Werkssiedlungen im westfälischen Ruhrgebiet

01.01.2007 Horst M. Bronny

Kategorie: Siedlung

Schlagworte: Ruhrgebiet · Industrialisierung · Wohnen · Arbeitersiedlung · Bochum

Der Siedlungsausbau im Ruhrgebiet muss in engem Zusammenhang mit seiner Bevölkerungsentwicklung gesehen werden. Bereits im ersten Drittel des 19. Jh.s findet südlich der Ruhr ein bedeutender Bevölkerungszuwachs statt, der auf den Steinkohlenbergbau zurückzuführen ist. Der Anstieg der Bevölkerung in den Hellwegstädten wird dagegen stärker vom Ausbau der eisenschaffenden Industrie geprägt. Um die Jahrhundertmitte beginnt mit der Nordwanderung des Bergbaus eine überdurchschnittliche Zuwanderung in die südliche Emscherzone. Während am Hellweg die Ackerbürgerstädte Kristallisationskerne der städtischen Entwicklung werden, fehlt es in der siedlungsfeindlichen Emscherniederung an einer kommunalen Ordnungskraft, so dass Bergbaugesellschaften die Siedlungsentwicklung bestimmen.
Abb. 1: Kolonie Dahlhauser Heide in Bochum-Hordel, erbaut zwischen 1906-1915 (Quelle: Verändert nach Bronny/Jansen/Wetterau)

In der Zeit der Frühindustrialisierung verlieren viele Handwerker und Kleinbauern ihre Existenzgrundlage, so dass sie gezwungen sind, in den aufstrebenden Industriestädten des Reviers nach Arbeit zu fragen. Bis zur Mitte des 19. Jh.s kommen die Zuwanderer aus benachbarten Regionen. Der steigende Bedarf an Arbeitskräften im Bergbau führt nach der Reichsgründung zur Zuwanderung aus den preußischen Ostprovinzen. Diese Zuwanderer finden teilweise in den neuangelegten sog. Bereitschaftssiedlungen/Kolonien eine Unterkunft.

Die patriarchalische Planungs- und Sozialgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s findet im Industrierevier zwischen Ruhr und Lippe ihren Ausdruck in einer Siedlungsweise, die von einer äußerst liberalen "Laissez-Faire-Politik" bestimmt wird. Die Arbeitersiedlungen werden meist in den Außenbereichen der Gemeinden angelegt und entziehen sich so einer Kontrolle und gemeindlichen Mitsprache. Das 1876 in Westfalen in Kraft getretene "Ansiedlungsgesetz" bürdet dem Bauherrn von Werkssiedlungen zwar auch die Kosten für die Infrastruktur auf, wird aber meist dadurch umgangen, dass man bereits bestehende Siedlungen nach und nach erweitert, was vom "Ansiedlungsgesetz" nicht erfasst wird. So weisen die meisten großen Kolonien im westfälischen Ruhrgebiet Bausubstanz unterschiedlichen Alters auf. In den Kolonien ist der Arbeitsvertrag eng mit dem Mietvertrag gekoppelt. Bei Verlust des Arbeitsplatzes muss die Wohnung noch am gleichen Tag geräumt werden. Kontrolle, Disziplinierung und Bevormundung in allen Lebensbereichen sind üblich.

Abb. 2: Grundriss eines Siedlungshauses vor (a) und nach (b) der Sanierung in der Dahlhauser Heide (Quelle: Verändert nach Bronny/Jansen/Wetterau)

Die Siedlungen sind ein Spiegelbild der Verhältnisse zwischen industriellem Bauherrn und abhängigem und weitgehend rechtlosem Arbeitnehmer. Diese Situation mindert aus heutiger Sicht den Wert der planerisch-ästhetischen Gestaltung vieler Werkssiedlungen. Durch den Bau der Kolonien meist in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Schachtanlagen wird das Wohnangebot für die Bergarbeiter zwar quantitativ und qualitativ - gemessen an früheren Massenunterkünften - wesentlich verbessert, in Wirklichkeit erfreuen sich im Bergbau um 1900 nur ca. 20% der Belegschaften des Privilegs, in einer der neuen Siedlungen wohnen zu dürfen. Meist sind es Stammarbeiter, die man nach ihrer Ausbildung fest an die Zeche binden will.

Bis zur Mitte des 19. Jh.s sind die in Ruhrsandstein oder Fachwerkbau errichteten Bergmannskotten im südlichen Ruhrgebiet einer ersten, dem Bergbau verbundenen Bauphase zuzuordnen. Aus dem Kötterhaus entwickelt man die ein- bis eineinhalbgeschossigen Arbeiterhäuser aus Ziegelstein der ersten Werkssiedlungen. Die Häuser dienen zwei bis vier Familien als Unterkunft. Der Stall ist angebaut oder steht frei hinter jedem Wohnhaus. Jede Familie verfügt über einen großen Garten und einen eigenen Hauseingang. Aus Ruhrsandstein geschlagene Sohlbänke, Stürze und Gesimse sowie Ornamente im Ziegelsteinbau bieten Gestaltungsmöglichkeiten für die Fassaden. Das Dachgeschoss wird meist ausgebaut und dient den Schichtarbeitern während des Tages als Schlafraum oder zur Unterbringung von Schlaf- und Kostgängern. Der Raummangel führt sogar dazu, dass teilweise ein Kostgängerbett an mehrere Schlafgänger vermietet wird, die aufgrund der Schichtarbeit nacheinander dort schlafen können, wodurch das ohnehin knapp bemessene Familienbudget weiter aufgebessert wird.

Abb. 3: Sanierte Häuser der Dahlhauser Heide (Quelle: Bronny/Jansen/Wetterau)

Die Gestaltung der frühen Werkssiedlungen wirkt uniform, wenngleich sich gelegentlich giebel- und traufständige Häuser abwechseln. Nach 1871 wird der Werkswohnungsbau zur wichtigsten städtebaulichen Komponente des Reviers. Nach der Pariser Weltausstellung 1889 werden neue Grundsätze des Städtebaus diskutiert. Durch aufgelockerte Bebauung und abwechslungsreiche Gestaltung der Fassaden erhalten die Kolonien ein freundlicheres Aussehen. Das organisch gewachsene Dorf der vorindustriellen Zeit wird zum Vorbild (Abb. 1). Nach 1920 greift die für den Bergarbeiterwohnungsbau zuständige "Treuhandstelle für Bergmannswohnstätten" auf siedlungstechnisch-ästhetische Gesichtspunkte der Vorkriegszeit zurück. Die unterkellerten Wohnungen von 70 - 80 m2 mit Bad und Toilette verfügen immer noch über Stallbauten und große Nutzgärten. Die Wohnküche wird zum Kommunikationszentrum der Familie. 1931 werden aber nur noch 78 neue Wohneinheiten gebaut. Die Bindung der Koloniebewohner an den Bergbau bleibt bis in die 1950er Jahre bestehen. In der Folgezeit kommt es zu unnötigem Abriss von Siedlungen, deren sozialen Wert man noch nicht erkennt. Baustruktur und Ausstattung der Häuser werden von akademisch gebildeten Architekten und Gutachtern nach ihren Leitbildern bewertet. Eine intakte Sozialstruktur und Nachbarschaftshilfe machen aber in den Kolonien Kindergärten und Altenheime fast überflüssig. Viele Kolonien werden unter Denkmalschutz gestellt. Nach Privatisierung und Modernisierung im Rahmen einer städtischen Gestaltungssatzung weisen viele Siedlungen (z.B. die Kolonie Dahlhauser Heide, Abbn. 2 u. 3) heute einen überdurchschnittlich hohen Wohnwert auf.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007