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Wolfgang Burgdorf, Die erste Kulturbetriebsstillegung. Am Grab des heiligen Deutschland: Mit den Säkularisationen von 1803 ging eine moderne Welt unter, in: FAZ vom 23.6.2003:


„An vielen Orten wird in diesem Jahr durch Ausstellungen und Vortragsreihen des Reichsdeputationshauptschlusses gedacht, dessen Säkularisationen vor zweihundert Jahren das Ende des Alten Reiches einleiteten. Welche Welt ging mit der Germania sacra, den geistlichen Territorien, unter? War dieser Untergang zwangsläufig?

Die Urteile der Geschichtsschreibung schlossen und schließen sich oft an Pamphlete der Frühen Neuzeit an, in denen das vermeintliche Luxusleben der Klosterbrüder zum Sinnbild der Dekadenz jener ganzen geistlich-weltlichen Lebensform wurde, deren institutionelle Form in den geistlichen Fürstentürmern zu den Eigenheiten der deutschen Verfassungsgeschichte gehört. Die Polemik fand jedoch in der zeitgenössischen Öffentlichkeit lange keine ungeteilte oder auch nur überwiegende Zustimmung. Als die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1772/73 eine Preisfrage zum Ursprung der geistlichen Reichsstandschaft formulierte, sprachen sich alle Einsender aufgrund der Leistungen der geistlichen Fürsten für das Gemeinwohl für den Erhalt der geistlichen Territorien aus. Diese Empfehlung steht in auffälligem Gegensatz zu den Einsendungen, die auf die 1786 von dem Fuldaer Regierungspräsidenten Philip Anton Siegmund von Bibra im „Journal von und für Deutschland“ gestellte Preisfrage eingingen. Sie bezog sich auf angebliche Mängel in der Verfassung der geistlichen Territorien und fragte nach Möglichkeiten, diese zu beheben. Die Mehrheit der Einsender war nun der Auffassung, daß die erbliche Monarchie dem Zeitalter der Aufklärung angemessener wäre als die Wahl des Regierungsoberhauptes.

Das unterschiedliche Echo auf die beiden Preisfragen zeigt deutlich, daß sich die Auflösung der geistlichen Staaten im Urteil der Publizistik vollzogen hatte, bevor die Säkularisation begann. Seit 1648 wurde jeder Krieg in Deutschland von einer aggressiven Säkularisationspropaganda begleitet. Einen Höhepunkt erreichte diese Pamphletistik 1761, während des Siebenjährigen Krieges, beim Zusammentreffen des Todes von Clemens August von Bayern mit den vergeblichen Vorbereitungen für den Friedenskongreß von Augsburg. Clemens August, der „Herr der fünf Kirchen“, war Kurfürst-Erzbischof von Köln, Fürstbischof von Münster, Paderborn, Osnabrück und Hildesheim sowie Hoch- und Teutschmeister, also Oberhaupt des Deutschen Ordens. All diese Gebiete, mithin große Teile Nordwestdeutschlands, wurden mit seinem Tod herrenlos. Die Tatsache, daß Preußen und seine Verbündeten sie, abgesehen vom Erzstift, faktisch im Besitz hatten, erklärt die Radikalität der preußischen Kriegszielpublizistik. Die Forderung nach einer Totalsäkularisation konnte dabei auch als eine Einladung an die größeren katholischen Reichsstände verstanden werden, auf dieser Basis zu einem gemeinsamen Ausgleich und Frieden zu kommen.

Die Zeitgenossen haben die Gefahren für den Bestand der Germania sacra und des Reiches deutlich gesehen. Der kur-kölnische Gesandte äußerte am 18. Mai 1761 im Reichstag, unter Bezug auf die gewaltsame Verhinderung der Bischofswahl in Hildesheim, die Vorgänge zeigten, daß nun der „mit so viel Blut errichtete Westfälische Frieden“ umgestürzt und ein „ganz anderes System in Deutschland eingeführt“ werden solle, „wodurch nicht nur allein den geistlichen Erz- und Hochstiften, sondern nach und nach den mindermächtigen hohen Ständen des Reiches der sichere Untergang bevorstünde“. Was Paderborn betraf, fürchtete der Gesandte, angesichts der in „öffentlichen Zeitungen bereits verkündigten Säkularisationsabsichten“, daß das Hochstift als „Schlachtopfer des verderblichen Krieges“, zum „unschuldigen Versöhnungsopfer bestimmt“ sei.

Die entsetzten Gesandten am Reichstag gingen schon 1761 davon aus, daß die Säkularisation von Teilen der Germania sacra nur der erste Schritt für eine viel weiter gehende Flurbereinigung im Reich, möglicherweise zu dessen Auflösung sein würde. Als Grund für die Säkularisationen wurden dabei von der säkularisationswilligen Partei nie Expansionswünsche genannt, sondern der Staatsnotstand des Reiches, das reichsschädliche Paktieren der geistlichen Fürsten mit dem Kaiser und der angeblich marode Zustand dieser Gebiete. Die zunächst in der preußischen Kriegspropaganda der drei Schlesischen Kriege formulierten Angriffe auf die geistlichen Fürsten hatte sich zu Topoi verdichtet, während die Leistungen der katholischen Aufklärung keine entsprechende Öffentlichkeit mehr fanden. Die preußische Publizistik vor dem geplanten Augsburger Friedenskongreß war das Laboratorium der späteren Säkularisationsagitation.

Typisch war die Forderung eines anonymen Verfassers aus dem Jahre 1798, die geistlichen Territorien, „diesen wilden Auswuchs der deutschen Staatsverfassung“, der „eisernen Notwendigkeit“ und dem „Genius der Zeit“ zu opfern, dem die weltliche Gewalt der geistlichen Fürsten „höchst anstößig“ sei. 1803 wurde die Germania sacra dann verteilt. Das Bewußtsein von der Diskrepanz zwischen dem Gewesenen und seiner Darstellung ging im neunzehnten Jahrhundert schnell verloren. Ein Rest findet sich in einer Äußerung Hans Christoph von Gagerns aus der Zeit der Befreiungskriege: „Das Domherrenwesen ist fast zum Gespött geworden, wir denken dabei, vielleicht mehr, als es wahr ist, an Müßiggang, Unwissenheit und Üppigkeit.“ Nach 1803 fand sich kaum noch jemand, der die Institutionen der Reichskirche auch in ihren sozialen Dimensionen zu würdigen vermochte.

Der Reichskirche als Verwahr- und Versorgungsanstalt hatten die protestantischen Territorien, abgesehen vom Militär, nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Daraus ergab sich eine Tendenz zur Militarisierung des protestantischen und zur Demilitarisierung des katholischen Deutschlands, die bereits von klugen Zeitgenossen erkannt wurde. 1801 las die politische Öffentlichkeit ein „letztes Wort eines Patrioten für die Erhaltung geistlicher Staaten“ in Deutschland: „In denen Ländern, wo die Kirchengüter ein Raub weltlicher Großer wurden, beklagen sich rechtschaffene Portestanten bis auf diese Stunde, daß ihren Söhnen und Enkeln, die sonst keinen Beruf und Aussichten in der Welt haben, weiter kein Mittel übrig sei, als zur See oder ins Feld zu gehen, und entweder gar nicht wieder zurück oder doch mit verstümmelten Gliedern und gänzlich zerrütteter Gesundheit heimzukehren, sich selbst und den Ihrigen zur Last zu leben; da sonst manchen braven Kavaliers, Beamten und Bürgers Sohn, eine standesgemäße Versorgung in der Kirche gefunden hatte.“

Ähnliche Ausführungen fanden sich in einer Vielzahl von Schriften, deren Verfasser vor dem Reichsdeputationshauptschluß versuchten, die Germania sacra argumentativ zu retten. In den katholischen Territorien gab es eine Vielzahl von kirchlichen Versorgungsanstalten für alle Stände, die im protestantischen Reich fast gänzlich fehlten. Die wenigenprotestantischen Domkapitel und Klöster konnten dies nicht aufwiegen. Das Äquivalent zu diesen katholischen Versorgungsanstalten waren hier die stehenden Truppen. Daß auch mindermächtige Stände wie Hessen-Kassel, selbst Hanau oder Sachsen-Weimar als Militärunternehmer fungierten, überproportionale Truppenkontingente unterhielten und sie vermieteten, kam in den katholischen Territorien kaum vor. Hier verschwanden die Menschen in den Institutionen der katholischen Kirche, was für die Betroffenen ohne Zweifel angenehmer war.

Auch ist nicht bekannt, daß in der Frühen Neuzeit geistliche Territorien mit Vergrößerungsabsichten ihre deutschen Nachbarn überfielen. Die Trägheit ihrer Masse war vielmehr nach 1648 Garantie des Landfriedens. Auch der Steuerdruck war in der Germania sacra weit geringer als in vielen protestantischen Territorien, da man hier nicht der Mittel bedurfte, um große Truppenkontingente zu unterhalten. Dies war aber ein weiterer Grund für die strukturelle Mindermächtigkeit der katholischen Stände. In der Germania sacra und den kleineren weltlichen Territorien floß ein großer Teil der Ressourcen in Architektur und Kunst im weitesten Sinne und in den Unterhalt der vielen kleinen Höfe. Davon lebte eine ungeheuer vielfältige Kulturlandschaft mit einer Vielzahl qualifizierter Arbeitsplätze.

In neueren Darstellungen ist oft zu lesen, der Verlust der weltlichen Macht sei ein Segen für die katholische Kirche gewesen, sie habe das kirchliche und religiöse Leben modernitätsfähig gemacht, die Seelsorge sei in den Mittelpunkt getreten und die Geistlichen hätten mehr Glaubwürdigkeit erhalten. Dies ist ein Mythos. Das große kirchliche Erneuerungswerk, das in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts zum Abschluß kam, war tief in der Aufklärung verwurzelt und in fast allen Teilen noch von den Repräsentanten der alten Reichskirche initiiert worden.

Seit dem zweiten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts bemühten sich Fürstbischöfe intensiv um die Reinigung des Kultes, die Vergeistlichung und Begrenzung des Prozessionswesens, die Reduzierung der religiösen Feiertage. Letzteres wurde von Arbeitgebern immer wieder gefordert und stieß auf den nachhaltigen Widerstand der Arbeitenden. In vielen Diözesen wurden kontemplative oder andere in die Kritik geratene Klöster zugunsten der Universitäten und des Schulwesens aufgehoben. Das reformierte Elementarschulwesen des Fürstbistums Münster diente als Vorbild für die umliegenden hohenzollerischen Territorien. An der Universität Mainz lehrten am Ende des Jahrhunderts berühmte protestantische Gelehrte wie der Weltumsegler Georg Forster oder der Schweizer Historiker Johannes von Müller, in einer Zeit, als es undenkbar war, daß ein protestantischer Fürst einen katholischen Professor berief. Die Klöster, deren Äbte vor ihrer Wahl oft Professoren gewesen waren, unterhielten ein dichtes Netz höherer Schulen. Die nachfolgenden Flächenstaaten brauchten Jahrzehnte, bis sie diese Dichte erreichten.

Durch das Institut der Personalunion wurden die kleinen geistlichen Territorien, anders als die weltlichen Duodezterritorien, auch davor b4ewahrt, daß sie durch die Kosten der Reichsstandschaft und des Hofes ausgelaugt wurden. Es gibt die unterschiedlichsten Möglichkeiten, Modernität zu definieren. Etwas dürftig ist es, allein das später Gewesene als Maßstab zu nehmen. Dies gilt schon deswegen, weil es nur der spärliche Rest des vorher Möglichen war. So ist es keine reizlose Vorstellung, daß die Germania sacra überlebt hätte: Strukturelle Demilitarisierung, Friedfertigkeit und eine große Dichte kultureller Zentren hätten dann auch das neueste Deutschland gekennzeichnet.“

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