"Westfalen im Bild" - Texte

Burg, Peter
Ludwig Freiherr von Vincke
Münster, 1994



A. Einleitung

"Wenn er sich auf eine Dienstreise begab, so zog der kleine Mann einen weiten, blauleinenen Kittel, wie ihn in Westfalen die Landleute tragen, über den Rock und hatte im Munde eine lange Pfeife, die er während der ganzen Fahrt nicht ausgehen ließ. Er machte solche Reisen aber auch abwechselnd zu Fuß, um Gegenden zu besuchen, die seitwärts der großen Landstraßen lagen, und betrat dann oft unerkannt ein gewöhnliches Bauernhaus oder auch ein Wirtshaus, um sich bei den Bewohnern nach deren Verhältnissen oder jenen des Ortes oder der Gegend zu erkundigen und nach dem Gehörten für den einzelnen oder für die Gemeinde Nutzen zu stiften." [1]

Das ist das volkstümliche Bild eines Mannes, wie es in die Anekdoten der westfälischen Bevölkerung eingegangen ist. Vieles ist an der Person, wie sie geschildert wird, bemerkenswert. Da ist zum einen die gesuchte "Bürgernähe", um ein modernes Schlagwort zu gebrauchen, die nicht mit dem Zweck einer Selbstdarstellung verknüpft ist. Für den Angehörigen eines altadeligen Geschlechts ist der betont schlichte Habitus, eine demonstrative Identifikation mit dem einfachen Volk, auffallend. Der Gedanke eines Dienstes an der Gemeinschaft scheint ihn vollkommen auszufüllen. Keine Spur von Privilegiendenken oder eines autoritären Gebrauchs der vom Staat verliehenen administrativen Gewalt ist zu erkennen. Entspricht dieses Bild der Wirklichkeit, wie sie anhand biographischer Fakten rekonstruiert werden kann? Wer war dieser Mann, dem eine so herausragende Bedeutung für Westfalen zuerkannt wird?


B. I. Herkunft, Bildungsweg

Ludwig Freiherr von Vincke wurde am 23. Dezember 1774 in der Domdechanei von Minden geboren. Sein voller Taufname war Friedrich Ludwig Wilhelm Philipp, doch der in der Familie gebräuchliche Rufname lautete einfach "Louis". Die heutige Historiographie verzichtet vielfach, Ludwigs eigenem Umgang mit seinem Namen folgend, auf die Angabe des Adelsprädikates "von" oder des Freiherrntitels. Die Vinckes stammten aus einer uradeligen, bereits im 13. Jahrhundert nachgewiesenen Familie des Osnabrücker Landes, die in der Reformationszeit das evangelische Bekenntnis übernommen hatte. Ludwig Vincke verstand sich gleichermaßen als Westfale und Preuße, ohne daß man eine Rangfolge erkennen könnte, im Unterschied zu seinem Vater, der stärker nach Hannover tendierte. Der Vater, Ernst Idel Jobst Vincke, war Hofjunker des Kurfürsten von Hannover, stand jedoch gleichzeitig in preußischen Diensten. Sein wichtigstes Amt war das eines Domdechanten zu Minden (seit 1759), weshalb die Familie hauptsächlich hier wohnte. 1762 hatte Ernst Luise Sophie von Buttlar-Elberberg geheiratet. Aus der Ehe gingen zehn Kinder hervor, von denen sieben das Erwachsenenalter erreichten. Ludwig war von letzteren das fünftgeborene, der dritte von vier Söhnen. Der älteste Bruder Ernst, der Haupterbe des Familienbesitzes, brachte es im hannoverschen Militärdienst bis zum General und war Mitglied der Ersten Kammer des norddeutschen Königreiches. Erwähnenswert ist vor allem noch seine Schwester Elisabeth, genannt Lisette, denn deren Vermählung mit dem preußischen Justizminister Eberhard von der Recke war für Ludwigs Karriere förderlich.

Zur schulischen Ausbildung wurde Louis mit neun Jahren (1784) auf das Knabenpensionat des Pastors Lehzen nach Hannover geschickt. Ein Schwerpunkt des dortigen Unterrichts lag auf der Erlernung der englischen Sprache, da der Zögling auf eine Karriere in der britischen Marine vorbereitet werden sollte. In der weiteren Schulausbildung auf dem Pädagogium in Halle spielte dieser Plan keine Rolle mehr. In Halle verbrachte der Jugendliche drei Jahre (von 1789 bis 1792), die ihn für sein weiteres Leben prägten. Als einer der besten Schüler, dem namentlich in Geschichte und Statistik ausgezeichnete Kenntnisse bescheinigt wurden, verließ er das Pädagogium im März 1792 mit dem Zeugnis der Hochschulreife. Nicht nur in intellektueller, auch in charakterlicher und weltanschaulicher Hinsicht schufen die Hallenser Jahre Grundlagen. Wie viele deutsche Intellektuelle und auch viele seiner Standesgenossen war Vincke anfänglich ein Anhänger der Ideale der Französischen Revolution. Einerseits entwickelte sich in dieser Zeit seine Abneigung gegen Absolutismus und Geburtsprivilegien, andererseits seine Sympathie für liberale Werte wie Pressefreiheit und vor allem für soziale Einrichtungen zugunsten von geistig Kranken, Straffälligen, Armen und Waisen. Die Herkunft aus einer privilegierten Gesellschaftsschicht stand diesem Engagement nicht entgegen. Als Adeliger befand sich Ludwig am Pädagogium in einer starken Minderheit von rund zwanzig bei sechzig Schülern. Zum Teil lebenslange freundschaftliche Beziehungen knüpfte er in der Hallenser Zeit mit Adeligen wie mit Bürgerlichen, so z. B. mit Magnus Friedrich von Bassewitz, dem späteren Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg, und mit Daniel Heinrich Delius, dem Regierungspräsidenten von Trier und Köln.

Dem Schulbesuch folgte ein sechssemestriges Universitätsstudium der Rechts- und Kameralwissenschaften in Marburg (1792/93), Erlangen (1793/ 94) und Göttingen (1794/95). Während der Vater und der Schwager von der Recke eine Justizlaufbahn präferierten, zunächst als Assessor am Wetzlarer Reichskammergericht, interessierte sich Ludwig mehr für nationalökonomische Fragen. In Marburg wohnte er, aus heutiger Sicht bemerkenswert, bei einem seiner Lehrer, bei Johann Heinrich Jung genannt Stilling, einem damals berühmten Schriftsteller, Arzt und Professor für Nationalökonomie. In der hessischen Landesuniversität belegte er eine breite Palette von Vorlesungen, von der Metallwirtschaft bis zur Vieharzneikunde, von der Finanzwissenschaft bis zur Philosophie. Nach drei Semestern, im September 1793, zog der Student weiter nach Süden, in die eben (1791) an Preußen gefallene Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth, um an der dortigen Landesuniversität Erlangen seine wissenschaftlichen Kenntnisse zu erweitern. Unter den bekanntesten Professoren, deren Hörer er war und bei denen er erfolgreich praktische Übungen absolvierte, befand sich der Staatsrechtslehrer Johann Ludwig Klüber. Auch hier war der belegte Fächerkanon sehr weit gespannt: Pflanzen- und Tierkunde, Bauern- und Kirchenrecht, Philosophie und Logik, Diplomatik und Wechselrecht, Staats- und Privatfürstenrecht. Dennoch blieb ihm in Erlangen wie schon zuvor in Marburg Zeit, am geselligen studentischen Leben teilzunehmen, insbesondere im Kreise westfälischer Landsleute. Sein ldentitätsbewußtsein als Westfale war schon in dieser Zeit sehr stark ausgeprägt, so stark, daß er, der 19jährige, seinen Lebensentwurf mit dieser Region verband. In seinem Tagebuch, das er seit der Hallenser Schulzeit bis zu seinem Lebensende führte, hielt er das Versprechen fest, sein Leben in den Dienst der westfälischen Heimat zu stellen. Der sogenannte "Westfaleneid" [2] entwarf ein weites Programm sozialpolitischen Handelns, wies aber Veränderungen nach Art der Französischen Revolution entschieden zurück.

Das sechste und letzte Semester verbrachte Ludwig Vincke an der Georg-August-Universität in Göttingen, seit ihrer Gründung im Jahre 1737 eine Wirkungsstätte bedeutender Wissenschaftler. Der fortgeschrittene Student hörte unter anderem bei dem renommierten Reichsrechtler Johann Stephan Pütter, der aus der Grafschaft Mark stammte; Ludwig Timotheus Spittler vermittelte ihm Kenntnisse in Reichs- und europäischer Staatengeschichte, Georg Friedrich von Martens im europäischen Völkerrecht. Die Ablegung eines akademischen Abschlußexamens war damals vor allem bei Adeligen nicht üblich, doch erhielt Vincke Zeugnisse seiner Lehrer, die ihm allesamt gute Leistungen bescheinigten und zur Hoffnung auf eine erfolgreiche Karriere im Staatsdienst berechtigten.


B ll. Aufstieg in der altpreußischen Regionalverwaltung (1795-1806)

Der zwanzigjährige Vincke bewarb sich nach dem Studium um ein Referendariat bei der Kurmärkischen Kammer. Um eingestellt zu werden, mußte er eine Eingangsprüfung vor der Oberexaminationskommission bestehen. Nach der erfolgreich abgelegten schriftlichen und mündlichen Prüfung wurde seinem Antrag stattgegeben und ihm die Möglichkeit eingeräumt, an der Kurmärkischen Kammer, der zugehörigen Justizdeputation und am Manufaktur- und Kommerzkollegium praktische Erfahrungen zu sammeln. Das geschah, indem er den Beratungen der Kollegien zuhörte, zur behördlichen Geschäftsführung mit herangezogen wurde oder auch einen erfahrenen Kriegs- und Domänenrat auf Inspektionsreisen in die Dörfer und Städte der Kurmark begleitete. Vincke beurteilte, was ihm im Bereich von Wirtschaft und Verwaltung begegnete, aus theoretisch-kritischer Sicht, das hieß in dieser Zeit aus der Sicht des liberalen schottischen Nationalökonomen Adam Smith, der in der preußischen Beamtenschaft viele Anhänger besaß. Vincke war Mitglied einer "Technischen Deputation" der Berliner Regierung, die den wirtschaftlichen Fortschritt Preußens forcieren wollte. In Berlin traf Vincke alte Freunde wieder und knüpfte neue Beziehungen. Über seinen Schwager, den Justizminister, fand er Eingang in die vornehme Gesellschaft und lernte einflußreiche Männer kennen (Friedrich Anton Freiherr von Heinitz, Karl Gustav von Struensee, Karl Friedrich von Beyme). Das waren günstige Aufstiegsbedingungen für den fleißigen und strebsamen Referendar. Aber bevor sich diese auswirken konnten, mußte er sein Assessorexamen bestehen.

Nachdem sich Ludwig in der praktischen Kammerarbeit bewährt hatte, wurde er zunächst zur Anfertigung einer Proberelation, in der es um die Begutachtung eines Verwaltungskonfliktes ging, und dann zur abschließenden mündlichen Prüfung, die am 20.05.1797 stattfand, zugelassen. In Anwesenheit des Ministers Heinitz wurde er im Generaldirektorium zu Fragen der Wirtschaft, des Kassen- und des Gerichtswesens sowie zu den Zuständigkeiten der untergeordneten Behörden befragt. Alle Aufgaben löste der Kandidat zur vollen Zufriedenheit der Prüfer, so daß der Anstellung als Assessor nun nichts mehr im Wege stand. Ein Jahr lang war er bei der Kurmärkischen Kammer und beim Manufaktur- und Kommerzkollegium tätig. Ferner erhielt er die Erlaubnis, im Generaldirektorium den Vorträgen des "Westfälischen Departements" zuzuhören. So konnte er einen Eindruck davon gewinnen, wie in Berlin westfälische Angelegenheiten behandelt wurden. Bevor er in seiner Heimat von diesem Wissen Gebrauch machen konnte, unternahm er Reisen, die ihn auch über die Provinz hinausführten. Solche Geschäftsreisen sollten für ihn später zu einem festen Bestandteil seiner Amtsfunktionen werden. In Berichten und Abhandlungen für die vorgesetzten Behörden hielt er seine Beobachtungen fest, etwa in den von ihm sogenannten "Schlesischen Reiseprodukten", die sich bemerkenswert konkreten wirtschaftlichen Gegenständen widmeten: der Schafzucht eines Grafen Magnis, der Leinwandfabrikation, dem Krappbau, der Kultur syrischer Seidenpflanzen oder der Breslauer Tuchfabrikation. Sein Interesse an der Schafzucht äußerte sich in einem Bericht über eine Reise nach Sachsen und Anhalt. Auf das auf diesem Gebiet erworbene Spezialwissen kam die Regierung zurück, als sie ihn 1802 mit einem Sonderauftrag nach Spanien zum Kauf von Merinoschafen schickte. Zu dieser Zeit war er aber schon mehrere Jahre als Landrat in Minden tätig.

Die Ernennung Ludwig Vinckes zum Landrat im preußischen Fürstentum Minden macht die für dieses Amt und das Ancien Régime überhaupt charakteristische Verflechtung altständischer Mitwirkungsrechte und obrigkeitlicher Kompetenzen deutlich. Das Vorschlagsrecht besaß das Domkapitel, dessen Alleinzuständigkeit aber in einem alten Rechtsstreit von den Prälaten und der Ritterschaft bestritten wurde. Auf der anderen Seite konnte die Kriegs- und Domänenkammer in Minden ein Veto gegen die Ernennung eines ungewünschten Kandidaten einlegen, zumal die Anwesenheit eines preußischen Armeekorps besondere Verwaltungsanforderungen stellte. Das letzte Wort hatten Generaldirektorium und König. Nachdem ein erster Personalvorschlag an diesen Reservatrechten gescheitert war, nominierte das Domkapitel im Juni 1798 den 24jährigen Kammerassessor, dessen Rückkehr aus Berlin auch der Vater, der Mindener Domdechant, wünschte und der seinerseits die Annahme der Wahl signalisiert hatte. Für seine Bestellung war aber nicht nur die Eignung wichtig, sondern auch der soziale Status: zum einen die Ritterbürtigkeit, die durch seine familiäre Herkunft gegeben war, zum anderen der Besitz eines Gutes, das ihn als Mitglied der Ritterschaft des Fürstentums qualifizierte. Letztere Voraussetzung schuf der in Primogenitur erbende Bruder Ernst, selbst Domkapitular in Minden, durch die Abtretung von Klein-Eickel.

Das Fürstentum Minden war nicht wie die meisten preußischen Provinzen in Kreise eingeteilt, sondern in Ämter und lmmediatstädte. Vinckes Bestallung, die der König am 08.08.1798 verfügte, bezog sich auf die Ämter Hausberge, Petershagen und Schlüsselburg. Auf den Antrag des Domkapitels hin erhielt der junge Landrat Sitz und Stimme in der Kriegs- und Domänenkammer, deren Chef kein anderer als der Freiherr vom Stein war, von 1798 bis 1803 Oberpräsident aller westfälischen Kammern. Umgekehrt machte es ihm die Berliner Regierung zur Pflicht, den Verhandlungen der Stände beizuwohnen. Das Amt wurde mit 400 Reichstalern besoldet, bei der Verleihung hatte er - eine Spur von Ämterkäuflichkeit - eine Gebühr von 110 Reichstalern an die Generalchargenkasse in Berlin zu entrichten.

Eine der Bestallungsurkunde beigefügte Instruktion erteilte dem Landrat präzise Anweisungen zum Geschäftsbereich und zur Geschäftsführung. Zwar stand die verantwortliche Wahrnehmung fiskalischer Interessen obenan, aber diese sollte nicht zur Überbesteuerung oder - im Rahmen des Privilegiensystems - zu unverhältnismäßigen, ungerechten Belastungen führen. An der Ausschöpfung der wirtschaftlichen Ressourcen, z.B. durch eine rasche Besetzung wüster Bauernhöfe, war dem Landesherrn besonders gelegen. Der Landrat mußte die Kammer über Ernteergebnisse und -schäden unterrichten. Ein großes Aufgabenfeld bezog sich auf die Militärverwaltung: auf die Organisation von Durchmärschen und Einquartierungen sowie die Aushebung von Rekruten in den Kantonen. Neben der Erfüllung der regulären Dienstpflichten vermochte Ludwig Vincke persönliche Akzente zu setzen. Sein in der Jugend entwickeltes soziales Engagement kam dabei zum Tragen. Er hatte ein offenes Ohr für die Klagen der Bauern und machte sich immer wieder zu deren Fürsprecher bei tatsächlichen oder vermeintlichen Übergriffen militärischer und ziviler Behörden. In der Kammer widmete er sich besonders der Fürsorge für Arme, Invalide und geistig Kranke sowie dem Schulwesen. Um das Schulwesen auf dem Lande zu heben, wollte er eine von allen Einwohnern zu entrichtende Landessteuer einführen und die Lehrer nach Leistung, Würdigkeit und Schülerzahl bezahlen lassen. Dem Trend zur Verstaatlichung öffentlicher Einrichtungen folgend bemühte er sich, den Einfluß der Kirche auf diesem Sektor einzudämmen. Sein pädagogischer Impetus äußerte sich auch im medizinischen Bereich. Im Jahre 1801 ließ er sich vor allen Leuten mit Kuhpockenlymphe impfen, um der Bevölkerung die Furcht vor einer solchen Prophylaxe, die eben aus England bekannt geworden war, zu nehmen und einer großen gesundheitlichen Gefahr zu begegnen.

Die Landratszeit war unterbrochen durch zwei größere Auslandsreisen, von denen die eine nach England (April bis September 1800), die andere nach Spanien (Januar 1802 bis Januar 1803) führte. Beide fanden in amtlichem Auftrag statt, vor allem die Englandreise diente der weiteren Qualifikation des preußischen Beamten. Das Programm zum Inselbesuch, ein ganzes Aufgabenbündel, wurde gemeinsam von Vincke, Stein und den Ministern Heinitz und Struensee erstellt. Stein hatte England 1786/87 als Leiter des Bergamtes in Wetter an der Ruhr erkundet, nun sollte der Mindener Landrat seine landwirtschaftlichen, kameralistischen und technologischen Kenntnisse erweitern, indem er sich informierte über Ackerkultur und Viehzucht, Brauerei- und Brennereibetriebe, Leinwandfabrikation und Flachsspinnerei sowie die Steinkohlenverwendung, aber auch über soziale Einrichtungen wie Arbeits-, Zucht- und Irrenhäuser. Der aus der Berliner Zeit befreundete Landrat Heinrich Graf von ltzenplitz und Albrecht Thaer aus Celle gaben ihm Empfehlungsschreiben an bedeutende Agronomen mit auf den Weg. Die breite Unterstützung der Englandreise erklärt sich aus dem Bestreben von Bürokratie und aufgeklärter Öffentlichkeit, den deutlich sichtbaren wirtschaftlichen und sozialen Rückstand Preußens aufzuholen.

Der Mindener Landrat war beeindruckt von den besichtigten Musterfarmen mit ihren komfortablen Kuh- und Schweineställen, den gepflegten Milchkammern, der Schafschur- und Pflugtechnik. Weniger Gefallen fand er an den Kirchen-, Schul- und Armeneinrichtungen, die Zoll- und Akzisetarife schienen ihm überhöht, das preußische Gerichtswesen vorzüglicher. Doch daß Adel und Bürgertum gleichermaßen den Staatshaushalt finanzierten, das schien ihm gegenüber den deutschen Verhältnissen, wo der Adel auf alte Privilegien pochte, statt sich zeitgemäßen Anforderungen anzupassen, rühmenswert. Ungleich höher als die preußische Bürokratie wertete er schließlich das englische Selbstverwaltungssystem, "die Art, wie die Menschen hier so ganz durch und aus sich selbst regiert werden, ohne daß der Staat im mindesten sich darum zu bekümmern und dafür etwas auszugeben braucht". [3]

An der Wertschätzung der englischen Selbstverwaltung hielt Vincke in der Folgezeit fest. Nicht zuletzt darauf beruhte sein Urteil über deutsche Rückständigkeit, das er in einer vergleichenden Bilanz fällte. Ein gutes Jahr später begab er sich auf die Spanienreise, deren Zweck ein ganz konkreter war. Die grobe Wolle der einheimischen Schafe sollte durch den Import von Merinoschafen veredelt werden. Vinckes Tätigkeit im Berliner Manufaktur- und Kommerzkollegium und seine besonderen Fachkenntnisse hatte der für die Kommission zuständige Minister Struensee nicht vergessen. Zusammen mit einem Schäfer trat er die Reise an, um den Auftrag auszuführen und die ausgesuchten Tiere per Schiff in die Heimat befördern zu lassen. Der Landrat selbst kehrte auf dem Landweg zurück. Unterwegs registrierte er aufmerksam die politische Verfassung und Stimmung der durchreisten Länder. Gegenüber Frankreich, nunmehr unter napoleonischem Konsulat stehend, wahrte er eine kritische Distanz.

Nach einer fünfjährigen Amtszeit als Landrat gelangte Ludwig Vincke an die Spitze der regionalen Verwaltungselite des preußischen Staates. Am 08.10.1803 erfolgte seine Ernennung zum Präsidenten der Ostfriesischen Kriegs- und Domänenkammer in Aurich, als Nachfolger des Grafen Schwerin, der auf die gleiche Position nach Magdeburg versetzt wurde. Ein gutes Jahr später, im November 1804, drehte sich das Personenkarussel wieder, Graf Schwerin kehrte nach Aurich zurück, Vincke erhielt die Leitung der Kammern von Münster und Hamm übertragen. Die Beförderung des Mindener Landrats zum Präsidenten, und dies im Alter von nur 29 Jahren, brachte eine fachliche und persönliche Wertschätzung seitens der Berliner Regierung zum Ausdruck. Dennoch trat der Beförderte den Posten mit gemischten Gefühlen an, eine Einstellung, die sich im weiteren Kammerverlauf des preußischen Beamten noch einige Male wiederholen sollte. Einerseits war er stolz darauf, an der Spitze der Verwaltung einer Provinz zu stehen, auch fühlte er sich befreit von dem Druck, der in Minden von verschiedenen Seiten (dem Vater als Domdechanten, dem Oberpräsidenten Stein, den Militärbehörden) auf ihn ausgeübt wurde. Daß er aber gerade nach Aurich versetzt wurde, gefiel ihm zunächst gar nicht, hielt er diese Stelle doch wegen der relativ schwachen Kompetenzen der staatlichen Verwaltung für einen "halben Invalidenposten". [ 4] Doch seine Einstellung änderte sich sehr bald; nach einem Jahr trennte er sich höchst ungern von seiner Wirkungsstätte, und im Rückblick bedauerte er den Weggang nach Münster. Vergeblich setzte er sich nach den Befreiungskriegen für den Verbleib Ostfrieslands bei Preußen ein.

Das Kammerkollegium in Aurich bestand, neben dem Kammerpräsidenten, aus fünf Räten und einem Assessor. Es gab nur einen einzigen Steuerrat in der Provinz, und zwar in Emden; adelige Drosten verwalteten die acht Ämter als Sinekuren, ohne aktiv an der konkreten Geschäftsführung mitzuwirken. Landräte und Amtsleute, "moderne" Funktionsträger, fehlten. Die jährlichen Bezüge des Kammerpräsidenten (Grundgehalt, Sporteln, Naturalleistungen, freie Wohnung) beliefen sich auf 3.205 Reichstaler, eine deutliche Steigerung gegenüber dem Einkommen als Landrat. Daß er von diesem Einkommen 300 Reichstaler als Pension an die Witwe des 1797 verstorbenen Kammerpräsidenten Peter Colomb zahlen mußte, ist kennzeichnend für feudale Relikte im damaligen Beamtenstatus.

Als Ostfriesland 1744 an Preußen fiel, war dem Land der Weiterbestand alter Privilegien garantiert worden. Daraus erklären sich die provinzialen Sonderrechte, die der Kammerpräsident Vincke bei der Amtsübernahme zu seinem Bedauern vorfand. Teils änderten alte Einrichtungen nur ihren Namen. Aus der fürstlichen Oberrentkammer wurde die Kriegs- und Domänenkammer, die Regierung wurde mit dem Hofgericht verschmolzen und in der Hauptsache auf die Justizpflege zurückgedrängt. Am wichtigsten war jedoch die Konservierung der Landstände, denen Vincke einen fortschrittshemmenden Egoismus vorwarf und die er insofern gegenüber der englischen Selbstverwaltung abqualifizierte. Die Kontribution, die ländliche Steuer, wurde überwiegend von den Ständen verwaltet; der Fiskus erhielt jährlich ein Fixum von 40.000 Reichstalern. Für größere öffentliche Aufwendungen mußten die Stände um Sonderzuweisungen gebeten werden. Hingegen gelangte die städtische Steuer direkt in die königliche Kasse.

Die von Vincke geleitete Kammer legte den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf Bereiche, die ihrem direkten fiskalischen Zugriff unterlagen: nämlich auf das Domänenwesen und die Förderung von städtischem Handel und Gewerbe. Die private Landwirtschaft war auch ohne staatliches Zutun hochentwickelt; Rinder und Pferde konnten ausgeführt werden. Durch die Kultivierung von Mooren (Fehnkolonien) und wüsten Böden sowie durch die Eindeichung von Anlandungen (Polder) vermehrte der Fiskus den Domanialbesitz. Die Kammern setzten zu dessen Nutzung, die meist in Form einer Erbverpachtung erfolgte, Rentmeister ein. Vincke fand, was die Städte (besonders Emden und Leer) anging, schnell das Vertrauen der Kaufleute und Reeder. Mit der Benennung eines Schiffes nach dem neuen Kammerpräsidenten gaben sie ihrem Dank für infrastrukturelle Förderungsmaßnahmen Ausdruck. Innerhalb eines Jahres hatte dieser soviel Akzeptanz gefunden, daß die ostfriesischen Stände den König ersuchten, ihn in der Provinz zu belassen. Doch die Würfel waren gefallen; am 20.11.1804 verließ Vincke Aurich in Richtung Münster.

Vincke verdankte seine Ernennung zum Präsidenten der Kammern von Münster und Hamm dem Minister Ferdinand Ludwig von Angern, dem designierten Minister Stein und dem höchsten preußischen Repräsentanten in Westfalen, dem Kommandierenden General Gebhard Leberecht von Blücher, der im August 1802 in das säkularisierte Fürstbistum eingerückt war. In jener Zeit, in der Ludwig noch mit seiner Berufung nach Aurich unzufrieden war, hätte er die Verwaltung einer Entschädigungsprovinz als eine große Herausforderung vorgezogen. Jetzt erhielt er die Gelegenheit zur Bewältigung größerer Aufgaben in einem Gebiet, das im Vergleich zu Ostfriesland das Vierfache an Menschen und Land aufwies. Die wichtigsten organisatorischen Bestimmungen zur Eingliederung des neuen Territoriums waren allerdings schon in Kraft, als Vincke Ende 1804 sein Amt antrat. Stein hatte großes Vertrauen, daß sein Nachfolger das schwierige Integrationsgeschäft erfolgreich weiterführen werde. Mit den Aufgaben stieg dessen Gehalt, die Position eines Präsidenten wurde nicht gleich besoldet, als Verwaltungschef in Hamm bezog Vincke 1.362, in Münster 2.250 Reichstaler, dazu kamen Siegelgelder. Im linken Flügel des fürstbischöflichen Schlosses zu Münster hatte er freie Wohnung, während Blücher im rechten Flügel residierte.

Sowohl der Kammerbezirk von Münster als auch der von Hamm bestand aus altpreußischen und neugewonnenen Gebietsteilen. Alter Besitzstand waren in ersterem die Grafschaften Lingen und Tecklenburg, in letzterem die Grafschaft Mark und die rechtsrheinischen Teile des Herzogtums Kleve (die linksrheinischen waren von Frankreich annektiert worden). Neupreußische Territorien waren im Kammerbezirk Münster der östliche Teil des Fürstbistums Münster mitsamt dem alten Regierungssitz und das Hochstift Paderborn, im Kammerbezirk Hamm die Abteien Essen, Werden und Elten. Altgewohnte Einrichtungen wurden in diesen Gebieten durch preußische Institutionen ersetzt, ein für die traditionelle Regierungs- und Verwaltungselite und auch für die betroffene Bevölkerung schmerzhafter Vorgang. In Münster wie in Paderborn verloren - trotz Steins Fürsprache - die Stände ihre verhältnismäßig weitgehenden Mitherrschaftsrechte. Spezialorganisationskommissionen führten die preußischen Institutionen ein: zum 01.09.1803 die Allgemeine Gerichtsordnung, zum 01.07.1804 das Allgemeine Landrecht. Am 01.12.1803 nahmen die neukonstituierten Kriegs- und Domänenkammern ihre Arbeit auf. Unter Aufgabe der Präsidentschaft in Minden stand Freiherr vom Stein den Kammern in Münster und Hamm vor. Die Regierungen, die obersten Provinzgerichte, erhielten teilweise neue Gebietsabgrenzungen und besaßen keine räumliche Deckungsgleichheit mit den Kammerbezirken. Landräte standen fortan an der Spitze der neuen Kreise und lösten die traditionellen Amtsdrosten und -rentmeister ab. Die Städte verloren Selbstverwaltungsrechte an die Kammern. Es gab in der Bevölkerung starke Antipathien gegen das neue Herrschaftssystem und seine Repräsentanten, die durch die konfessionellen Unterschiede vertieft wurden. Zu den unbeliebtesten Neuerungen zählte die Kantonspflicht, die Pflicht zur Stellung von Rekruten, die im Münsterland bisher unbekannt war. Hier hatte es nur ein kleines Heer aus angeworbenen Söldnern gegeben. Stein suchte durch die Übernahme von Mitgliedern der alten Verwaltungsgremien und durch Standeserhebungen herausragender Persönlichkeiten das Integrationswerk zu erleichtern. All das hatte schon stattgefunden, als Vincke Ende 1804 von dem designierten Minister dem Münsteraner Kammerkollegium als Nachfolger vorgestellt und in seine Aufgaben eingeführt wurde.

Der neue Präsident stand in Münster einem Kollegium gegenüber, in dem es neben einer Mehrheit von altpreußisch-evangelischen Räten einige katholische Beamte gab. In die katholischen Zirkel der Bischofsstadt (um Franz von Fürstenberg, Bernhard Overberg und die Fürstin Amalie von Gallitzin) fand er keinen Eingang, wohl aber pflegte er gute Beziehungen mit einzelnen herausragenden Münsteraner Persönlichkeiten wie dem Domdechanten Ferdinand August von Spiegel oder August Ferdinand Graf von Merveldt, seinem Amtsnachfolger. In Hamm, das er im Januar 1805 erstmals besuchte, überließ Vincke die Führung der laufenden Geschäfte Kammerdirektor Friedrich Wilhelm Bartold von Rappard. Das war aber keineswegs auf ein distanziertes Verhältnis zu den Märkern zurückzuführen, sondern ergab sich aus dem Arbeitsumfang. Seine guten Beziehungen zu den Märkern sollten - Jahre später - durch die Heirat mit einer Provinzbewohnerin, Eleonore von Syberg, gekrönt werden. Mehr Entwicklungsarbeit als in der wirtschaftlich fortgeschrittenen Grafschaft Mark hatte Vincke in den Entschädigungsländern zu leisten, allen voran im ehemaligen Hochstift Paderborn. Handel und Verkehr lagen hier am Boden, die Städte waren unbedeutend, die alte soziale Führungsschicht, Domkapitel und Ritterschaft, hatte eine sittliche und wirtschaftliche Verelendung des Landvolkes verursacht. Für die Aufbauarbeit sollte dem Kammerpräsidenten nicht viel Zeit verbleiben, denn Napoleon war schon im Begriff, sein Imperium über die Mitte des Kontinents auszudehnen. Im Jahre 1806 wurde unter seinem Protektorat der Rheinbund gegründet, ein Vorgang, der nach Meinung Vinckes den preußischen Monarchen viel zu gleichgültig ließ. Die französische Okkupation und Eroberung Westfalens folgten der katastrophalen Niederlage Preußens in der Schlacht von Jena und Auerstedt (14.10.1806). Sie führte zu einem gravierenden Einschnitt in Vinckes Lebenslauf.


B III. Berufliche Wechseltagen in der Zeit der Fremdherrschaft und der preußischen Reformen (1806-1813)

Die durch den niederländischen König Ludwig, einen Bruder Napoleons, erfolgte Besitzergreifung in Westfalen führte zunächst nicht zu eklatanten Änderungen in der Organisation und personellen Besetzung der Verwaltung. Gebietlich wurde das Paderborner Land jetzt von Minden statt von Münster aus verwaltet. Aus der Kriegs- und Domänenkammer wurde ein Administrationskollegium, in dem Vincke für die Ressorts Finanzen und Polizei zuständig war. Er unterstand einem Generalgouverneur. Am 26.11.1806 wurden die bis dahin preußischen Beamten feierlich auf den französischen Kaiser vereidigt. Vincke machte keine Ausnahme, glaubte aber in rückblickenden Rechenschaftsberichten, die Unvermeidbarkeit der Eidesleistung im Interesse des preußischen Staates und der Provinzbevölkerung begründen zu müssen. Für den ehemaligen Kammerpräsidenten und jetzigen Vorsitzenden des Administrationskollegiums gehörte die kurze Zeitspanne, die er in französischem Dienst stand, gewiß zu den unangenehmsten Amtsperioden seines Lebens. Ihm oblag die undankbare Aufgabe, das ihm zur Verwaltung anvertraute Land im Interesse eines fremden Eroberers durch Requisitionen und hohe Kontributionen fiskalisch auszubeuten. Hinzu kam, daß sich die gespannten Beziehungen zum münsterländischen Adel nun zu einem feindseligen Klima verdichteten. Die Okkupation durch das katholische Frankreich war von vielen als Befreiung vom protestantischen Preußen begrüßt worden. Intrigen aus den eigenen Reihen, Mißtrauen des Generalgouverneurs gegenüber altpreußischen Beamten sowie konkrete Konflikte in Kontributionsfragen führten alsbald zum Bruch und zur Entlassung Vinckes am 30.03.1807. In der Tat rühmte sich dieser später, sich bemüht zu haben, Wertgegenstände nach Möglichkeit nicht in die Hände der Franzosen fallen zu lassen. Ein ähnliches Verhalten gestand er auch seinen Kollegen zu, so seinen Nachfolgern Merveldt in Münster und Rappard in Hamm. Ressentiments gegenüber den Exponenten des münsterländischen Katholizismus blieben jedoch, ungeachtet seiner Gerechtigkeitsliebe und Aussöhnungspolitik, aus dieser Zeit zurück.

Der stellenlose Beamte war in den folgenden Monaten von innerer und äußerer Unruhe erfüllt. Anfang April 1807 begab er sich nach Flamersheim bei Euskirchen, in das von Frankreich annektierte Rheinland, wo sein Bruder Ernst ein Gut bewirtschaftete. Die Verhältnisse auf dem linken Rheinufer mißfielen ihm: die hohen Löhne und niedrigen Kornpreise, das Kirchen- und Schulwesen, die drückende Konskription. Vinckes negative Eindrücke von der französischen Besatzungspolitik und von französischen Einrichtungen überhaupt, die sicherlich durch seinen abrupten Karriereknick gefärbt waren, ließen Widerstandspläne in ihm reifen. Deren Realisierung war das wichtigste Motiv seiner zweiten Englandreise, die er nach einem Besuch bei Karl vom Stein in Nassau Ende April antrat. Vom damals dänischen Tönning aus begab sich Ludwig Vincke Ende Mai mit einem Paketboot nach England, wo er vergeblich für eine Landung englischer Truppen in der Wesermündung warb. Während seines Aufenthaltes auf der Insel, der bis zum 12. August dauerte, erhielt er die Nachricht von den katastrophalen Ergebnissen des Friedens von Tilsit für Preußen, insbesondere der Abtretung allen Landes westlich der Elbe und der polnischen Gebietsteile. Wenn auch diese negative Entwicklung alle sonstigen Eindrücke in den Schatten stellte, versäumte es Vincke dennoch auch bei dieser Gelegenheit nicht, die englische Wirtschaft und Verwaltung eingehend zu studieren. Fasziniert war er auch während der zweiten Reise von der Einschränkung der Staatsgewalt zu Gunsten der Eigenaktivität und -verantwortlichkeit der Staatsbürger.

Über Holland kehrte der Englandreisende nach Westfalen zurück. Sein Vater weilte, als er zu Hause ankam, zur Huldigung des neuen französischen Landesherrn, Jérôme Bonaparte, mit einer dreißigköpfigen altständischen Delegation in Paris. Ernst Idel Jobst Vincke erwies dem politischen System seine Reverenz, mit dem Ludwig äußerlich und innerlich gebrochen hatte. Gern folgte der Sohn der Einladung Steins, nunmehr leitender Minister, nach Ostpreußen zu kommen. Über Berlin und Königsberg begab er sich im Oktober/November 1807 nach Memel, wo er vom Reformgeist der Immediatkommission sehr beeindruckt war. Stein, der die außerordentlich belastenden finanziellen Forderungen Frankreichs erfüllen wollte, um politische Bewegungsfreiheit zu erhalten, plante und organisierte den Verkauf staatlicher Domänen und beauftragte Vincke, an diesem Geschäft mitzuwirken. Als Käufer wurde insbesondere der depossedierte Kurfürst von Hessen umworben, doch eine Bittreise Vinckes, die nach Hamburg führte, war vergeblich. Während des Winters 1807/1808 wartete der Glücklose in seiner Heimat weitere Anweisungen der preußischen Regierung ab.

Anfang März 1808 begab sich Ludwig Vincke wieder auf die Reise nach Osten und blieb bis Oktober meist in Berlin und Umgebung, längere Zeit als Gast des Freundes ltzenplitz. Als - in preußischer Sicht - unverschuldet stellenlos gewordener Staatsdiener mit Bezügen aus seiner früheren Kammerpräsidententätigkeit entlohnt, steuerte er in dieser Zeit zu dem von Stein geleiteten Reformwerk eine Fülle von Gutachten bei, die sich mit Verwaltungsfragen im engsten und im weitesten Sinne befaßten. Seine Denkschriften fanden Anerkennung im Reformerkreis. Für seine spätere Karriere hatten sie gewiß eine förderliche Wirkung. Nicht nur, weil sie sein Interesse am Staatswohl in einer schweren Zeit zeigten, sondern ihn auch als qualifizierten Verwaltungsfachmann empfahlen. Schließlich bewirkte die Gutachtertätigkeit eine Klärung und Reifung der eigenen politisch-administrativen Zielvorstellungen.

Ludwig Vincke huldigte dem Ideal einer bürgernahen Verwaltung mit möglichst umfangreichen Mitwirkungsrechten durch Repräsentativorgane. Der herkömmlichen kollegialen Behördenverfassung gab er den Vorzug vor dem französischen Präfektursystem. In seiner Konzeption spielte das englische Modell eine maßgebliche Rolle. Ihm widmete er eine Abhandlung, die 1815 von dem Althistoriker und Finanzexperten des Reformerkreises Barthold Georg Niebuhr herausgegeben wurde "Darstellung der innern Verwaltung Großbritanniens". Das Ziel einer Freisetzung der sozialen und wirtschaftlichen Kräfte im Interesse von Staat und Gesellschaft, das gleichfalls Anstöße und Anregungen aus England aufnahm, ließ ihn eintreten für die Privatisierung staatlicher Domänen, für Gewerbefreiheit und die Beseitigung von Adelsprivilegien. 1808 befaßte er sich bereits mit der Frage einer Katasteranlage zum Zwecke einer gerechteren Besteuerung, die ihn später dann, als westfälischer Oberpräsident, noch einmal, durchaus nicht reibungsfrei, beschäftigen sollte.

Im Gegensatz zur Aufbruchstimmung, die für das Reformwerk kennzeichnend war, stand der bedrückende allgemeine politische Kontext. Die "Wiederbegründung" Preußens war, wie er seinem Tagebuch anvertraute, der "Inbegriff" all seiner Wünsche, sie sei im Interesse des "teutschen Vaterlandes" und der "ganzen Menschheit". [5] Die Bereitschaft zum Widerstand und das Ziel der Befreiung scheinen aus dem Bekenntnis durch. Mit Stein dürfte er in diesem Punkt, aber auch in der Beurteilung des Rheinbundes einer Meinung gewesen sein, die ein zusammenfassendes Gutachten vom 03.08.1808 erkennen läßt: "Ganz Deutschland, bis auf Preußen und Österreich, befindet sich jetzt im Stande der Knechtschaft und tiefsten Unterdrückung, gehorchend teils fremden, teils urdeutsch gewordenen Fürsten, die (...) ihre kümmerliche abhängige Existenz nur unter der Bedingung erbetteln, der Deutschheit gänzlich zu entsagen." [ 6] Das sich hier artikulierende deutsche Nationalbewußtsein war bei Vincke übrigens nach den Befreiungskriegen gänzlich verdeckt von der Identität als - preußischer - Westfale.

Im Oktober 1808 war Vincke wieder in Westfalen, wo er Unzufriedenheit mit dem neuen politischen System registrierte. In der Heimat erreichte ihn die Nachricht von der Entlassung Steins am 24.111808, die ihn sehr bewegte. Anfang Dezember machte er sich auf den Weg nach Königsberg. Diesmal sollte die Reise zu einem beruflichen Neueinstieg führen. Ende des Jahres trat die neue Verwaltungsorganisation in Kraft, die mit der Neubesetzung einiger Stellen verbunden war. Unter drei Oberpräsidenten, einer von Vincke heftig kritisierten Einrichtung, gab es jetzt Regierungen, die als Nachfolgebehörden der Kammern im Zuge einer strikten Gewaltenscheidung auf den rein administrativen Bereich beschränkt waren. Ludwig Vincke wurde von Innenminister Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu Dohna-Schlobitten sogleich die Position eines Regierungspräsidenten angetragen, er schlug aber vorerst ein solches Amt aus und übernahm eine Stelle in dem von Altenstein geleiteten Finanzministerium. In dieser Funktion verfaßte er einige Gutachten zu staatlichen Vermögens- und Steuerfragen. Er wandte sich gegen eine Abtretung Schlesiens zur Begleichung der von Frankreich auferlegten Kontribution und sprach sich stattdessen für die Verpfändung und den Verkauf von Domänen sowie für neue Steuern aus.

Ein Posten in seinem eigentlichen Metier, an der Spitze der Regionalverwaltung, ließ nicht lange auf sich warten. Als Nachfolger des ehemaligen Präsidenten der kurmärkischen Kammer erhielt er am 03.03.1809 die Ernennung zum Präsidenten der Nachfolgebehörde, der Regierung mit Sitz in Potsdam (anstelle Berlins). Sein Jahresgehalt betrug 5.100 Reichstaler. Der vorgesetzte Oberpräsident (gleichzeitig für Kurmark, Neumark und Pommern) war der aus Kleve stammende Johann August Sack. Vincke konnte die Zusammensetzung des Regierungskollegiums maßgeblich beeinflussen. Er bemühte sich insbesondere um die Anwerbung geschätzter westfälischer Beamte. So gelang ihm die Verpflichtung von Maassen als Direktor. Als weiterer Direktor fungierte sein alter Schulfreund Magnus Friedrich von Bassewitz, der spätere Oberpräsident der Provinz Brandenburg. Obwohl Vincke nunmehr wieder in Amt und Würden stand, war er persönlich höchst unzufrieden und bat schon nach wenigen Monaten um seine Entlassung. Den wiederholten Anträgen wurde schließlich zum 31.03.1810 stattgegeben, so daß er die auf zwei Jahre eingegangene Verpflichtung nicht einhielt.

Vinckes kritische Bewertung der politisch-sozialen Verhältnisse ging in verschiedene Richtungen. Sie bezog sich auf die angeblich von den bevorrechtigten Ständen heruntergewirtschaftete Kurmark, die schwächliche Außenpolitik des Staates, die Lethargie des Monarchen, die, wie er meinte, fehlerhafte Staatsorganisation an der Spitze (Ausbleiben eines Staatsrates) und in der Region (Überladen des Aufgabenbereiches der Regierungen, Nutzlosigkeit des Oberpräsidentenamtes), die ständischen Privilegien. Wenn er in Gutachten dieser Zeit gegen die Aufhebung der Zünfte und gegen die Separation der Bauerngüter Bedenken anmeldete, so werden Grenzen seiner liberalen Reformideen sichtbar. Doch läßt sich keine generelle Positionsveränderung feststellen, denn er trat als Regierungspräsident doch auch für eine Trennung von Justiz und Verwaltung auf der untersten Ebene und für eine Anpassung der Gemeindeverfassung an die Städteordnung ein. Zweifel und Unsicherheit veranlaßten ihn zum Rückzug ins Privatleben, ohne daß er die Gunst der Minister und des Königs verloren hätte.

In den Jahren 1808/1809 reifte der von den beiden Elternhäusern unterstützte Plan, Eleonore von Syberg zu ehelichen. Einen guten Monat, nachdem er Berlin verlassen hatte, im Mai 1810, fand die Hochzeit auf Haus Busch bei Hagen statt. Im Herbst 1810, nach einer dreimonatigen Hochzeitsreise, übernahm er das Gut Ickern zur Bewirtschaftung. Ein Jahr später wurde der Sohn Georg geboren, der sich als liberaler Parlamentarier, und zwei Jahre danach der Sohn Gisbert, der sich als Dichter und Schriftsteller einen Namen machen sollte. Seine Frau Eleonore starb bereits 1826, im Jahr darauf verheiratete er sich wieder mit Luise von Hohnhorst. Im März 1813 holte die große Politik den Privatmann Vincke ein. Während des Befreiungskrieges galt er den bedrängten Franzosen als potentieller Konspirateur. Er wurde zum Aufenthalt im Linksrheinischen, bei seinem Bruder Ernst in Flamersheim, verurteilt, von wo er erst im Juli zurückkehren durfte. Mit der Neuordnung Deutschlands nach den Befreiungskriegen fand dann sein dreijähriges Leben als "bloßer" Privatmann ein Ende - für immer.


B IV. Integrationsfigur an der Spitze der westfälischen Provinzialverwaltung (1813-1844)

Das Land, das die im Herbst 1813 gegen Frankreich vorrückenden alliierten Truppen unter ihre Kontrolle brachten, bedurfte einer sofortigen provisorischen Verwaltung. Zu diesem Zweck wurden Gouvernements mit einer militärischen und zivilen Doppelspitze eingerichtet. Für die Provinzen zwischen Weser und Rhein, im wesentlichen Westfalen und Ostfriesland umfassend, wurden Generalmajor Levin Karl von Heister (am 19.11.1813) und Ludwig von Vincke (am 21.11.1813) von der preußischen Regierung eingesetzt. Zunächst ergaben sich auch die Aufgaben des Zivilgouverneurs primär aus den aktuellen militärischen Notwendigkeiten: die Versorgung der durchmarschierenden Truppen, wobei die Kosaken und Schweden als besonders belastend empfunden wurden; die Durchführung von Requisitionen und, zusammen mit Kreisausschüssen, von Konskriptionen zur Ergänzung der preußischen Armee. Im Gegensatz zur Opferbereitschaft in den altpreußischen Provinzen stieß Vincke zu seinem großen Ärger besonders im Paderborner Land und im Münsterland auf eine Ablehnung seiner Anordnungen.

Eine Aufgabe des Zivilgouverneurs, die über die Kriegszeit hinausreichte, war die Mitwirkung an der territorialen Besitzergreifung bis hin zur definitiven Konstituierung des neuen Staatsgebietes. Dieser Vorgang zog sich bis zum Jahre 1816 hin. Die provisorische Inbesitznahme ging zunächst von den Territorialverhältnissen aus, wie sie vor der französischen Okkupation bestanden hatten. Eine konsequente Restauration erfolgte dann aber nicht. Im Rahmen der auf dem Wiener Kongreß getroffenen Vereinbarungen fielen, zum Leidwesen Vinckes, Ostfriesland, Lingen und Meppen an das Königreich Hannover; dafür wurde andererseits von Hessen-Darmstadt das ehemals kurkölnische Herzogtum Westfalen übernommen. Sogenannte "herrenlose" Länder wie die frühere Reichsstadt Dortmund unterstanden Steins Zentralverwaltungsdepartement. Vincke konnte in Absprache mit Stein einige dieser Gebiete, vor allem in Preußen gelegene Enklaven, seinem Gouvernement inkorporieren.

Dem Zivilgouverneur, der für die Finanz-, Justiz- und Polizeiverwaltung zuständig war, oblag, entsprechend den Weisungen der Regierung, die Einführung neuer oder die Übernahme der in französischer Zeit gültigen Institutionen. Im September 1814 lösten das Allgemeine Landrecht und im Januar 1815 die Allgemeine Gerichtsordung den Code Napoléon und den Code de procédure ab. Vorgänger der Oberlandesgerichte wurden im November 1814 eingeführt. Seit Juni 1814 war der Verwaltungssitz des Zivilgouverneurs das Schloß von Münster. Am 25.05.1815 erhielt er, vor Beendigung seiner Tätigkeit als Zivilgouverneur, die Ernennung zum Oberpräsidenten von Westfalen. Trotz des Vertrauensbeweises der Regierung war er - wieder einmal - mit vielem unzufrieden, so daß er sich mit Abschiedsplänen trug. Konflikte mit dem Militärgouverneur Heister eskalierten bis zu drohenden Duellen. Die Einrichtung des Oberpräsidentenamtes wie überhaupt die am 30.04.1815 eingeführte Verwaltungsorganisation erregten sein Mißfallen.

Ludwig Vincke kritisierte die konfessionell und sozial unausgewogene Besetzung der obersten Verwaltungsstellen, aufgrund der Evangelische, mit besonderer Bevorzugung von Adeligen, inmitten einer mehrheitlich katholischen Bevölkerung eine offensichtliche Präferenz erhielten. Die Einführung von Provinzialständen hielt er für dringend erforderlich. Am meisten verärgerte ihn aber die "Mündigkeitserklärung der mediatisierten Schufte", [7] der künftige Status der Standesherren, der Grafen von Bentheim-Steinfurt, der Herzöge von Aremberg, Looz und Croy, um nur einige zu nennen. Die standesherrlichen Besitzungen umfaßten in Westfalen immerhin 200.000 Einwohner, etwa ein Fünftel der Provinzbevölkerung. Ihre vom König im Juni 1815 gemäß der Bundesakte bestätigten Vorrechte bezogen sich auf die Steuerfreiheit, die Befreiung von der Militärpflicht, den Besitz von Hoheitsrechten im Finanz-, Justiz- und Polizeiwesen, Aufsichtsrechte in Kirchen- und Schulangelegenheiten. Der von der Vorstellung einer einheitlichen institutionellen Durchdringung der Provinz mit einer Rechtsgleichheit seiner Bewohner geleitete Oberpräsident legte sich mit den Bevorrechtigten und der Berliner Regierung an, mußte aber zurückstecken. Der Staatskanzler beauftragte einen Spezialkommissar beim Oberpräsidium mit der Regelung der standesherrlichen Verhältnisse. Ungeachtet aller Kritik an der Organisation und dem Wirkungsfeld seines Amtes blieb Ludwig Vincke rund drei Jahrzehnte der höchste Repräsentant in seiner Heimatprovinz, länger als er es selbst, vom Anfang her gesehen, vermutet hätte. 1817 wurde er darüber hinaus Mitglied des neugeschaffenen Staatsrats. 1825 erhielt er die Beförderung zum Wirklichen Geheimen Rat. An Ehrenbezeugungen aus Berlin fehlte es demnach nicht.

Ludwig Vincke war als Oberpräsident in Personalunion Präsident des Regierungsbezirks Münster, eine Koppelung, gegen die er vergeblich angekämpft hatte. Als Vizepräsident führte Johann Georg Julius von Schlechtendahl von 1818 bis 1833 die laufenden Geschäfte, während die beiden anderen Bezirke der Provinz Westfalen, Minden und Arnsberg, unter der Leitung von Regierungspräsidenten verwaltet wurden. Zwischen den beiden Behörden existierte kein streng hierarchisches Verhältnis. Eine Instruktion von 1817 verstärkte die Stellung des Oberpräsidenten, den Vincke gerne zu einer Art Provinzialminister mit einer Allzuständigkeit erhoben hätte. Von der Aufgabenverteilung auf Fachminister rückte Berlin aber nicht mehr ab. Wovon die Regierung jedoch zum Bedauern des Oberpräsidenten Abstand nahm, war die Einlösung des Verfassungsversprechens. Solange er lebte, trat er für eine Nationalrepräsentation ein, unbeschadet dessen, daß er die vom westfälischen Landtag im Jahre 1831 unter dem Eindruck der Julirevolution ausgegangene Petition an den König zur Gewährung einer Verfassung für unpassend hielt. Er qualifizierte sie als "Erguß der allgemeinen Aufregungen dieser Zeit" [8] unverständlicherweise ab.

Als Anhänger der Selbstverwaltungsidee trat Vincke für eine Vermehrung der Befugnisse der 1823 eingerichteten Provinzialstände ein. Das parlamentarische Leben sollte den politischen Bewußtseinsstand der Westfalen, den er kurz nach 1815 noch nicht für sehr ausgereift hielt, heben. In seinen Überlegungen zur sozialen Zusammensetzung des Vertretungsorgans zeigten sich konservative Elemente, wenn er den grundbesitzenden Adel als unentbehrliches Ferment für die Stabilität einer Verfassung, als "Gegengewicht" zu einem "oft verdienstlosen Geldbesitz", [9] wertete. Andererseits polemisierte er, in gleicher Weise übrigens wie seine Ehefrau Eleonore von Syberg, gegen den Adelsstolz und eine Bevorzugung des Militärs im preußischen Staat. Eine solche - zuweilen schwankende - Position zwischen Konservativismus und Liberalismus nahm Vincke wiederholt ein. Im ersten westfälischen Provinziallandtag von 1826 war der Adel zwar überproportional repräsentiert, aber stimmenmäßig doch in der Minderheit. Stimmberechtigte Mitglieder waren zwanzig adelige und bürgerliche Rittergutsbesitzer, elf standesherrliche Rittergutsbesitzer, zwanzig städtische Abgeordnete und zwanzig kleinere Grundbesitzer der Gemeinden. Gern hätte Vincke, der wie Hardenberg den Beamtenstand hochschätzte, auch dieser Gruppe das aktive und passive Wahlrecht zugestanden. So übernahm der höchste Provinzbeamte als königlicher Landtagskommissar die Aufgabe, die Verhandlungen der Provinzialstände inhaltlich zu gestalten. Einer der heftigsten Konflikte, in die er mit den Provinzialständen geriet, kam in der Frage der Anlage von Katastern in den westlichen Provinzen zustande. Der westfälische Landtag wehrte sich besonders gegen die auf die Provinz zukommenden Kosten der Landvermessung. Zum anderen befürchteten die adeligen Grundbesitzer eine steigende Steuerbelastung. Kein geringerer als Stein selbst, der Landtagsmarschall der ersten drei Ständeversammlungen, exponierte sich in diesem Streit, so daß sich das altbewährte gute Verhältnis zu Vincke, der Direktor der rheinisch-westfälischen Katasterkommission war, merklich abkühlte. Die Klagen des Paderborner Landadels, den der Oberpräsident seit je nicht schätzte, waren am lautesten. Nichtsdestotrotz konnte die preußische Verwaltung seit 1835 die Grundsteuern auf der Basis der neuen Kataster erheben.

Zwar wies die Landwirtschaft, immer noch der Haupterwerbszweig der Provinzbevölkerung, einen unterschiedlichen Entwicklungsstand auf - am rückständigsten war das ehemalige Fürstbistum Paderborn, das "preußische Irland" -, doch setzte sich der Oberpräsident generell für staatliche Förderungsmaßnahmen und private Initiativen ein. Das vielseitige Interesse, das er diesem Sektor seit Beginn seiner Verwaltungslaufbahn widmete, führte nicht nur zu einer genauen Beobachtung von Land und Leuten auf seinen häufigen Reisen durch die Provinz, sondern auch zu praktischen Schlußfolgerungen und Empfehlungen. Er bemühte sich um eine Ertragssteigerung durch Veredelung der Produkte, durch bessere Düngung des Bodens und nicht zuletzt durch eine Hebung des Ausbildungsstandes der Landwirte. Bereits 1808 war er Sekretär in einem von Albrecht Thaer in Möglin gegründeten Landwirtschaftlichen Verein. Als Oberpräsident versprach er sich viel von solchen Einrichtungen. Eine Zentralbehörde nach Art des britischen Board of Agriculture sollte in Berlin als Aufklärungszentrum wirken. Vom Staat erwartete er aber nicht nur pädagogische Hilfen, sondern auch materielle. Er kritisierte dessen bevorzugte Förderung der Fabrikindustrie.

Der westfälische Adel besaß insgesamt nur 10 % des Grund und Bodens, und seine soziale Macht war erheblich geringer als die der ostelbischen Junker. Dennoch lag Ludwig Vincke die Sicherung der bäuerlichen Existenz am Herzen. Er konnte es nicht verhindern, daß viele Bauernhöfe verkauft oder wegen Verschuldung aufgegeben wurden. Um den Bestand zu konservieren, stellte er sich gegen die Zerstückelung und freie Verkäuflichkeit von Bauernland und setzte sich für eine schnelle Allmendeteilung ein. Die Ablösung der mit unterschiedlichen Besitzrechten ausgestatteten westfälischen Bauern, die 1829 verordnet wurde, zog sich wegen eines resistenten Verhaltens der Gutsherren und wegen fehlender finanzieller Mittel der Abhängigen bis zur 1848er Revolution hin. Von einem Aufschwung der landwirtschaftlichen Produktion versprach sich Vincke auch eine Beschleunigung dieses Prozesses.

Der Staat förderte, so die Meinung des Oberpräsidenten, die Industrie mehr als die Landwirtschaft. In Wirklichkeit praktizierte die Regierung, einen wirtschaftlichen Liberalismus. Dem Grundsatz der Gewerbefreiheit folgend mischte sie sich so wenig wie möglich in das Wirtschaftsleben ein. Im Falle der einstigen Zunfthandwerke ging Vincke der Liberalismus sogar zu weit. Er machte 1829 den Innenminister darauf aufmerksam, daß infolge der Niederlassungsfreiheit wegen ungenügender Qualifikation, übergroßer Konkurrenz und Geldknappheit der Gewerbetreibenden schlechte Waren produziert wurden. Wie schon als Potsdamer Regierungspräsident trat er für ein reformiertes Zunftsystem ein, fand jedoch mit der zeitlich überholten Vorstellung kein Gehör. Andererseits unterstützte er die Forderung des Unternehmers Friedrich Harkort, eines Pioniers der westfälischen Eisen- und Stahlindustrie, die staatliche Bevormundung im Bergbau zu verringern und für eine Senkung des Kohlepreises zu sorgen. Die Kohleförderung, die im lndustrialisierungsprozeß eine Schlüsselrolle spielte, erhöhte sich von 1830 bis 1840 von einer halben auf eine ganze Million Tonnen. Von flankierenden Maßnahmen zum Schutz der Industrie, etwa durch protektionistische Zölle, machte die Berliner Regierung, solange Vincke lebte, allenfalls sparsamen Gebrauch. Das Zollgesetz vom Mai 1818 sah gleiche Tarife für alle Provinzen vor. Roheisen konnte zollfrei eingeführt werden, für Eisenprodukte waren niedrige Zölle zu entrichten. Schon früh konnten Eisenwaren aus Solingen, Remscheid und Iserlohn gegen die überaus starke englische Konkurrenz auf Auslandsmärkten antreten. Staaten wie Frankreich und die Niederlande aber schlossen sich durch hohe Einfuhrzölle nach außen ab. Hart war z.B. die westmünsterländische Textilindustrie getroffen, als die Niederlande im Jahre 1826 einen Zoll von 44% auf alle Webwaren erhoben. Starke aus- und inländische Konkurrenz, Bevölkerungszunahme und soziale Not der Unterschichten förderten die Kinderarbeit. Es gab diese besonders in der Kleineisenfabrikation und in der bergisch-märkischen Textilindustrie. Eine Verbesserung der Lage erwartete Vincke, auf eine entsprechende Anfrage des Staatskanzlers Hardenberg im Jahre 1817 hin, von gesetzlichen Bestimmungen. Ein Regulativ in dieser Sache wurde erst 1839 verabschiedet und leitete immerhin sozialstaatliche Interventionen in die neue Welt der Fabrikarbeit ein.

Ein wichtiges, für die wirtschaftliche Erschließung und Entwicklung bedeutendes Aufgabenfeld der Provinzialverwaltung war die Verbesserung der Verkehrsbedingungen. Der Chausseebau stand in der ersten Jahrhunderthälfte noch an erster Stelle, waren doch die Frachtwagen für die täglichen Verbrauchsgüter bis etwa 1850 weiterhin das am meisten in Anspruch genommene Transportmittel. 1825 berichtete der westfälische Oberpräsident, daß im Regierungsbezirk Arnsberg 109, in Minden 30 und in Münster 19 Meilen Kunststraßen angelegt worden seien. Sofern diese die Bezirksgrenzen überschritten, lagen die Koordinationsaufgaben bei ihm, ansonsten bei den Regierungen. Die Zahlen spiegeln den unterschiedlichen Stand des Wegebaues in der Provinz. Im Regierungsbezirk Arnsberg, und zwar im ehemals kurkölnischen Westfalen und in den Wittgensteiner Grafschaften, bestand der größte Nachholbedarf. Für den Transport von Massengütern war der Ausbau der Schiffahrtswege voranzutreiben. Über die schiffbar gemachte Ruhr konnte man die niederländischen Seehäfen erreichen. Vincke ließ es sich nicht nehmen, durch eine Teilnahme an der jährlichen Ruhr- und Lippebereisung sein Interesse an diesen Verkehrsverbindungen zu bekunden. Dem Eisenbahnbau stand er am Ende seines Lebens aufgeschlossen gegenüber. Ende der 1830er Jahre war er an der Planung der Köln-Mindener- und der Bergisch-Märkischen Bahnlinie beteiligt.

Als Oberpräsident leitete Ludwig Vincke das Provinzialschulkollegium. Die Normal- oder Volksschulen waren, obwohl es in Preußen seit 1763 eine allgemeine Schulpflicht gab, in einem schlechten Zustand. Vincke verbesserte sowohl die baulichen Voraussetzungen als auch die Lehrerausbildung. 1825 wurde in Büren für die katholischen Lehrer ein eigenes Seminar eröffnet, während die evangelischen seit 1805 in Soest eine Ausbildungseinrichtung besaßen. 1826 gab es in der ganzen Provinz nur neun Gymnasien mit insgesamt 1.763 Schülern, davon hatte das Paulinum in Münster allein 500. Der Oberpräsident klagte über einen Lehrermangel an den katholischen höheren Schulen und führte ihn auf den Verfall des gelehrten Studiums während der Fremdherrschaft zurück. Sein Interesse galt jedoch nicht nur den "klassischen" Schulformen, sondern auch Gewerbeschulen, in denen Volksschulabsolventen ihre Ausbildung berufsbezogen weiterführen konnten, oder, bezeichnend für sein soziales Engagement, der Münsteraner Taubstummenanstalt sowie den Erziehungsanstalten der Provinz. Eine Universität beherbergte Westfalen aber seit 1818 nicht mehr. Die Berliner Regierung hatte sich für Bonn gegen die Westfalenmetropole erklärt. In Münster blieben eine Theologisch-Philosophische Akademie mit immerhin 415 und eine Chirurgenschule mit 53 Studenten. Vincke sorgte für eine gute Ausstattung der "Minderuniversität" mit Lehrkräften.

Auf allen genannten Gebieten hatte der Oberpräsident eine Entwicklungs- und Integrationsarbeit zu leisten. Die evangelische Kirche war ihm über das Konsistorium administrativ unterstellt. Hier unterstützte er die synodalen Verfassungsziele der westlichen Kirchengemeinden gegen das von Berlin präferierte obrigkeitlich-konsistoriale System. Der adäquate Umgang mit der katholischen Bevölkerung und Kirche gehörte zu seinen schwierigsten Aufgaben. Tolerant in Konfessionsfragen war er jedoch ein Gegner des Klerikalismus und Befürworter einer Zurückdrängung der Kirche aus staatlichen Bereichen wie etwa dem Schulwesen. Er bemühte sich um eine Eindämmung von Konflikten zwischen Staat und katholischer Kirche, insbesondere während der "Kölner Wirren", wo er sich für die Freilassung seines alten Opponenten aus der Münsteraner Zeit, des Erzbischofs Clemens August Freiherr von Droste zu Vischering, aus der Festungshaft einsetzte.


C. Gesamtwürdigung

Als Ludwig Freiherr von Vincke am 2. Dezember 1844 mit 70 Jahren, immer noch in Amt und Würden stehend, in Münster verstarb, konnte er auf eine Verwaltungspraxis von mehr als einem halben Jahrhundert zurückblicken, davon über die Hälfte an der Spitze der Provinz Westfalen. In einer Gesamtwürdigung ist vor allem sein Amtsverständnis herauszustellen. Er verstand sich nicht als ein bloßes Instrument der Exekutive, sondern als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft. Insofern war er ein politischer Beamter im Sinne von Max Weber. Nur durch dieses Selbstverständnis war es möglich, die große Aufgabe der Verschmelzung von Provinz und Staat, der Integration fremder Gebietsteile mit einer unterschiedlichen Konfessionszugehörigkeit seiner Bevölkerung zu erreichen. Gleichzeitig war in seiner Lebensepoche durch praktische Verwaltungstätigkeit die Transformation der altständischen in die bürgerliche Gesellschaft vorzunehmen. Er besaß das intellektuelle Potential eines Reformers, mit dem Willen, die Wirklichkeit an normative Zielvorstellungen anzunähern, sei es auch nur im provinziellen Rahmen, dessen Eigentümlichkeit dann gegen zentralistische Bestrebungen des preußischen Staates verteidigt wurde. Zu Hilfe kamen ihm dabei Charaktereigenschaften wie Pflichtbewußtsein, Fleiß, Offenheit und Gerechtigkeitsliebe. Vincke wollte als Erlanger Student sein Leben in den Dienst der westfälischen Heimat stellen: Er hat dieses Ziel erfolgreich verwirklicht.


[1] Aus den Denkwürdigkeiten des preußischen Generals Eduard von Fransecky zit. nach Siegfried Bahne, Die Freiherren Ludwig und Georg Vincke im Vormärz (= Monographien zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark Bd. 5), Dortmund 1975, S. 9f.
[2] Das vielzitierte Bekenntnis ist unter anderem veröffentlicht bei Heinrich Kochendörffer, Vincke. Erster Teil (1774-1807), Soest 1932, S. 42f. Vgl. den Wortlaut unter Bild 2  Medien.
[3] Zit. nach Ludger Graf von Westphalen, Der junge Vincke (1774-1809). Die erste Lebenshälfte des westfälischen Oberpräsidenten Ludwig Freiherrn Vincke, Münster 1987, S. 35.
[4] Vincke an Frau von ltzenplitz, zit. nach Heinrich Kochendörffer, Vincke. Erster Teil (1774-1807), Soest 1932, S. 115.
[5] Zit. nach Westphalen, Der junge Vincke (1774-1809). Die erste Lebenshälfte des westfälischen Oberpräsidenten Ludwig Freiherrn Vincke, Münster 1987, S. 77.
[6] Ludwig Vincke, Zwecke und Mittel der preußischen Staatsverwaltung, welche dieselbe verfolgen, deren dieselbe sich bedienen dürfte, Berlin, 03.08.1808, in: Heinrich Scheel (Hrsg.), Doris Schmidt (Bearb.), Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08, 3 Bde., Berlin 1967-1969, Bd. III, S. 704-717; hier S. 717.
[7] Vincke an Hardenberg, 1815, zit. nach Heinrich Kochendörffer, Vincke. Zweiter Teil (1807-1816), Soest 1933, S. 155.
[8] Vincke an Prinz Wilhelm, 21.1.1831, zit. nach Siegfried Bahne, Die Freiherren Ludwig und Georg Vincke im Vormärz (= Monographien zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark Bd. 5), Dortmund 1975, S. 29.
[9] Vincke an Hardenberg, 1818, zit. ebd. S. 24.




Westfalen im Bild, Reihe: Persönlichkeiten aus Westfalen, Heft 10