Stadtböden – schlummernd lastendes Erbe der Geschichte

01.01.2007 Jürgen Herget

weitere Autorin: Christina Ergler

Viele Umweltschutzkampagnen in den letzten Jahrzehnten steigerten das Bewusstsein für die Natur und die Belastung der Umwelt. Im Zuge der Entdeckung der Altlastenproblematik Mitte der 1980er Jahre rückten neben Luft- und Wasserbelastungen auch die im Boden enthaltenen Schadstoffe verstärkt ins Blickfeld. Namentlich auf Altstandorten, die in industriell geprägten Städten praktisch flächenhaft verbreitet sein können, stellte sich die Frage der vorhandenen Bodenbelastungen und davon ausgehender potenzieller Gesundheitsgefährdungen. Beispielhaft wird veranschaulicht, wie unabhängig von Kontaminationen einzelner Parzellen die Böden in unterschiedlichen Stadtbezirken die stofflichen Belastungen aus ihrer Nutzungsgeschichte bis heute widerspiegeln.

Als ein Paradebeispiel einer Industriestadt gilt auch heute immer noch Gelsenkirchen im westfälischen Teil des Ruhrgebietes. Die ehemalige "Stadt der tausend Feuer" mitten im Ruhrgebiet zeigt jedoch, dass sich auch innerhalb von urbanen Ballungsräumen durchaus unterschiedliche Verteilungsmuster von Schadstoffen im Boden finden lassen. Allgemein lassen sich Stadtböden in einen humosen Oberboden und einen nicht humosen Unterboden unterteilen, die meist scharf von einander abgegrenzt sind. Im Boden vorhandene Schadstoffe können in Staubform direkt oder über den Verzehr von darauf angebauten Nutzpflanzen aufgenommen werden und so die Gesundheit gefährden. Daher wurden in den 1990er Jahren die Gelsenkirchener Stadtböden auf Kinderspielanlagen und Bolzplätzen, wo der Kontakt mit Böden für spielende Kinder am größten ist, hinsichtlich der Gehalte an Arsen, Blei, Cadmium, Chrom, polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe (PAK), polychlorierter Biphenyle (PCB) und polychlorierter Dibenzodioxine und -furane ("Dioxine") untersucht.
Abb. 1: Siedlungsstruktur von Gelsenkirchen und die Verbreitung erhöhter Schadstoffgehalte im Boden (aktuelle und erloschene Betriebe) (Entwurf: J. Herget, Quelle: Stadt Gelsenkirchen 2005)
Die Konzentration der Schadstoffe im Stadtboden wurde im Rahmen einer weitergehenden Auswertung der Untersuchungsergebnisse in drei Klassen unterteilt: geogene/ubiquitäre-, durchschnittliche und erhöhte Konzentrationen. Die erste Klasse umfasst die Hintergrundbelastung, die zweite Klasse deckt den Bereich bis zum 80-Percentilwert ab, der den statistischen Schwellenwert zu den 20 % der höchst belasteten Bodenproben bildet. Die letztgenannte Klasse der erhöhten Konzentrationen stellt also nur einen relativen Wert innerhalb der Untersuchung dar und bedeutet keinesfalls automatisch eine gesundheitliche Gefährdung.

Die am höchsten belasteten Gebiete in Gelsenkirchen liegen südlich der Emscher und im westlich gelegenen Stadtteil Horst. Folglich kann das Gelsenkirchener Stadtgebiet in zwei Bereiche unterteilt werden: in den belastungsarmen Norden und in die altindustrialisierten Gebiete südlich der Emscher (Abb. 1). Dieses tendenzielle Muster findet sich bei allen untersuchten Parametern wieder, wobei einzelne lokale Belastungsquellen das Grundmuster je nach untersuchtem Schadstoff leicht modifizieren, was auch durch eine jüngst durchgeführte Ergänzungsuntersuchung bestätigt wird.

Die Belastungen Gelsenkirchens stammen nicht aus heutiger Zeit, sondern gelangten vor allem während der Hochphase der Industrialisierung in den Boden, was sich durch die Parallelität der Nutzungsentwicklung mit der Schadstoffverbreitung andeutet. Die explosionsartige Ausbreitung von Industriebetrieben und Siedlungsflächen und die darauf folgende Phase der Verdichtung hinterließen frühzeitig ihre Spuren: So kam bereits 1915 das Reichsgericht zu der Feststellung, dass Obstbäume in gewissen Bereichen wegen der ortsüblichen Schadstoffbelastung nicht mehr gedeihen könnten.

Neben den im Boden natürlicherweise enthaltenen Grundgehalten wurden Schadstoffe auch über die Luft in Form von Staubniederschlag eingetragen und angereichert. In den Gebieten höchster Bebauungsdichte war die Zufuhr umweltschädlicher Stoffe am stärksten, da hier der Luftaustausch am geringsten ist und somit zur Ablagerung der mitgeführten Stäube auch aus Nachbarstädten führte. Ergänzend sind für Stadtböden feinkörnige partikuläre Beimengungen in Form von Asche, Schlacke, Ziegel, Kohle oder Bauschutt geradezu typisch. Auch lokale Kontaminationen durch Chemikalien oder Aufschüttungen von Verbrennungsrückständen oder Bauschutt/Kriegstrümmern sind Verunreinigungen, die den Boden beeinträchtigen. Als regionale Besonderheit ist die Emscher in ihrer Funktion als Abwasserkanal zu sehen, denn Deichbrüche während des Zweiten Weltkriegs belasteten den Boden durch Ablagerungen aus dem Abwasser zusätzlich.
Abb. 2: Die Lage von Gelsenkirchen in der Gliederung der Industrialisierungszonen des Ruhrgebietes (Entwurf: J. Herget, Quelle: Brepohl 1957)

Eine der Ursachen für diese Unterschiede in der Schadstoffverbreitung liegt in der von Süden nach Norden fortschreitenden Industrialisierung im Ruhrgebiet (Abb. 2). Diese entwickelte sich entlang der technischen Möglichkeiten zur Kohleförderung und kann so in verschiedene Zonen eingeteilt werden, die wiederum zu unterschiedlichen Belastungen des Stadtbodens führten. Die Ruhrzone (I) beginnt im Süden beiderseits der Ruhr und verläuft von Essen-Kettwig bis Schwerte. Bauern bauten seit dem Mittelalter als Zuerwerb oberflächennahe Kohle ab. Daher änderten sich die historischen Marktstandorte und das Landschaftsbild nur wenig. Der Kohleabbau konnte nach der Erfindung der Dampfmaschine zum Abpumpen des Grundwassers den abtauchenden Kohleschichten in die Hellwegzone (II) folgen. In die Zeit der Gründerphase fällt auch die Etablierung der Eisenbahn, und so siedelten sich Großbetriebe der Eisen- und Stahlindustrie in der Nähe an. Die Kristallisationspunkte jener Tage waren Städte wie Essen, Bochum und Dortmund.

Die von Duisburg-Hamborn bis Castrop-Rauxel reichende Emscherzone (III) war ursprünglich eine kaum besiedelte Niederungslandschaft im teilweise sumpfigen Emscherbruch. Die hier liegenden Städte, zu denen auch der Süden des heutigen Gelsenkirchens zählt, bekamen erst mit der einsetzenden Industrialisierung Bedeutung. Die für diese Zone typischen ersten Großzechen und angrenzenden Verarbeitungsbetriebe wurden ab 1870 gegründet oder konnten ab dann große Mengen fördern. Die Anlage von Schachtanlagen mit Werksbahnen, Straßen und Rohrleitungen führte in Kombination mit den dazwischenliegenden Werkssiedlungen (s. Beitrag Bronny) zu einem meist ungeordneten Nebeneinander von Verkehrs-, Industrie- und Siedlungsflächen, das sich mit der Zeit zu einem flächendeckenden Gefüge entwickelte. Um die Jahrhundertwende erreichte die Industrialisierung die Vestische Zone (IV), die von Oberhausen-Sterkrade nach Recklinghausen verläuft. Traditionell liegen die Siedlungen wie der alte Kern von Gelsenkirchen-Buer auf der Schichtstufe nördlich des Emschertals und wurden von Großzechen, ihren Nebenanlagen und Chemiebetrieben geprägt. Bereits vor dem ersten Weltkrieg wanderte die Kohleförderung weiter nach Norden in die Lippezone (V). Jedoch finden der Abbau und Transport der Kohle hier in mehreren hundert Metern Tiefe statt, so dass heute oberirdisch wenig von der Verlagerung der Abbaufront zu sehen ist.

Die mit der Industrialisierung verbundenen Staubeinträge im Boden wurden über Kampagnen wie "Blauer Himmel über der Ruhr" in das Bewusstsein gerückt und mündeten schließlich zu ihrer Reduzierung und zum Schutze des Bodens im Bundes-Bodenschutzgesetz (1998). Aus Unbedarftheit in der Vergangenheit und mangelndem Problembewusstsein für Umweltverschmutzungen lastet nun ein Erbe im Boden. Somit stellt der Boden das Fenster zur Vergangenheit dar: Einmalige lokale Belastungen und lang andauernde diffuse Schadstoffeinträge lassen sich noch heute nachvollziehen.

Beitrag als PDF-Datei ansehen/speichern (Größe: < 1 MB)

↑ Zum Seitenanfang


Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007