Migrantische und ethnische Ökonomien in Westfalen

05.07.2016 Carola Bischoff

Inhalt

"Wollen wir uns was vom Türken holen?" – "Zitronengras? Das kriegst Du am besten beim Asia-Laden an der Ecke!" – Gerade im städtischen Umfeld bereichern Einzelhandels- und Dienstleistungseinrichtungen mit einem ausländischen, teils speziell ethnischen Angebot die Konsum- und Genusslandschaft. Sie sind zu einer Selbstverständlichkeit geworden und insbesondere in den letzten Jahren in den Fokus der geographischen Forschung gelangt, da diese migrantischen Ökonomien zunehmend an Bedeutung gewinnen. Gerade in (Groß-)Städten mit starker Zuwanderung wurde das Phänomen früh untersucht (z.B. Berlin, Köln). Auch Städte im Ruhrgebiet sowie viele andere Groß- und Mittelstädte in Westfalen beschäftigen sich aktiv mit den Potenzialen der migrantischen Ökonomien für ihre Stadt.

Historische Zusammenhänge

Ab den 1950er Jahren wurden – zumeist männliche – Arbeitsmigranten aus dem Mittelmeerraum in Deutschland angeworben; diese fanden oftmals als Geringqualifizierte vor allem im produzierenden Sektor einen Arbeitsplatz. Da man von einem Rotationsprinzip ausging, gab es keine Integrationsbestrebungen. Erst mit der Ölkrise 1973 gab es einen Anwerbestopp und 1983 auch eine Rückkehrförderung ausländischer Arbeitsmigranten. Viele nutzten diese Option und entgingen dem Risiko der Arbeitslosigkeit in Deutschland. Doch die Zahl der Migranten in der BRD blieb auf einem relativ konstanten Niveau, da durch die Familienzusammenführung eine dauerhafte und integrationsorientierte Einwanderung nach Deutschland entstand. Von 1989 bis Mitte der 1990er Jahre erreichte eine zweite Welle der Zuwanderung Deutschland: Durch die politischen Verhältnisse begünstigt erreichten viele (Spät-)Aussiedler und Asylbewerber die Bundesrepublik.

Städtische Räume waren und sind das bevorzugte Ziel der Zuwanderung, da sich in großer Diversität Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten und bestehende soziale Netzwerke genutzt werden können. Besonders in wirtschaftsstarken Regionen (z.B. Ruhrgebiet) ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund seit den 1960er Jahren stark angewachsen.

Im Laufe der Jahre hat sich jedoch eine generationenabhängige Diskrepanz abgezeichnet. Während die frühen Generationen erhebliche Strukturdefizite im Bereich Bildung und Arbeitsmarkt aufweisen, die zur Entmischung von Wohnquartieren durch Fortzug einkommensstärkerer Gruppen führte (s. Beitrag Sieben), haben jüngere Generationen bessere Aussichten auf einen gesellschaftlichen Aufstieg, da eine positive Entwicklung bei den Bildungsabschlüssen eine Anpassung auf das Niveau der Mehrheitsgesellschaft hinsichtlich Einkommen, Lebensqualität und Wohnstandort ermöglicht (Aver 2013, S. 393). Doch kann dieser positive Trend grundsätzlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die durchschnittlich größere Anzahl von Haushaltsmitgliedern in migrantischen Haushalten und das im Durchschnitt um ca. 830 Euro geringere Haushaltseinkommen schwierigere Ausgangsbedingungen bedeuten (Deutsche ohne Migrationshintergrund: Haushaltsgröße in NRW 2,05 Personen, Haushaltseinkommen 2 988 Euro; Zensus 2011).

Erklärungsmodelle

Fischer-Krapohl (2007), die u.a. intensiv zu migrantischen Ökonomien in Dortmund gearbeitet hat, hat in kritischer Perspektive eine Reihe von kulturalistischen und strukturellen Erklärungsmodellen zusammengestellt.

Während das Kulturmodell Migranten eine kulturell homogene Neigung zur beruflichen Selbstständigkeit unterstellt, betont der Ressourcenansatz eher ein ähnliches Nutzen von herkunftsbezogenen sozialen Netzwerken zur Beschaffung von Finanzierungen, Arbeitskräften und Zugang zu weiteren Netzwerken. Der Nischenansatz untersucht vor allem ökonomische Versorgungslücken, die migrantische Ökonomien nutzen (z.B. Lebensmitteleinzelhandel, Gastronomie, Übersetzungsbüros, Beerdigungsinstitute für islamische Bestattungen, Reisebüros, ...).

Stärker auf die Strukturen fokussiert der Marktansatz, der die Öffnung von der "Nische" zum "Markt" untersucht. Der Reaktionsansatz thematisiert hingegen den Druck zur Selbstständigkeit durch den Fortfall von abhängigen Arbeitsplätzen.

Ethnisch sichtbar oder unsichtbar

Migrantische Unternehmen lassen sich auch nach der Sichtbarkeit des ethnischen Bezugs differenzieren. "Unsichtbare" Migrantenunternehmen unterscheiden sich nicht von Unternehmen der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Sie bezeichnen lediglich die Selbstständigkeit eines Ausländers oder Deutschen mit Migrationshintergrund, und in vielen Fällen gibt nur der Inhabername einen Hinweis. Für verschiedene Studien, z.B. zur Migrantenökonomie in Dortmund (2014) oder Castrop-Rauxel (2012), wurden mit Hilfe der Namensforschung (Onomastik-Verfahren) stadtweite Erhebungen in den Gewerbedatenbanken zur migrantischen Ökonomie gemacht. Sichtbare ethnische Unternehmen hingegen pflegen laut "Ethnic Business-Forschung" stark die sozialen Netzwerke gleicher Herkunft, die für Solidarität und Loyalität stehen. Hier werden Angestellte, Zulieferer und Kunden gewonnen (Schaland 2012, S. 37).

Erwartungen zur Entwicklung migrantischer Ökonomien

Durch den demographischen Wandel nimmt der relative und absolute Anteil der Personen mit Migrationshintergrund (Definition s. Kasten) zu, bundesweit hat er laut Mikrozensus 2012 einen Anteil von 19,5% erreicht (NRW: 24,7%; Westfalen: 23,5%; Abb. 1). Parallel gibt ein bedeutender Teil der deutschen Selbstständigen ihre Unternehmen aus Altersgründen auf bzw. muss die Unternehmensfortführung neu regeln.

Abb. 1: Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in NRW 2013 auf Basis von Hochrechnungen des Mikrozensus 2011 (Quelle: MAIS NRW 2014, S. 11; Datengrundlage: www.it.nrw.de)

Positive Effekte für die Stadtentwicklung

Für die Stadtentwicklung gewinnen migrantische Ökonomien inzwischen die Aufmerksamkeit eines strategischen Handlungsfeldes, da sie (mindestens) vier verschiedenen Felder miteinander verknüpfen. Aus stadtökonomischer Sicht sind die Steuereinnahmen, die geschaffenen Arbeitsplätze sowie die angebotenen Produkte von Bedeutung. In räumlicher Dimension ergibt sich für das Stadtquartier damit eine Leerstandsverhinderung sowie eine verbesserte Nahversorgung. Die Diversität des Angebots schafft internationales Flair und damit einen Gewinn für das Stadt"erlebnis". Ressortübergreifend ist die Bedeutung migrantischer Ökonomien für die Integration besonders beachtenswert. Neben positiver Anerkennung in der Mehrheitsgesellschaft und Sprachkompetenz werden durch migrantische Ökonomien soziale Netzwerke neu geknüpft sowie bestehende gepflegt und vertieft. Ebenso gehört die Schaffung positiver Rollenvorbilder in diesen Themenkanon (Schaland 2012, S. 38–41).

Erfolg und Misserfolg der migrantischen Unternehmensgründung

Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass der großen Gründungsbereitschaft der Migranten auch eine enorm hohe Quote der Unternehmensaufgaben gegenüber steht. So haben sich Beratungsinstitutionen aus der Bundesagentur für Arbeit, der Industrie- und Handelskammer sowie der Handwerkskammer darauf verständigt, ihre Dienstleistungen im Bereich der Existenzgründung auf spezielle Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund zuzuschneiden. Das Landesprogramm "KOMM-IN NRW – Innovation in der kommunalen Integrationsarbeit" (2005–2010) nutzten mehrere Städte Westfalens, um Grundlagendaten zur lokalen migrantischen Ökonomie bereitzustellen und Netzwerkgründungen anzustoßen, die migrantischen Selbstständigen und Existenzgründungsinteressierten eine gemeinsame Plattform bieten, u.a. in Castrop-Rauxel (2012), Münster (2011), Paderborn (2009) und Siegen (2012).

Ausländische akademische Gründende stellen eine bislang nur wenig beforschte Gruppe in der Gründungsforschung dar. Das Projekt "StartMiUp – Unterstützung akademischer Existenzgründerinnen und Existenzgründer mit Migrationshintergrund" widmet sich im Rahmen des bundesweiten IQ-Netzwerks (Integration durch Qualifizierung) explizit dieser Zielgruppe. In einer empirischen Untersuchung wurden Hochschulgründungsberater und Vertreter der Zielgruppe nach spezifischen Herausforderungen und Unterstützungsbedarfen gefragt. Die Ergebnisse zeigen, dass eine stärkere kulturelle Sensibilisierung und Kompetenzorientierung bestehender Beratungs- und Unterstützungsangebote für den Gründungsprozess förderlich ist (Buschmeyer u. Triebel 2014).

Insbesondere die Stadt Dortmund kann durch mehrjährige Forschungsarbeiten auf ein dichtes Datennetz blicken, das vor allem die Dortmunder Nordstadt, die aus verschiedener Sicht vorrangig als problembehaftetes Quartier beschrieben wird, in den Fokus nimmt.

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Weiterführende Literatur/Quellen

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Erstveröffentlichung 2016