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Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung, in: ..., S. 174-183:


I. Das Phänomen

1765 wurde in Hamburg die Patriotische Gesellschaft gegründet. Sie stellt – willkürlich herausgegriffen – den Typus sozialer Organisation dar, den wir – unabhängig vom wechselnden Sprachgebrauch der Zeitgenossen – als Assoziation oder als Verein bezeichnen. Assoziation ist zunächst ein freier organisatorischer Zusammenschluß von Personen, d.h., in ihr besteht Freiheit zum Beitritt, zum Austritt und zur Auflösung; sie ist sodann unabhängig vom rechtlichen Status der Mitglieder und verändert diesen Status auch nicht, sie ist also im Rechtssinne statusneutral; sie ist schließlich dazu begründet, selbst und frei gesetzte und in gewisser Weise spezifizierte Zwecke zu verfolgen. Die Assoziation unterscheidet sich von der älteren sozialen Organisationsform, der Korporation, insofern diese eine nichtvoluntaristische, sondern durch Geburt und Stand bestimmte, auf das Ganze des Lebens unspezifisch ausgedehnte Organisation ist, die für ihre Mitglieder statusbestimmende Rechtsfolgen hat. Zum Zeitpunkt der Gründung der Patriotischen Gesellschaft gab es in Deutschland einige ähnliche Bildungen: [...] und dann, vom Typ her sicher eine Form des modernen Assoziationswesens, die sich seit 1737 von Hamburg aus über Deutschland verbreitenden Freimaurerlogen. Insgesamt ist die Zahl solcher Zusammenschlüsse jedoch zu dieser Zeit noch sehr gering.

In den folgenden 80 Jahren ist dann die Zahl der Vereine so gewachsen, daß das Vereinswesen zu einer die sozialen Beziehungen der Menschen organisierenden und prägenden Macht wurde. Jeder, der sich mit irgendeinem Bereich der deutschen Geschichte dieser Zeit beschäftigt, stößt auf Vereinsgründungen und Vereinsaktivitäten. Zunächst, in der 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts, sind es vor allem die landwirtschaftlichen, die patriotischen und die Lesegesellschaften – am Ende des 18. Jahrhunderts gab es schätzungsweise 270 solcher Lesegesellschaften – und die Musiziergesellschaften, dann auch die ersten rein geselligen Vereinigungen (Club der Freundschaft, Montagsclub, Harmoniegesellschaft etc.) in den großen Städten wie Hamburg und Berlin, die ersten philanthropischen Wohlfahrtsvereine (die „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ in Kiel von 1792) und die ersten pietistischen Vereinsgründungen, die sich von der Deutschen Christentumsgesellschaft in Basel (1780) aus entwickelten, schließlich die ersten im Zuge der Revolution sich organisierenden politischen Gruppen – und das alles vor dem Hintergrund der vielen informellen Gruppenbildungen, der Salons, der „Kreise“, der Caféhausgesellschaften. Nach 1815, zumal in den 20er Jahren, verbreiten sich besonders die Kunst-, die Konzert- und Gesangvereine, die gelehrt-geselligen Vereine von Wissenschaftlern und „Freunden“ einer Wissenschaft, und die Gewerbevereine; die ersten Kriegervereine entstehen; reformerisch-humanitäre Bestrebungen beginnen sich in Vereinen zu organisieren, etwa in den Gefängnisgesellschaften. Um 1840 ist aus der Vereinsbereitschaft der Bürger eine Art Vereinsleidenschaft geworden: alle bürgerliche Aktivität organisiert sich in Vereinen. Die älteren Vereinstypen, Geselligkeits-, Bildungs- und Gesangvereine vor allem, dehnten sich über das ganze Land aus. [...] Für die Zeitgenossen stand der wirtschaftlich-industrielle Aufschwung um 1840 überhaupt mit dem Vereinsprinzip in Verbindung; die Aktiengesellschaften, die „Actien-Vereine“, galten als Produkte des „modernen Associationsgeistes“, und gerade ihre Vereinsstruktur garantierte ihren Erfolg, ja sie dienten nicht nur dem wirtschaftlichen und technischen Fortschritt, sondern sie bezeugten und beförderten Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Die Verschärfung der sozialen Frage und die öffentliche Anteilnahme an sozialen Problemen führten zu immer neuen Vereinsgründungen – [...].
Im Schatten einer gemilderten Polizeipraxis bildeten sich politische oder halb- und kryptopolitische Vereine wie die neuentstehenden Turnvereine und die volkspädagogischen Vereine. 1845, 80 Jahre nach der Gründung der Hamburger Patriotischen Gesellschaft, im Jahre der Gründung des ersten katholischen Gesellenvereins in Elberfeld, sind die Vereine nicht mehr zu zählen, das ganze bürgerliche Leben ist mit einem Netz von Vereinsbildungen überzogen. Es ist eine „Zeit der Vereine“.
[...]


II. Ursachen der Vereinsbildung; alte und moderne Welt

Versucht man, die bekannten Motive der Vereinsgründungen und damit die ausgesprochenen Ziele der Vereine in unserem Zeitraum ganz generell zu erfassen, so lassen sich etwa vier Motiv- und Zielkomplexe, verschieden akzentuiert und vielfältig miteinander gekoppelt, unterscheiden. Dabei setzen Vereinsgründer und –mitglieder immer voraus, daß das Zusammenwirken vieler in einer Organisation dem Erreichen der gesetzten Ziele besonders dienlich sein werde.

1. Die Vereinsgründer möchten sich jenseits der Beschränkungen von Haus, Stand, Beruf und traditionellem Zeremoniell in freier Geselligkeit zu „vergnügter“ Unterhaltung zusammenfinden. Dieses Motiv spielt außer bei den zunächst im 18. Jahrhundert noch seltenen Gründungen rein geselliger Vereine auch bei der Entstehung von Lese- und Museumsgesellschaften, von wissenschaftlichen Vereinen, Musik- und Gesangvereinen und selbst von Berufsvereinen eine wesentliche Rolle. [...]

2. Die Vereinsmitglieder wollen und sollen sich untereinander „friedfertig“ belehren, um den „Bau der Menschheit“ oder die „Gückseligkeit“ bei sich selbst zu fördern. Sie wollen sich bilden, und zwar in dem emphatischen Sinne, den der Begriff seit den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts in Deutschland angenommen hat, zu neuen, vernünftigen und aufgeklärten Menschen, zu universaler Humanität. Sie wollen ein neues, weltbürgerliches oder nationales, aufgeklärtes oder idealistisches oder romantisches, liberales oder soziales Bewußtsein, eine neue Gesinnung bilden, sich darin bestärken und fortentwickeln. Das Verlangen, sich in einem kontinuierlichen und nie abzuschließenden dynamischen Prozeß zu bilden, ist, wie das neue Geselligkeitsbedürfnis, ein Novum, für dessen Befriedigung der Verein die organisatorische Voraussetzung schaffen soll.

3. Betrifft das Angebot von Geselligkeit und Bildung nur die Ziele der Vereinsmitglieder, die innerhalb des Verein erreicht werden können, so setzen sich in der Anfangszeit fast alle und später immer noch sehr viele Vereine weitere mehr oder weniger spezielle gesamtgesellschaftliche Zwecke, die über den Verein selbst hinausweisen. Diese Ziele lassen sich im allgemeinen unter den Begriffen des Gemeinwohls, des Gemeinnützigen oder des Politischen subsumieren – öffentliche Aufgaben, die bis dahin Obrigkeiten (als „Poizey“) und Korporationen wahrgenommen hatten oder hatten wahrnehmen sollen, neue Aufgaben von allgemeinem öffentlichen Interesse oder christliche Werke, die von der Kirche nicht oder anscheinend nur unzureichend getan wurden. Die Vereine wollten die allgemeinen, öffentlichen, gesellschaftlichen Zustände verändern und verbessern. Soweit sie der Aufklärung verpflichtet waren, sahen sie etwa ihre Aufgabe darin, nützliche Kenntnisse, wie sie u.a. von der Wissenschaft bereitgestellt wurden, zu verbreiten und zu popularisieren und auf das praktische Leben anzuwenden, um damit den gemeinen Nutzen und die Ausbreitung der Glückseligkeit zu fördern. Eine derartige Aktivität diente gleichzeitig der Propagierung der eigenen Ideen und Wertvorstellungen, der „Mittheilung und Ausbreitung aufgeklärter Grundsätze und Erfahrungen ... in anderweitige bürgerliche Verhältnisse“. [...] Doch ist darauf hinzuweisen, daß Vereine zur Vertretung von Gruppeninteressen sich erst allmählich, am Ende unseres Zeitraumes unter den Bedingungen einer freigesetzten und durch Konkurrenz bestimmten Wirtschaftsgesellschaft entwickelt haben.

4. Endlich gibt es Vereinsziele – und also Motivationen für Vereinsgründungen –, die weder mit dem Begriff der praktischen, pädagogischen oder politisch-sozialen Veränderung noch mit dem der Befriedigung von Geselligkeits- und Bildungsbedürfnissen zureichend beschrieben werden können. Musik-, Kunst- oder wissenschaftliche Vereine wollen – zumindest auch – ihrer Kunst oder ihrer Wissenschaft „dienen“. Hier wird nicht die Welt verändert und primär auch nicht die Persönlichkeit gelebt oder gebildet – so sehr Kultur und Bildung in einem Korrespondenzverhältnis stehen –, sondern es wird etwas Objektives und Allgemeines in einem sozialen Zusammenhang so manifestiert und repräsentiert, daß es in neuer Form existiert.
Die hier genannten Motive der Vereinsbildung und die Bedürfnisse und Tendenzen, auf denen sie beruhten, waren offenbar neu und fanden in der herrschaftlich-korporativ organisierten alten Welt keine Erfüllung. Den neuen Bedürfnissen entsprach, so scheint es, der Verein als neuer Typus sozialer Organisation. [...]

Das Assoziationswesen, wie es sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland durchsetzte, war keineswegs Wiederbelebung einer Tradition, sondern ein Novum. Das neue Phänomen legt den Schluß nahe, daß die alte Welt mit Familie und Haus, Messe und Markt, Zunft und Rat, Kirche und – wieder erstarrenden – Konventikeln keinen Raum bot, um ein neues Bedürfnis, das sich bei allen und neuen sozialen Gruppen regte, das Bedürfnis nach geselliger, diskutierender Selbstverständigung und gemeinsamem Handeln zu erfüllen. Die überlieferten Ordnungen des Lebens und ihre sozialen Bindungen lockerten sich oder lösten sich auf, der Mensch fing an, sich von der Tradition zu lösen, von der Korporation und von der das Allgemeine monopolisierenden Obrigkeit; es begann der Prozeß der Individualisierung, Dekorporierung und Emanzipation. Das ist ebenso die Voraussetzung der Vereinsbildung, wie dieser Prozeß durch die Vereinsbildung befördert worden ist. Diese generelle Feststellung gilt es zu spezifizieren.

Zunächst: Voraussetzung und Komplement der Vereinsbildung ist sozial- wie geistesgeschichtlich gesehen ein neuer, auf Vernunft und Autonomie gegründeter Individualismus, ist die Tatsache, daß der Mensch sein Leben nicht mehr traditionsgeleitet in seinem Geburtsstand hat, sondern innengeleitet einen „persönlichen Stand“ aus Bildung und Leistung gewinnt. Es ist das Individuum, das gegen die Bindungen von Haus, Korporation und Herrschaft und gegen die statisch gewordene Tradition Anspruch auf einen Raum der freien Initiative und Betätigung erhebt, das Zwecke frei setzen und sich mit anderen zu solchen frei gesetzten Zwecken verbinden kann, das ein neues soziales Bedürfnis entwickelt – das Bedürfnis nach individuellem Zusammenschluß mit anderen zu Geselligkeit und Freundschaft. Der Individualismus also ist die Voraussetzung der Assoziation. Die Assoziation ergibt sich nicht wie die Korporation aus quasi natürlichen Ordnungen, sondern beruht auf der Freiheit des auf sich selbst gestellten Menschen. Für ihn soll Assoziation an Stelle von Korporation treten.

Für das Verhältnis von Individualisierung und Assoziationsbildung ist, so scheint mir, noch ein weiterer Gesichtspunkt wichtig. Der Menschen, der aus den sehr konkreten und begrenzten sozialen Gebilden der Traditionswelt heraustrat, geriet, von seiner Herkunftswelt gelöst, in eine gewisse Isolierung; er orientierte sich zumeist neu an großen und abstrakten Gruppen, denen er sich zugehörig fühlte und die seine Loyalität beanspruchten, die ihm Selbstgewißheit und Identifikationsmöglichkeit boten: an der Menschheit, der Nation, den Gebildeten, den Aufgeklärten, den Gleichgesinnten. Diese Gruppen waren nicht unmittelbar, nicht gegenwärtig. Erst in den neuen, an einem überindividuellen Zweck und an solchen Großgruppen orientierten Vereinen gewannen sie Konkretion, insofern vermittelten die Vereine zwischen der Nähe der alten und der Ferne der neuen Orientierungsgruppen und stellten anschauliche soziale Beziehungen freier Individuen her.

[...]

Sodann: Voraussetzung und Komplement der Vereinsbildung ist ein Vorgang, den wir als Individualisierung und Verbürgerlichung der Kultur bezeichnen können. Kunst und Wissenschaft werden aus festgelegten Funktionen in einer ständisch-hierarchischen Gesellschaft herausgelöst und damit freigesetzt und grundsätzlich allgemein zugänglich, die Diskussion der Welt- und Lebensinterpretation wird von den Theologen- und Amtskirchen und den ständischen gelehrten Institutionen abgelöst und durch Nichtbeamtete, durch Laien, aufgenommen. In diesem Prozeß wird Kultur zum Gegenstand eines allgemeinen Interesses von Privatleuten. Es bildet sich ein Publikum, das die bisher spezialisierte und monopolisierte Beschäftigung mit Kultur für sich und seine Initiative beansprucht, das sich informiert, das Kunst und Wissenschaft und insbesondere Probleme der Welt- und Lebensinterpretation, der Lebenspraxis und der Gesellschaft zuerst im Medium von Literatur, Religionskritik und Philosophie und dann auch direkt diskutiert. Diese Diskussionen erweisen die Selbständigkeit der diskutierenden Personen ebenso, wie sie sie befördern. Für das entstehende rege Diskussions- und Informationsbedürfnis des Publikums und den damit aufkommenden bürgerlichen Kunst- und Wissenschaftsbetrieb bedurfte es neuer, und zwar überprivater, öffentlicher oder quasi-öffentlicher Orte: einer davon wurde der Verein.

Weiterhin gehört zu den Voraussetzungen und Komplementen der Vereinsbildung der in der Aufklärung entstehende bürgerliche Glaube an den Fortschritt, an die grundsätzliche Verbesserung der Institutionen und der Zustände, an die Höherentwicklung des Menschen durch Freiheit und Bildung; erst jetzt wird Sich-Bilden über alle Ausbildung hinaus als ein dynamischer und nie abzuschließender Prozeß zu einem wesentlichen Ziel des bürgerlichen Lebens. Auch wenn das spezifisch aufklärerische direkte Anstreben eines Fortschrittes später in den Vereinen fehlen mochte, so blieb der Bezug zur Veränderung und Veränderbarkeit der Welt und des Menschen doch die implizite Voraussetzung aller zweckgerichteten Vereine. Aus ein Geschichtsverein wollte den Sinn für das Vergangene gerade im Hinblick auf die Modernisierung der Welt erhalten oder pflegen. Die Elastizität der Vereinsstruktur ermöglichte die Anpassung der Vereine an die Dynamik der modernen gesellschaftlichen Prozesse, in die die Individuen sich planend oder ungewollt verstrickten. Als in der späteren Phase unseres Zeitraumes die Mobilität der Gesellschaft zunahm, bestehende Unterschiede eingeebnet und neue geschaffen wurden, korrespondierte gerade die Vielfalt der Vereine der Vielfalt der sich bildenden und wechselnden Gruppen und ihrer Interessen.

Sodann: die Assoziationen zielten auf öffentliche Wirkung, aufs gemeine Wohl; sie beanspruchten Tätigkeitsbereiche, die bis dahin älteren Mächten, zumal dem Staate, vorbehalten waren. Die Assoziationsbildung korrespondierte einer beginnenden Emanzipation vom obrigkeitlichen Staat.
Schließlich ist drauf hinzuweisen, daß der Staat seit dem aufgeklärten Absolutismus selbst es gewesen ist, der eine Reihe von Voraussetzungen für die Assoziationsbildung geschaffen und diese damit befördert hat. Indem der Staat die Vereinheitlichung der Untertanenschaft vorantrieb und bis zu einem gewissen Grade die Rechtsgleichheit der Individuen durchsetzte, indem er Korporationen zurückdrängte und in der Reformzeit – wenigstens in Preußen – aufhob, förderte er den Individualisierungsprozeß und damit die Tendenz zur Assoziation. Die strikte Trennung von privatem und öffentlichem Recht ermöglichte darüber hinaus die freie und assoziative, nichtkorporative Organisation der Individuen, und in Preußen gewährte der Wegfall des Genehmigungsvorbehalts im Allgemeinen Landrecht den Assoziationen einen wenn auch beschränkten rechtlichen Entfaltungsraum.

Zusammenfassend ergibt sich die Hypothese: das Aufkommen des Vereinswesens und das Aufkommen der Welt des persönlichen Standes sind korrespondierende Phänomene; der Verein ist weder einfach Folge noch einfach Ursache der bürgerlichen Gesellschaft, aber er ist eines ihrer Elemente, ein Symptom für ihren Aufstieg und gerade in den Anfängen ein Faktor, der die weitere Ausbildung dieser Gesellschaft begünstigt und beschleunigt hat. [...]“

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