"Westfalen im Bild" - Texte

Könenkamp, Wolf-Dieter
Bauernfamilie und Gesinde
Soziale Ordnung und Arbeitsteilung auf westfälischen Bauernhöfen um 1800
2. Aufl., Münster, 1989



Einführung:

Das "Ganze Haus"

1855 verwendete der Kulturhistoriker W. H. Riehl in seiner Schrift "Die deutsche Familie" den Begriff "Das ganze Haus". Er beschrieb damit den Personenkreis, der gemeinsam in einem Hause, auf einem Bauernhof lebte und arbeitete. Schon damals bedeutete diese Formulierung freilich einen Rückgriff auf die Vergangenheit, denn, so Riehl, die moderne Zeit kenne nicht mehr "den freundlichen, gemütlichen Begriff des ganzen Hauses". Längst hatte sich nämlich (seit dem 18. Jahrhundert) das Wort "Familie" für das frühere "Haus" eingebürgert; diese "Familie" konnte damals noch Eltern, Kinder (die Kernfamilie), dazu eventuell die Großeltern (Dreigenerationenfamilie), unter dem selben Dach lebende unverheiratete Verwandte, Onkel, Tante, Geschwister (Großfamilie) umfassen. Dazu zählte man auch das auf dem Hof beschäftigte Gesinde, auf großen Höfen bis zu fünf Knechten und ebensovielen Mägden. Der konservative Autor Riehl hatte das Wort vom "Ganzen Haus" mit Bedacht gewählt. Er setzte es gegen den sozialen Wandel seiner Zeit, den Trend zur Kernfamilie und andere Individualisierungstendenzen. All dem stellte er sein "Idyll vom deutschen Hause" entgegen (seine eigenen Worte). Er beschwor den patriarchalisch gegliederten Großhaushalt der Vergangenheit, betonte Verwandtschaftsbeziehungen, setzte die Unterordnung persönlicher Gefühle unter ein Gemeinwohl gegen die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und die schlimmen Folgen des Autoritätsverlustes gegen das stabile Regiment des Hausvaters.

Riehls verklärende Beschreibung des "Ganzen Hauses" hat recht weite Kreise gezogen; er war ein vielgelesener Autor und seine wissenschaftlichen Einflüsse reichen bis in die Gegenwart. Da er in seiner Schilderung etwa den Beginn des 19. Jahrhunderts meint, liegt es nahe, sein "Idyll" an Aussagen von Autoren vor allem jener Zeit zu messen. Zum Bilde von Riehls "Ganzem Hause" gehört die Dreigenerationenfamilie. Sie stellt er als die Durchschnittsfamilie der Vergangenheit hin. Demgegenüber gilt für Mitteleuropa vom 16. bis zum 19. Jahrhundert allerdings eine durchschnittliche Personenzahl von 4,75 Personen pro (Kern-)familie (heute: 3,04 Personen); als "Großfamilie" kann man diese Verhältnisse gewiß nicht bezeichnen. Ihr Vorkommen im Einzelfall wird deshalb nicht ausgeschlossen. Für den engeren Raum Westfalen läßt sich die Familiengröße für einen Teil des Fürstentums Minden angeben; hier war beispielsweise die durchschnittliche Personenzahl pro Familie 4,9 (1806); in einem anderen Teil desselben Territoriums betrug sie 5,04 Personen. Beide Zahlen entsprechen in etwa der mitteleuropäischen Ziffer und lassen wenig Raum für drei Generationen. Immerhin muß man davon ausgehen, daß da, wo Haus und Hof von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden, grundsätzlich auch ein Zusammenleben der alten mit der jungen Generation möglich war. Die Frage ist nur, ob die zeitliche Ausdehnung dieses Zusammenlebens so beträchtlich war, daß man die Dreigenerationenfamilie als repräsentativ ansehen kann. Einfache demographische Überlegungen lassen daran zweifeln. Liegt nämlich das durchschnittliche Sterbealter eines Hofbesitzers zwischen 55 und 60 Jahren (wie um 1800) und das Heiratsalter des Hoferben bei 25 bis 30 Jahren, so war die Aussicht daß der Großvater seinen Enkel noch erlebte, wenig wahrscheinlich, sondern setzte Umstände voraus, die angesichts hoher Kindersterblichkeit nicht die Regel gewesen sein dürften. Sowohl der älteste Sohn der Altgeneration (und spätere Hoferbe) wie auch dessen erstes Kind nach Hofübernahme und damit verbundener Hochzeit müssen überlebt haben, um die Dreigenerationenfamilie überhaupt zu ermöglichen.

Wenn in der Landesbeschreibung von Holsche (1788) für große Höfe in Tecklenburg eine Bewohnerzahl von 12-16 Personen angegeben wird (etwa 8 Personen Gesinde eingeschlossen), dann bezeichnet diese Zahl wohl das Maximum eines "Ganzen Hauses" und die geringe Wahrscheinlichkeit einer Dreigenerationen- bzw. Großfamilie. Nur wo Höfe an relativ junge Leute übergeben wurden und die alten selbst noch in den besten Jahren standen, konnte es zu Konstellationen kommen, die für eine Dreigenerationenfamilie günstig waren - dem aber standen wirtschaftliche Überlegungen und Probleme des Sozialstatus der Alten entgegen.

Die Familienverhältnisse wurden durch weitere Faktoren beeinflußt. Durch die große Sterblichkeit der Frauen im Kindbett kam es häufig zu Mehrfachheiraten der Männer und damit zur Existenz von Halbgeschwistern. Überlebte dann eine relativ junge Frau den Altbauern, war es nicht seiten, daß im Falle ihrer Wiederverheiratung der Hoferbe mit den Altenteilern nicht mehr (bluts-)verwandt war - Umstände, die dem Klima des Zusammenlebens nicht eben förderlich waren und sich oft genug in Konflikten niederschlugen (Erbstreitigkeiten). Das harmonisch mit seinen Eltern und alleinstehenden Geschwistern nebst zahlreichen Kindern auf einem Hofe lebende Bauernpaar, wie Riehl es zeichnet, darf also getrost als Wunschbild bezeichnet werden. Die Stabilität der tatsächlichen Verhältnisse wurde nicht durch Harmonie, sondern durch Hierarchie erreicht.


Das ganze Haus - im Blick

Diese Hierarchie drückte sich im alltäglichen Leben in festgefügten Ordnungen und - wenigstens im Hause - in dauernder Aufsicht und Verhaltenskontrolle aus.

Noch tief im 18. Jahrhundert - aber schon in verklärender Form - beschrieb der Osnabrücker Staatsmann und Geschichtsschreiber Justus Möser die Generalkontrolle übers "Ganze Haus" als einen Vorzug des niederdeutschen Hallenhauses, der die Ökonomie so recht eigentlich zusammenhielt. Diese umfassende Kontrolle übte die Hausfrau am Tage vom Herdfeuer aus, von wo sie die ganze Hauswirtschaft übersehen konnte, und bei Nacht von ihrem günstig stehenden Bett aus, so daß sich kein Gesinde heimlich heraus- oder hereinzuschleichen vermochte. Möser beschrieb diese Situation deshalb so positiv, weil damals die ersten Trennwände zwischen Wirtschafts- und Wohnteil der Hallenhäuser eingezogen wurden; er unterstellte als Folge dieses Umbaus schlichtweg den wirtschaftlichen und moralischen Niedergang des Hofes und seiner Bewohner. Nun gab es reichlich andere Bauernhausformen in Deutschland, die eine so umfassende Kontrolle nie gewährten und dennoch kein schlechteres Wirtschaften ermöglichten als etwa die Bauten in Westfalen. Es ist also die Einschränkung der Kontrolle bzw. des Patriarchalischen gewesen, die damals Anstoß erregt hat. So war es auch kein Zufall, wenn Riehl in seiner Hymne auf das "Ganze Haus" die Möser'sche Beschreibung als Beleg für die Vorzüge der totalen Aufsicht heranzog und als "ein herrliches Muster altpatriarchalischer Einrichtung" hinstellte: "Wo der Bruder die Ehren des Hauses in des Bruders Dienst zu mehren sucht, wo die Hausfrau in der großen Wohnhalle hinter dem Herde thront" (... ), "wo der Speisetisch zur Seite des Herdes steht, herrscht der Bauer und die Bäuerin." Diese einseitig positive Würdigung des Hallenhauses wäre nicht erwähnenswert, wenn sie nicht in den Jahrzehnten danach, bis in die Gegenwart, immer wieder verbreitet worden wäre und selbst in die Schullesebücher Eingang gefunden hätte. Zutreffend bezeichnet der Rechtshistoriker K. Kroeschell die Autoren Möser und Riehl als die Anfangspunkte einer Linie, die zur "Haus- und Herdflammen-Mystik" führte.

Die Verklärung änderte freilich nichts an der realen Situation im Hallenhaus. Was der Grundriß, die offene Halle, möglich machte, wurde durch kleine bauliche Einrichtungen genutzt - das Resultat war tatsächlich die umfassende Übersicht und Aufsicht. Der nüchterne Agronom Schwerz schildert das westfälische Hallenhaus zu Beginn des 19. Jahrhunderts so: "Das Gesinde schläft gewöhnlich über diesen Letzteren (den Ställen), und der Wirth in einer Art von erhöheter Bude, woraus er zugleich den Heerd seiner Küche, sein Vieh, seine Tenne und die Schlafkammern seines Gesindes übersehen kann." In fester Ordnung verliefen auch die Mahlzeiten; kaum sonst zeigte sich die auf dem Hof herrschende Hierarchie so ausgeprägt wie in der Plazierung der einzelnen am gemeinsamen Eßtisch - entsprechend der Rangfolge vom Bauern bis zum Kuhwicht. Was bei Möser "Aufsicht" hieß, ist bei Riehl zur "Herrschaft" geworden; beide Begriffe jedoch beschreiben tragende Elemente des Zusammenlebens im niederdeutschen Hallenhaus, beide bedingen einander.


Der Bauer

An der Spitze der Hof-Hierarchie stand der Bauer. Mit der Eheschließung hatte er das Recht erworben, den ererbten Hof zu führen. Das galt ebenso für den Fall der Einheirat, denn das herrschende Rechtsprinzip der Gütergemeinschaft räumte dem Ehemann die ausschließliche Verwaltung des gemeinsamen Vermögens ein. Bei wichtigen Entscheidungen wie Anschaffungen, Viehverkauf oder Gesindemiete konnte der Bauer also allein bestimmen, die Meinung seiner Frau brauchte er nicht einzuholen. Die preußische Gesindeordnung von 1810 bestimmt sogar ausdrücklich, daß es dem Manne zukommt, "das nöthige Gesinde zum Gebrauch der Familie zu miethen". Im Rahmen der Beschränkungen, die ihm seine Abhängigkeit vom adeligen oder kirchlichen Grundherrn auferlegte (Dienst, Abgaben, Verbot der Kreditaufnahme und des Verkaufs von Ländereien z.B.), konnte sich der Bauer wie ein König fühlen: Er bestimmte unumschränkt über Familie und Gesinde! Eine wohl nicht unzutreffende Beschreibung eines solchen "Königs" gibt die Erzählung "Der Oberhof" von Karl Immermann aus dem 19. Jahrhundert. Auch das ländliche Brauchtum trug dieser Situation Rechnung. Für Lippe schildert von Cölln 1784: "Bey der Trauung behauptet der Bräutigam mit dem strengsten Ernst seinen obersten Platz und leidet nicht, daß die Braut ihre Hand auf die seinige lege; sondern es heißt: Mannshand oben." Dafür mußte der Bräutigam während der Hochzeit bedienen; von Cölln: "Doch das dauert nur einen Tag". Es war auch Sache des Bauern, den Hof nach außen zu vertreten, insbesondere in der Gemeinde unter den vollberechtigten Dorfgenossen. Ihm kam die "repräsentative Autorität" (Schelsky) zu, er verkörperte den Hof. Wenn jemand den Hof verließ, um "draußen" in der nächsten Stadt z.B., auf dem Markt etwa, Geschäfte zu erledigen, um Vieh zu kaufen oder zu verkaufen, so war es der Bauer. Er war mobiler als seine Frau, sein Aktionsradius war weiter. Das drückte sich schon in seinem "Zuständigkeitsbereich" aus: Seine Aufgabe war es, die Außenarbeiten auf dem Feld, im Wald und auf der Weide zu organisieren, ferner ihre Ausführung zu überwachen, weniger selbst mitzuarbeiten.


Die Frau des Bauern

Die Vorrechte der Bäuerin standen in der Rangfolge unter denen des Hofherrn, ohne daß dies Art und Umfang ihrer Pflichten verringerte: "ln der Last der Arbeit steht die Bäuerin dem Bauern gleich; in der Zucht des Hauses ist sie ihm am gründlichsten untertan" Hier ist Riehl einmal recht zu geben. Zwar kam der Bäuerin die zweite Stelle auf dem Hof zu, wenigstens solange der Erbe noch nicht herangewachsen war, gleichwohl war sie als Ehefrau aber durch die Verantwortung für die Kinder und in der religiösen und von der herrschenden Sitte getragenen Bindung mehr in der Pflicht als jedes andere Familienmitglied.

Die Frau war gewissermaßen der Innenminister des Hofes. Ihr oblag die Haushaltsführung, sie war für Stallvieh und Geflügel verantwortlich, kümmerte sich um den Hausfleiß (Spinnen, Weben), beaufsichtigte das Haushaltsgesinde, pflegte den Garten, betrieb den Eier- und Butterhandel und sorgte für Nahrungszubereitung und -bevorratung. Nicht zuletzt gehörte die Reinlichkeit von Haus und Wäsche zu ihrem Aufgabenbereich.

Die Arbeitsteilung zwischen Bauer und Bäuerin ist repräsentativ für die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern auf dem Hof, für die zwischen Knechten und Mägden, ebenso wie für die zwischen den heranwachsenden Söhnen und Töchtern. Plausible Gründe dafür sind nicht leicht auszumachen. Am ehesten überzeugt noch der Umstand, daß Frauen durch Schwangerschaft und Kleinkinderaufzucht eher an den Herd gefesselt waren (bzw. sind) und sich daran auch die Rolle der Mägde und Töchter ausrichtete. Frauen waren also letztlich aus diesem Grund in der Regel nicht hinter dem Pflug anzutreffen. Dieser Deutungsversuch reicht aber nicht aus, um zu erklären, warum andererseits Bauern, Knechte und Söhne nicht an der Waschbütte standen oder die Suppe rührten, obwohl sie dazu körperlich jederzeit in der Lage waren.

Noch einmal von Cölln, der einen eigenartigen lippischen Brauch erwähnt, der sehr plastisch die räumlichen Beschränkungen der Bauersfrau symbolisiert (nach der Trauung darf die Braut den Hof nicht durch das Tor, sondern nur durch die Hecke oder über einen niedergelegten Zaun betreten): "Das soll die Braut erinnern, daß sie hübsch zu Hause bleiben und nicht viel auslaufen soll."


Alleinstehende Geschwister des Bauern

In Westfalen galt das Anerbenrecht; es erbte nur ein Kind, in der Regel ein Sohn oder wenn keiner vorhanden, eine Tochter, Welcher Sohn erbte, war landschaftlich unterschiedlich geregelt; im Münsterland erbte der jüngste, in Lippe i. allg. der älteste Sohn den Hof. Den nichterbenden Geschwistern blieb die "Wahl", auf dem Hof zu bleiben und dem Bruder Gesindedienst zu leisten oder sich als Heuerling oder Handwerker "auf eigene Hand" zu setzen. Zwar erhielten die vom Hof gehenden Geschwister im Falle der Verheiratung einen Brautschatz auf Kosten des Hofes (in der Regel wurden sie auch aus der Eigenbehörigkeit freigekauft und waren damit "frei"), aber der Umfang des Brautschatzes war nicht ins Belieben des Erben gestellt; die Grundherren hatten ein verständliches Interesse an leistungsfähigen, möglichst gering belasteten Höfen. So war der Erbe allemal privilegiert. Man darf also davon ausgehen, daß Ohm und Möhne (Onkel und Tante) nicht selten Teil der bäuerlichen Lebens- und insbesondere Arbeitsverhältnisse waren. Diese zur dauernden Ehelosigkeit bestimmten Familienangehörigen waren aber oft durch kleine oder größere Privilegien über das normale, nicht zur engeren Familie zählende Gesinde gestellt. Das mochte sich in besseren Quartieren auf der "Familienseite" des Hauses ausdrücken oder in Nutzungsrechten am Boden.


Die Kinder - Erben oder Nichterben

Die Kinder waren in die Familienhierarchie integriert. Zwar brauchten die Söhne und Töchter eines Bauern nicht zu arbeiten wie die Kinder eines Heuerlings, die für ihn billige Arbeitskräfte darstellten, aber sobald ihr Alter es zuließ, nahmen sie doch Anteil an den Arbeiten des Hauses. So wuchsen die Kleinen in die Rollen hinein, die sie als Erwachsene einmal ausfüllen mußten oder durften: Knecht und Magd, Bauer oder Bäuerin - eine Handlungsalternative wurde nicht geboten.

Der Staat kam den Bedürfnissen der Wirtschaft, soweit sie die Kinder-Mitarbeit betrafen, ein beträchtliches Stück entgegen; die Schulordnung für das Paderborner Land (1788) formuliert es deutlich: "Da in den Monaten, in welchen überhäufte Land- und Feldgeschäfte vorfallen, nämlich April, May, August, September und October die Kinder oft nicht füglich entbehrt werden können, so dörfen sie, in so ferne sie schon in etwa erwachsen, und über 10 Jahre alt sind, in besagten Monaten nach Erforderniß der Eltern zu Haus behalten werden ..." (nach Rücksprache mit dem Pfarrer auch während Juni und Juli, also 7 Monate lang!). Die Kinder wuchsen aber nicht nur in die Arbeitsrolle ihres Geschlechts, sondern auch in die privilegierte des Hoferben oder die minderprivilegierte des/der Nichterbenden hinein. Die überlieferte Lebensgeschichte des Münsteraner Bauernsohnes Philip Richter aus dem frühen 19. Jahrhundert liefert die Indizien dafür. Die Dienstboten strickten abends, nur Richter brauchte nicht einmal spinnen zu lernen, da er "Bauernsohn war, also später einmal den Hof erben werde". Solche Söhne mußten auch nicht als Knechte dienen; Richter hat zwar mit 12/13 Jahren Schweine gehütet ,aber die "Knechtskarriere" blieb ihm erspart bis auf ein Jahr (mit ca. 20-23 Jahren), in dem er als "Kostgänger", wie er schreibt, schwere Arbeit verrichtet hat. Dann aber lebte er wieder bei den Eltern und war mit 30 Jahren Eigentümer eines eigenen Hofes. Brachte das Dasein als Erbe Privilegien, so brachte es doch auch besondere Pflichten. Die Aussichten auf den Hof waren Hauptmotiv für den Gehorsam des Erben, denn auch er konnte ja nur eine Familie gründen, wenn er zuvor den Hof übernommen hatte. Beides fiel auch zeitlich zusammen. Das vielberufene "Ganze Haus" Riehls ist zwar in der Produktion eine Einheit gewesen, aber in seiner Struktur wies es doch tiefe objektive Statusunterschiede auf - gerade wenn man einmal die Lage der nichterbenden Kinder im Vergleich zum Erben betrachtet. Der Unterschied zwischen dem Sohn, der einmal den Hof übernahm, und seinen Geschwistern war von der Lebensperspektive her viel größer als der zwischen seinen Geschwistern und all den Fremden, die als Gesinde auf dem Hofe arbeiteten. Die Erbsitten waren somit von weitreichender Bedeutung für die gesamte ländliche Sozialstruktur. Zum einen wurde die Einheit und Fortdauer des Hofes über die persönlichen Ansprüche der Miterben gestellt. Das hatte seine Konsequenzen auf die innerfamiliären Beziehungen; schon vor dem Erbfall - der Hofübernahme - entstand eine Hierarchie unter den Geschwistern. Zum anderen hatten die "Erben" (d.h. im Wortsinne: die Hofeigentümer!) das Sagen in der ländlichen Gemeinde Westfalens, den "Nichterben" kam so eine untergeordnete Stellung zu.


Die Altenteiler

Der Aufenthalt der Alten ist nach Übernahme des Hofes durch den Anerben die Leibzucht. Der Begriff meint ursprünglich "Lebensunterhalt" und ist dann auch auf das Gebäude, in dem die Alten ihren Lebensabend verbrachten, übertragen worden. In Ostwestfalen und im Osnabrückischen bezogen die Altenteiler seit dem 16. Jahrhundert in der Regel ein eigenes Wohn- und Wirtschaftshaus, im Münsterland blieben sie meist unter demselben Dach wohnen. So erzählt der Münsterländer Bauer Richter, wie er als Kind bei seinem Großvater schlief. Der Umfang der Leibzucht, also alles, was der Hoferbe an Einrichtungsgegenständen, Vieh-, Garten- und Ackerland, Arbeitshilfe usw. zur Verfügung stellen mußte, wurde zwischen den Generationen in Form eines Vertrages festgehalten. 1804 wird in Lippe sogar empfohlen, "um Processe abzuwenden", die Ausstattung der Leibzucht schon im Ehevertrag des Erben festzuhalten. Offensichtlich waren also Streitigkeiten nicht selten; beide Seiten suchten wohl gelegentlich, sich Vorteile zu verschaffen. Verständlicherweise bestanden die Alten auf Sicherheit, denn wenn es das Unglück wollte, hatten sie es statt mit dem Sohn bald nur noch mit der Schwiegertochter und deren zweitem Manne zu tun. Da galt es vorzubeugen. Die Gefahr des Streites war besonders groß, wenn die Generationen unter einem Dach wohnten. Immerhin mußte ja der Altbauer seine Position als unangefochtener "Herrscher" räumen. Um derartige Prozesse zu vermeiden, wurden auch solche scheinbar kleinlichen Regelungen vertraglich festgelegt, wie z.B. das Vorrecht der Alten unmittelbar am Herdfeuer sitzen zu dürfen. So etwas erklärt sich nicht nur aus der Wohnweise im Hallenhaus, sondern eben auch aus der Furcht vor Übervorteilung. Die behauptete Harmonie des "Ganzen Hauses" deckt letztlich nur Interessengegensätze zu, die oft genug auch vor Gericht ausgetragen wurden.

Auf der anderen Seite stellte der Aufwand für eine gut ausgestattete Leibzucht auch eine wirtschaftliche Belastung für den Hof dar Aus dieser Einsicht heraus bestimmte die Eigentumsordnung für Minden und Ravensberg von 1741, daß den Bauern nicht erlaubt werden sollte, auf die Leibzucht zu gehen, so lange sie ihren Höfen vorstehen konnten. Bei Gebrechlichkeit mußten die Grundherren die Genehmigung erteilen. Selbst wenn diese staatliche Verordnung nicht die historische Realität wiedergibt, so weist sie doch auf die Belastung der Höfe durch die Leibzucht hin. Zumindest seit der Mitte des 18. Jahrhunderts war die wirtschaftliche Lage auch größerer Höfe in Westfalen nicht mehr rosig, zusätzliche Belastungen wie eine Leibzucht strapazierten die Wirtschaftskraft eines Hofes nicht unerheblich. So wurde tatsächlich die Hofübergabe und damit der Heiratstermin des Erben oft bis nach dem Tode des Bauern hinausgezögert. Auch aus diesem Grunde ist eine große Häufigkeit der - bei Riehl so romantisch geschilderten - Dreigenerationenfamilie nicht anzunehmen.


Das Gesinde

Ohne hinreichende Arbeitskräfte war ein Bauernhof nicht zu bewirtschaften. Wo die Zahl der eigenen Kinder nicht genügte (das war die Regel), mußten Knechte und Mägde hinzugemietet werden. In den meisten Fällen stammte das Gesinde aus der nächsten Umgebung, nur selten aus weiterer Entfernung als 10 km. Das Gesinde rekrutierte sich aus den Kindern der Kötter (Kleinbauern) und Heuerlinge; Bauernkinder blieben auf dem elterlichen Hof. So gab es von vornherein sozialen Abstand zwischen der Bauernfamilie und ihrem Gesinde. Für die Kinder dieser kleinen Leute war die Anstellung als Knecht oder Magd eine Existenzfrage mangels anderer Verdienstmöglichkeiten. Bei einem Überangebot an Gesinde (vor allem an Kindern und Heranwachsenden) konnten die Löhne niedrig gehalten werden. Die Knechte und Mägde waren sich dieser ungünstigen Position wohl bewußt und trachteten bald, den Gesindestatus gegen bessere Verdienst- oder Arbeitsmöglichkeiten einzutauschen. Dazu zählte im östlichen Münsterland, in Tecklenburg, Minden-Ravensberg und Lippe die Hausindustrie, d.h. Spinnen oder Weben "auf eigener Hand", oder die Pachtung eines Kottens und Tagelöhnerarbeit. Das Gesindedasein war also kein "Beruf" sondern nur ein Durchgangsstadium, "die Jugend der späteren Tagelöhner und Heuerlinge" (P. llisch). Es läßt sich auch an der durchschnittlichen Verweildauer auf einem Hof ablesen, daß es weder Knechten noch Mägden um eine "Lebensstellung" ging: Auf einem gut untersuchten Hof im Münsterland blieben zwei Drittel des Gesindes nur ein halbes bis eineinhalb Jahre, ein Viertel 2-3 Jahre und nur ein knappes Zehntel länger. Das Gesindeverhältnis wurde seit dem 30jährigen Krieg in zum Teil sehr ausführlichen "Gesinde-Ordnungen" geregelt, die stets vor allem den Interessen der Herrschaft dienten. Knechte und Mägde standen damit unter Ausnahmerecht; ihr rechtlicher Zustand hat sich auch nach den liberalen Agrarreformen ("Bauernbefreiung") des frühen 19. Jahrhunderts nicht gebessert. Sicher dürfen diese Regelungen nicht so ausgelegt werden, daß das Verhältnis Bauer – Gesinde von vornherein unfriedlich war, aber im Streitfalle war das Gesinde benachteiligt. Sein ohnehin geringer Sozialstatus erfuhr durch die Gesetze keinen Ausgleich. Für Konfliktfälle hielten die Gesindeordnungen harte Strafen bereit. Das Gesinde wurde z.B. bestraft, wenn es von sich aus eine Stelle verließ, aber auch ("wegen bezeigter Widerspänstigkeit"), wenn der Bauer es fortjagte. Reizte das Gesinde die Herrschaft, etwa durch "ungebührliches Betragen", so stand dieser auch die Möglichkeit "geringer Thätlichkeiten" offen; erst bei Gefahr für Leib und Leben durfte sich der Bestrafte wehren - und auch dann erst rechtens seinen Dienst quittieren (Preußische Gesindeordnung 1810). Die Dienstzeit wurde in mündlichem Vertrag von Ostern bis Ostern oder Michaelis bis Michaelis festgelegt. Das Gesinde erhielt einen Abschlag auf den Lohn (der zumeist erst am Ende des Jahres ausbezahlt wurde). Damit war der Vertrag rechtsgültig, und am vereinbarten Tag erschien ein Fuhrwerk des Bauern und holte es ab. Um Gesindemangel vorzubeugen, war den Untertanen auf dem Lande befohlen, ihre Kinder ein halbes Jahr (Minden/Ravensberg 1741) oder gar 3 Jahre (Lippe 1752) dienen zu lassen. Erst dann sollte man in Lippe heiraten dürfen. In Minden/Ravensberg dienten um 1800 insgesamt 12.500 Personen (= 10% der ländlichen Bevölkerung) als Knecht oder Magd.

Der Umstand, daß das Gesinde in der Regel aus der näheren Umgebung stammte, brachte dem Bauern einige Vorteile. Er kannte das Gesinde oft schon, konnte sich seine Leute sogar aussuchen, und nicht zuletzt bedeutete dies die Möglichkeit, kranke Knechte und Mägde zu ihren Eltern zurückzuschicken. Die ausgefallenen Tage wurden vom Lohn abgezogen. Die fürsorgliche Seite der patriarchalischen Lebensordnung war offensichtlich nur schwach entwickelt. Von wenig Respekt für den anderen zeugt auch die (Un-)Sitte, dem Gesinde nach Gutdünken einen neuen Namen zu verpassen, wie dies vom 18. bis 20. Jahrhundert belegt ist. Da hießen z. B. auf einem Hof die Knechte immer "Fritz".

Auf großen Höfen konnte das Personal zahlreich sein; die Tätigkeitsbereiche waren dann entsprechend voneinander geschieden, es bildete sich unter dem Gesinde wiederum eine Hierarchie heraus, die man während seiner "Karriere" zu durchlaufen hatte. So mochte ein Heuerlingskind mit 10 Jahren wohl als Schweinejunge beginnen und sich dann über den Pferdejungen, Lütgenknecht, Middelknecht zum Baumeister hochdienen (diese Position wurde gelegentlich mit Kindern der eigenen Sozialschicht, also Bauernsöhnen, besetzt). Für ein Mädchen gab es die Möglichkeit, als Küchenmagd, Kinder- oder Kuhwicht zu beginnen, dann folgten Lütgemagd, Middelmagd und Grotemagd. Das Alter, mit dem man diese Dienststufen erreichen konnte, war regional (und individuell) unterschiedlich. 1792 wird aus der Grafschaft Mark berichtet, daß ein Heranwachsender etwa vom 13.-16. Lebensjahr als Pferdejunge, vom 17.-20. Jahr als Kleinknecht diente und nach dem 22. Jahr Großknecht werden konnte. Im Münsterland war das jeweilige Alter offensichtlich höher, das KIeinknechtdasein dauerte länger, Großknecht (Baumeister) konnte man zwischen 26 und 30 Jahren werden. Knechte über 30 Jahren waren überwiegend Familienangehörige.

Die Gesindeordnungen schrieben auch die Höchstlöhne fest, wohlmeinend in der Absicht, Wettbewerb und Lohnsteigerung (und damit höhere Erzeugerpreise) zu verhindern. Allerdings bestand die Entlohnung des Gesindes nur zum Teil aus Bargeld; Knechte und Mägde erhielten noch Schuhe und Hemden, konnten auch eine bestimmte Ackerfläche mit selbst zu verarbeitendem Flachs einsäen und anderes mehr. Der Barlohn sollte in Lippe 1752 für einen Großknecht 12 Taler betragen; 1804: etwa 17; 1843: 20 und 1856 schon 32 Reichstaler. Kleinknecht und Großmagd erhielten etwas mehr als die Hälfte davon. Auf dem bereits erwähnten Münsterländer Bauernhof erhielt um 1750 der Großknecht 10 Taler Bargeld, die Großmagd nur 2 1/2! Zwar holten die Mägde im Verlauf des 19. Jahrhunderts beträchtlich auf, sie erhielten jedoch stets wesentlich weniger als ein entsprechender Knecht (um 1900 bekamen auf demselben Hof der Großknecht 95 Taler, die Großmagd 45).

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein besaßen die Bauern in den agrarischen Teilen Westfalens für die Kinder der unterbäuerlichen Schichten (Heuerlinge z.B.) das Arbeitsplatzmonopol. Erst mit der Konkurrenz der Industriearbeit, die der Landjugend Arbeitsalternativen bot (bessere Bezahlung, geregelte Arbeitszeit), kam es zu Lohnsteigerungen und gewissen Verbesserungen in der Unterbringung des Gesindes. Die Arbeitsteilung zwischen Knechten und Mägden folgte dem schon geschilderten Muster, wenngleich die Trennung in Haus-/Hofarbeit für Frauen und Feld-/Waldarbeit für Männer nicht verabsolutiert werden darf. Allgemein wurde die Männerarbeit jedoch höher bewertet, was dann deutlich wurde, wenn Frauen auch auf dem Felde arbeiteten: Die Männer mähten - die Frauen banden das Getreide; Männer pflügten und säten, aber Frauen übernahmen die Folgetätigkeiten, besonders bei der Pflege der Hackfrüchte (Unkrautjäten, Runkelblätter entfernen, Kartoffellese). Ähnlich hierarchisch waren die Tätigkeiten unter den verschiedenen Dienststufen des Gesindes aufgeteilt.

Nach dem Wecken wurde gemolken und das Vieh versorgt (Mägde), die Knechte mußte dreschen (im Winter) und ausmisten, streuen, Futter schneiden. Die Frauen bereiteten das Frühstück vor. Großmagd und Großknecht hatten gleichsam die Vorarbeiterfunktion, niedere" Tätigkeiten führte das restliche Gesinde aus: Schneiden von Grünfutter und Häcksel (Kleinknecht oder Pferdejunge), Kleinvieh hüten und füttern (Lütgemagd). Nach dem Frühstück besorgten die Knechte Hof- und Feldarbeiten, die Mägde räumten die Kammern auf (auch die der Knechte), bereiteten die Mahlzeiten vor, kümmerten sich um die Kinder (Kinder- oder Kleinmagd), die Wäsche, den Garten. Die Großmagd war mit der Hausfrau auch für die Butterbereitung zuständig. Der Großknecht teilte - bei Abwesenheit des Bauern - - nicht nur die Arbeit ein und bestimmte das Arbeitstempo, sein Bereich war auch die Pferdearbeit: Pflügen, Eggen, Fahren. Die Versorgung der Tiere war Aufgabe von Mittel- oder Kleinknecht (Putzen usw.). Es muß betont werden, daß eine reinliche Scheidung der Tätigkeitsbereiche nach Geschlecht oder Position in der Hierarchie des Hofes nicht immer der Fall war, sondern nach Zahl des Gesindes und örtlichen Gewohnheiten erfolgte. Hier geht es jedoch vor allem um das Herausarbeiten von Grundzügen; Verallgemeinerungen sind daher nicht auf Gedankenlosigkeit zurückzuführen, sondern sind beabsichtigt.

Zum angesprochenen Zeitpunkt um 1800 wurden zwar die Hauptmahlzeiten noch gemeinsam eingenommen, in der Unterbringung drückte sich jedoch recht stark das soziale Gefälle zwischen der Hofbesitzersfamilie (Kernfamilie und eventuell mitlebende Geschwister, Altenteiler) und dem Gesinde aus. Eine Zweiteilung wird sichtbar Die Angehörigen der Familie im engeren Sinne schliefen nämlich im Wohnteil des Hauses, hinter der Feuerstelle, das Gesinde im Wirtschaftsteil. Gerechtfertigt wurde diese Trennung mit der Erfordernis der Nähe zum jeweiligen Arbeitsbereich: die Knechte bei den Pferden, die Mägde nahe bei Küche und Kühen. Dahinter steckte letztlich das Streben nach sozialer Distanz, denn wo später im 19. und im frühen 20. Jahrhundert Pferde und Kühe eigene Stallbauten erhielten, zog das Gesinde nicht immer mit, sondern wohnte weiter im Haupthaus. Dieser Abstand zwischen Herrschaft und Gesinde, der sich im Abstand der Schlafstellen spiegelte, fand schon recht früh Aufmerksamkeit in der Literatur. Der verklärenden Sicht des "Ganzen Hauses" hat dieser Umstand jedoch nichts anhaben können, obwohl jene geschilderte soziale Distanz geradezu sprichwörtlich geworden ist: "De is gut genog ächtern Windfang" hieß es im Münsterland (nach Schepers), was bedeuten sollte: Da ist einer gut genug zum Arbeiten, auf der Deele, im Wirtschaftsteil des Hauses hinter der hölzernen Trennwand des Windfanges, aber sonst wollte man mit ihm möglichst wenig zu schaffen haben.

Nicht nur die räumliche Trennung zwischen den Schlafkammern symbolisierte den sozialen Abstand zwischen Bauer und Gesinde. Die willkürliche Namensgebung (siehe oben) gehörte ebenso in diesen Zusammenhang wie - im 19. Jahrhundert - die unterschiedlichen Anreden: Das Gesinde wurde geduzt, der Herr nicht. Dieser Abstand war praktisch unüberbrückbar; trotz täglichen Umgangs und sicherlich auch oft vorhandener gegenseitiger Anziehung gab es fast nie Ehen etwa zwischen Knecht und Bauerntochter. Dem Knecht fehlte es einfach an Vermögen. Ehen bei Bauern wurden aber nicht nach Gleichheit der Zuneigung, sondern nach Gleichheit der Vermögen geschlossen - unter den herrschenden Verhältnissen ohne Zweifel ein sinnvolles Verfahren, das die Leistungskraft der Höfe erhielt. Damit wird allerdings auch die entscheidende Determinante sozialer Schichtung auf dem Lande greifbar: der Besitz, insbesondere der Grundbesitz. Über den Besitz aber verfügte der Bauer allein, nicht seine Frau, nicht seine Kinder. Das Gesinde war eigentumslos, es besaß nur seine Arbeitskraft. Die Arbeitsleistung ist darum auch konsequenterweise das Kriterium für die Hierarchie unter Knechten und Mägden. Das oft belegte Streben des Gesindes, sich möglichst rasch ökonomisch auf eigene Füße zu stellen, "Eigentum" wenigstens im Sinne eines eigenen Haushalts und damit die Möglichkeit zu selbstbestimmter Lebensführung und einem höheren Sozialstatus zu erwerben, akzentuiert die Bedeutung des Eigentums für die Strukturierung der ländlichen Gesellschaft in Westfalen. Die Altenteiler verfügten über Besitz nur im Rahmen des ihnen gesetzlich Gesicherten. Die Verrechtlichung der Umstände des Lebensabends ist aber ein Indiz dafür, daß die Dominanz der Ökonomie auch innerhalb der Verwandtschaftsfamilie und vor allen denkbaren Emotionen Gültigkeit besaß.

Die immer wieder übereinstimmend geäußerte Grundauffassung der Sozialgeschichte, daß die bäuerliche Familie bis ins 19. Jahrhundert hinein Produktionsfamilie war, bestätigt sich am westfälischen Beispiel in aller Deutlichkeit. Sie war ein "Mechanismus zur Übertragung von Besitz und Stellung" (Shorter), oberste Richtschnur des Handelns bildeten gemeinsame Produktionsinteressen, nichtso sehr persönliche Beziehungen. Und diese Produktionsinteressen bestimmten auch das Verhältnis der Haushaltsangehörigen zueinander – das "Ganze Haus" war ein Wirtschaftsunternehmen. Mit den wirtschaftlichen Strukturveränderungen des 19. Jahrhunderts (volle Verfügung über den Hof, höhere Abfindungen für nichterbende Verwandte, Verdienstalternativen für das Gesinde) waren die Grundlagen für ein "Ganzes Haus" im alten Sinne nicht mehr gegeben. Gleichzeitig orientierten sich die Bauern selbst am Vorbild der bürgerlichen Kleinfamilie.

Das Plädoyer Riehls für die Wiedererrichtung des patriarchalischen Regiments des Hausvaters war darum ein Anachronismus - erklärlich nur als ein Versuch, den demokratischen Entwicklungen seiner Zeit entgegenzuwirken: "Aus dem Neubau des Hauses wächst ein Neubau der Gesellschaft", schrieb hoffnungsvoll der Autor Riehl 1855.




Westfalen im Bild, Reihe: Westfälische Agrargeschichte, Heft 2