomen: der Auswanderung Deutscher nach Nordamerika. Wilhelm Scholz, der als Illustrator des humoristischen Blattes seit den frühen 1850er Jahren verantwortlich auch für die regelmäßig ganzseitig erscheinenden Karikaturen zeichnet, betitelt das Blatt hingegen ‚Deutsche Auswanderer in Nordamerika‘.
Achtzehn verschiedene Motive vereint das Blatt, in dem als Wanderer zwei junge Männer durch ihre Kleidung (kurzschößiger Frack, Zylinder, Knotenstock und Felleisen) erkennbar sind. In einer Fülle eigenständiger Motive, die keiner linearen Ordnung etwa im Sinne eines heutigen Comic strip unterworfen sind, scheint sich das Paar zu verlieren; es nimmt keinerlei Leitfunktion ein, die als (personalisierte) ‚Lesehilfe‘ für das Gesamtbild verstanden werden könnte. Anfang und Ende der so zu entschlüsselnden ‚Geschichte‘ sind dagegen genau bezeichnet: Der Raddampfer ‚America‘, am oberen rechten Bildrand noch überdimensional und im Flottenverband als Zeichen der Hoffnung für jubelnde und tanzende Auswanderer dargestellt, schrumpft zur Miniatur angesichts der Größe eines von der Gloriole der Macht umgebenen preußischen Polizisten mit Pickelhaube am unteren rechten Bildrand.
Anlaß für die Karikatur bot der Beginn einer zweiten großen deutschen Auswanderungswelle: Zwischen 1852 und 1854 wanderten 500.000 Menschen in die Vereinigten Staaten aus. Hierunter befanden sich auch ca. 4.000 Emigranten, die nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 in den USA Schutz vor politischer Verfolgung suchten. Die Vorstellungen, die viele Auswanderer offenbar von dem Land der ‚Freiheit und Gleichheit‘ und der ‚unbegrenzten Möglichkeiten‘ hatten, schienen 1852 wenig mit der Realität gemein zu haben – will man dem Karikaturisten Scholz Glauben schenken: Seine beiden Auswanderer begegnen auf ihrem Weg nach Kalifornien – anscheinend sind sie dem ‚Goldfieber‘ erleben – allen nur erdenklichen Widrigkeiten, die ein ‚unzivilisiertes‘ Land zu bieten hat. Raub, Betrug, Mord und Totschlag sind das Werk des habgierigen ‚Bruder Jonathan‘, seine ‚Freiheit‘ besteht in der Unterdrückung Anderer (Sklaverei, Lynch-Justiz usw.). Vor allem aber die Natur scheint den Glückssuchern feindlich gesinnt: Bären, Riesenschlangen und –affen, Löwen, Krokodile, Wölfe, Moskitoschwärme, schließlich ‚wilde‘ Indianer, bedrängen und verfolgen sie oder suchen sie zu verschlingen. Der Einwanderungsversuch endet mit einem Fußtritt ‚Bruder Jonathans‘; flehend strecken die bekehrten Auswanderer dem ‚zivilisierten‘ Europa die Hände entgegen und bitten um Wiederaufnahme in die Heimat.
Entgegen aller Linearität solcher Bildbeschreibung, die ihre ‚Logik‘ nur der vertikalen Verteilung einzelner Motive über das gesamte Blatt entnimmt, weist die Karikatur keine wirkliche Erzählstruktur auf. Komplexe Kompositionen und motivische Fülle unterliegen den Gestaltungsprinzipien des ‚Sammelbildes‘, das in seiner Vielschichtigkeit sowohl zeitgenössischen Konventionen als auch der Notwendigkeit folgt, Kritik im ikonographischen Zitat zu verstecken. Eben diese Zitate und ihre Funktion im Kontext der Auswanderungsdiskussion des 19. Jahrhunderts sollen hier interessieren.“ |
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