"Westfalen im Bild" - Texte

Stupperich, Reinhard
Römischer Import in Westfalen
Münster, 1986



Einleitung

Das Gebiet des heutigen Westfalen lag in der römischen Kaiserzeit - abgesehen von einer kurzen Phase römischer Eroberungsversuche zur Zeit des Augustus - außerhalb des römischen Imperiums. Trotzdem ist hier eine relativ große Anzahl römischer Funde zutage getreten. Als Importstücke in germanischem Kontext können sie einiges über den römisch-germanischen Handel und wohl auch über bestimmte Bedürfnisse der Germanen, besonders ihrer Adelsschicht, und den Grad des römischen Kultureinflusses aussagen. Zugleich stellen sie interessante Beispiele für das römische Kunsthandwerk dar. Funde aus der römischen Besetzungszeit, die mit dem damals hier, insbesondere entlang der Lippe stationierten und agierenden römischen Militär in Zusammenhang stehen, sollen in diesem Zusammenhang außerhalb der Betrachtung bleiben. Für Fragen der Datierung der römischen Objekte sind sie allerdings wegen ihrer gesicherten Stellung in augusteischer Zeit ungleich aufschlußreicher als die in einheimischem Zusammenhang gefundenen Stücke, die zum größten Teil erst in die mittlere und späte Kaiserzeit, ins 2. bis 4. Jh. n. Chr. gehören.

Der römische Import spiegelt sich leider nur zu einem Teil in dem Material wieder, das die Archäologen finden und bearbeiten. Die Funde beschränken sich zum allergrößten Teil auf Objekte aus einigen wenigen Materialgruppen, vor allem Keramik, Bronze und Edelmetall, Stoffen, die sich normalerweise in der Erde gut erhalten und durch natürlichen Einfluß kaum vergehen. Viele andere Materialien können nur unter ganz besonderen, sehr selten gegebenen Erhaltungsbedingungen überdauern. Für Holz, Leder und ähnliches organisches Material ist z.B. absolute Trockenheit - wie etwa in der ägyptischen Wüste - oder völliger Abschluß von Sauerstoff notwendig. Letzteres ist nur gelegentlich bei Funden aus dem Moor oder aus dauernd im Grundwasser befindlichen Schichten der Fall. So geben uns die Erhaltungsumstände nur einen Blick auf einen Ausschnitt aus der Gesamtheit dessen frei, was ursprünglich einmal in die Erde geraten ist. Hinzu kommt, daß man vieles damals ja nicht wegwarf, sondern wiederverwendete, wenn das Material es erlaubte. Vor allem Metall wurde in der Regel eingeschmolzen und neu verarbeitet. Schließlich sind viele importierte Dinge einfach verbraucht worden, wie etwa der Wein, so daß gar keine Rückstände übrigbleiben konnten. Daher sind unsere Interpretationsmöglichkeiten sehr eingeschränkt. Ebenso sind uns auch die meist aus organischem Material bestehenden Produkte der Germanen selbst, die als Gegenleistung an die Römer verkauft wurden, fast nie erhalten, sondern nur aus den zufälligen Bemerkungen römischer Schriftsteller bekannt.

Das Bild des römischen Imports, das wir uns heute auf Grund der Bodenfunde machen, wird leider außerdem durch eine ganze Anzahl neuzeitlicher Arbeiten (besonders aus der Renaissance und der Barockzeit) verunklärt, die sich an antiken Vorbildern orientierten und aus Unkenntnis für antik gehalten wurden, ebenso aber auch durch Imitationen und bewußte Fälschungen und schließlich sogar durch den modernen Import echter Antiken, etwa als Reiseandenken von einer Italienreise, denen aus den unterschiedlichsten Gründen ein Fundort untergeschoben werden konnte. Neben den Geschäften, die Antikenhändler auf diese Weise treiben (eine Antike mit genauer Fundortangabe wird leichter und teurer verkauft), können auch Wichtigtuerei, Versehen eines Sammlers oder sogar Mutwillen dabei eine Rolle spielen.


Fundkontext

Einen Überblick über das Spektrum der normalerweise im Alltag gebrauchten Gegenstände geben am ehesten noch die aus Siedlungen stammenden Funde. Eine Reihe von kaiserzeitlichen germanischen Siedlungen sind durch Lesefunde und kleinere Notgrabungen, einige (z.B. in Bielefeld-Sieker, Kamen-Westick oder Soest-Ardey) auch durch Flächengrabungen, die zumindest ausschnittsweise Einblick in die Struktur eines solchen Dorfes geben, bekannt. Bei dem gefundenen Material handelt es sich in der Regel um einzelne im oder beim Haus verlorene Objekte und um Abfall, der vor die Tür geworfen oder in Abfallgruben vergraben worden ist. An römischem Import wird in den Siedlungen in erster Linie Keramik gefunden, dazu oft auch etwas Glas, beides in der Regel in kleinen Scherben zersplittert. An der mengenmäßigen Verteilung wird auch deutlich, daß die besonders qualitätsvolle und teuere sog. Terra Sigillata (dazu siehe Bild 2  Medien) nur einen kleinen Teil des Keramikimports ausmachte. Viel wichtiger war offenbar die billigere Haushaltskeramik, die qualitativ die einheimische Keramikproduktion noch weit übertraf. Daneben finden sich in Siedlungen meist auch eine ganze Anzahl von Bronzemünzen, die bedingt - in der älteren Kaiserzeit wurden sie noch nicht in dem großen Umfang von den Germanen akzeptiert wie später - Hinweise auf Dauer und Blütezeit der Siedlung geben können. Erhalten geblieben sind außerdem oft auch bronzene Teile von Geräten, etwa die Griffe von Schlüsseln oder Rasiermessern, figürliche Appliken von Möbeln und Bronzegefäßen, von denen man auch manchmal verquetschte Fragmente findet. Wenn Bronzestatuetten römischer Gottheiten in Siedlungen gefunden werden, wie das etwa in zahlreichen Wurtensiedlungen der mit den Römern zeitweise verbündeten Friesen im heutigen Westfriesland der Fall ist, dann belegt das wahrscheinlich, daß die Germanen in diesen Figuren eben auch Gottheiten erkannten und sie wahrscheinlich mit ihren eigenen identifizierten und in Hausheiligtümern verehrten.

Bei Grabfunden wirken sich die zeitlich und regional unterschiedlichen Grabsitten im Inventar der Gräber und seiner Erhaltung aus. Im Gebiet des heutigen Westfalen wurden, im Gegensatz zu den weiter östlich jenseits der Weser siedelnden Stämmen, die Toten meist in Brandbestattungen beigesetzt, bei denen die Beigaben mit ins Feuer gerieten, mit der Asche einfach in die Grube geschüttet (sog. Brandschüttungsgräber) und daher oft stark beschädigt wurden. Wenn die Asche in einer Urne beigesetzt wurde, nahm man bei reicheren Toten gern römische Gefäße zu diesem Zweck, besonders Terra Sigillata-Schüsseln oder auch Bronzeeimer. Im Weserbereich finden sich in den Brandgräbern oft nachträglich zugesetzte, daher unverbrannte Beigaben. Noch weiter östlich waren Körpergräber üblich, in denen die Stücke oft besser erhalten sind, insbesondere in einer Reihe reicher sog. Fürstengräber aus dem Gebiet jenseits der Elbe. Der Sinn von Beigaben, die man den Toten bei der Bestattung mitgab, lag - wie bei anderen Kulturen - offensichtlich in der Vorstellung, daß der Tote sie auch im Grab oder im Jenseits noch benutzen konnte, daß er also für bestimmte ihm angenehme Tätigkeiten auch weiterhin seine römischen Luxusgüter benötigte, so etwa sein Weinsieb mit Kelle, seinen Becher und seine Würfel, aber auch etwa seine Jagd- und Kriegswaffen.

Bei den Hortfunden unterscheidet man je nach dem Grund, der zur Niederlegung im Boden führte, verschiedene Typen. Der naheliegendste Grund ist die Verbergung vor Feinden in Notzeiten und im Krieg. Sie finden sich deshalb meist in Siedlungen, können aber auch etwa von einem Reisenden unterwegs vergraben worden sein. Häufig sind es reine oder fast reine Münzfunde. Bei statistischer Auswertung erlauben die Schlußdaten solcher Münzfunde, die oft einen ganzen Horizont gleichzeitig niedergelegter Schätze ergeben, Rückschlüsse auf kriegerische Ereignisse, etwa in der Völkerwanderungszeit. Viele Schatzfunde enthalten auch Schmuck und andere Objekte aus Edelmetall, das in der Spätantike oft in Ringform oder einfach in kleine Stücke zerhackt aufbewahrt wurde. Aber auch andere Dinge wie etwa eine Bronzestatuette wurden als wertvoller Besitz versteckt.

Ein Hortfund kann aber auch auf das Niederlegen von Opfergaben in einem Heiligtum, besonders durch Versenken in einer Quelle, einem Teich oder auch in einem Moor, zurückgehen. Dabei kann ein ganzer Schatz auf einmal, häufiger allerdings eine große Zahl von Einzelstücken - in zeitlichen Abständen - aus bestimmten Anlässen an derselben Stelle geopfert werden. Darum darf man nicht sofort auf Gleichzeitigkeit der Fundstücke schließen. Die Zusammensetzung der Funde ist verschieden, sicherlich vom Charakter der empfangenden Gottheit abhängig. Erhalten haben sich meist nur Metallfunde, Münzen, Fibeln und Statuetten, die sicher auch als Götterbilder betrachtet wurden, wie sich aus der Bevorzugung bestimmter Typen ablesen läßt, weiter auch Ringe aus Edelmetall und Waffen - einerseits im Kampf beschädigte Stücke, aber auch Prunkwaffen. Wie bei anderen Völkern kann man darin also sowohl Weihungen der Beute nach der Schlacht als auch der eigenen Waffen sehen. Aus der Art und dem Wert dieser Objekte ergibt sich von selbst, daß in den Schatzfunden der Anteil römischer Importstücke erheblich höher ist als in anderen Fundzusammenhängen.

Aber man darf nicht vergessen, daß für die Archäologie auch Einzelfunde ohne irgendwelche Zusammenhänge, insbesondere auch Zufallsfunde von Münzen, oft wertvoll sind wegen der Hinweise auf Fundverdichtungen in bestimmten Regionen und der allgemeinen historischen Folgerungen, die man aus der Fundstatistik ziehen kann. Es ergeben sich so u.U. weitere Rückschlüsse oder Vermutungen auf historische Umbrüche oder kulturelle Verbindungen, auf den Verlauf von Handelsstraßen, auf noch nicht gefundene Siedlungen usw.

Die Aussagemöglichkeiten aufgrund der verschiedenen Gruppen von Funden für die Germanen und ihre Kultur sind natürlich unterschiedlich. Insbesondere kann man erkennen, welche Luxusgüter besonders geschätzt wurden und auch wieweit man sie sich leisten konnte. Zahlenverhältnisse lassen sich allerdings allenfalls durch großflächige Grabungen in Nekropolen gewinnen, indem man etwa den Anteil der Gräber mit Import am ganzen Gräberfeld zählt oder indem man bei größeren Siedlungsgrabungen die Prozentanteile der römischen und einheimischen Keramikgattungen ermittelt. So läßt sich ein Bild über den Grad der "Romanisierung" gewinnen. Lokale Unterschiede konnten sich etwa durch die Nähe zum Limes, d.h. in diesem Fall die Nähe zum Rhein, durch eventuelle vertragliche Bindung eines Stammes an Rom oder durch Reichtum ergeben, der etwa in der Lage an einer Fernhandelsstraße wie z.B. dem Hellweg, damals der wichtigsten Ost-West-Verbindung in Norddeutschland (auf der Linie der heutigen Bundesstraße 1), begründet sein kann: Der Import gelangte so besser dorthin und der Ort selbst wurde durch den Handel reicher. Auch soziale Unterschiede innerhalb einer Siedlung werden durch Importe verdeutlicht: So hebt sich etwa eine kleine Gruppe von reichen Gräbern an einer eng begrenzten Stelle in der großen Nekropole von Veltheim (dazu siehe Bild 5  Medien) deutlich ab; offenbar handelte es sich um die Begräbnisstelle einer lokalen Adelsfamilie. Ähnlich kann auch die Konzentration von Import an bestimmten Stellen einer Siedlung wie z.B. derjenigen von Feddersen Wierde (Kreis Cuxhaven) auf einen Adelshof hindeuten.


Importwege

Über die Organisation des Handels zwischen Römern und Germanen wissen wir fast nichts. Neben dem kleinen Grenzverkehr in Limesnähe stand ein offensichtlich weit ausgreifender, gut organisierter Fernhandel. In der römischen Literatur werden schon in der frühen Kaiserzeit römische fahrende Händler erwähnt, später auch in Inschriften aus den Grenzprovinzen, z.T. mit Hinweis auf die Spezialisierung auf bestimmte Waren. Wieweit auch germanische Händler an diesem übergreifenden Handel beteiligt waren, bleibt uns unklar, gegeben hat es sie zweifellos, sicher auch als Zwischenhändler. Eine Vorstellung vom Netz der Handelsstraßen läßt sich aus der Fundverteilung gewinnen, vorsichtig ergänzt durch Rückschlüsse aus späterer Zeit. Die große Menge römischer Münzen zeigt, daß die Geldwirtschaft bei den Germanen zu bestimmten Zeiten zumindest im Ansatz entwickelt war, und zwar nicht nur für den Verkehr mit den Römern, sondern auch für den innergermanischen Gebrauch. Sonst wäre die aus den Funden deutliche und in der Literatur auch überlieferte Vorliebe für ältere Münzen mit höherem Edelmetallgehalt nicht verständlich, die gleichzeitig doch die Vorbehalte der Germanen gegenüber dem System des geprägten Geldes erkennen läßt.

Ein Vergleich der in Germanien gefundenen römischen Objekte mit den entsprechenden Funden aus dem Bereich des Imperiums zeigt die starke Beschränkung der Auswahl aus der sehr viel größeren römischen Formenpalette (ähnlich wie die Vielfalt der Keramikformen schon in den Militärlagern an der Grenze sehr eingeschränkt ist). Der Grund wird in dem erheblich geringeren Bedarf der Germanen und der Verringerung des Absatzrisikos für die Fernhändler liegen, aber auch in den geringeren Verwendungsmöglichkeiten der Germanen, die nicht alle römischen Tischsitten übernahmen. Zudem wurden oft gebrauchte Stücke noch anderweitig weiterverarbeitet, z.B. Gefäße als Graburnen. Flickungen in einheimischer Technik deuten auf eine lange Verwendung, während man aus solchen in römischer Technik auch auf Ankauf von gebrauchten Geräten durch die Germanen geschlossen hat. Zumindest aber wurde Altmetall von den germanischen Schmieden wegen des Materialwerts gesammelt und weiterverarbeitet. Andere Stücke mögen eher durch kriegerische Aktionen, durch Plünderungszüge über den Rhein in die Hand von Germanen gekommen sein, insbesondere wenn die Objekte noch Weihinschriften tragen. Von den Einfällen in der 2. Hälfte des 1. Jh. v. Chr. ist kein sehr großer Niederschlag in den Funden zu erwarten, ebensowenig von der Plünderung der aufgegebenen Lager in augusteischer Zeit und beim Civilis-Aufstand in der germanischen Provinz 70 n. Chr. Das meiste wird von den seit dem späteren 2. Jh. wieder einsetzenden Einfällen stammen, besonders aus dem 3. und 4. Jh.

Kostbare Objekte können auch als Geschenke der Römer an bestimmte Häuptlinge ins Land gekommen sein. Später wurden im Rahmen von Verträgen umfangreiche Zahlungen an bestimmte Stämme als sog. Föderaten (d.h. Verbündete) geleistet, damit sie nicht ins römische Reich einfielen bzw. damit sie andere von Einfällen abhielten. Sie wurden damit in verschiedenen Abstufungen im Grunde in den römischen Grenzschutz integriert, dessen Truppen z.T. auch regulär aus den germanischen Stämmen jenseits des Limes angeworben wurden. Gerade die Franken, die in der Spätantike noch große Teile des heutigen Westfalen bewohnten, waren als römische Soldaten in Gallien sehr umworben, schon bevor sie zum Grenzschutz teilweise auf linksrheinischem Reichsgebiet angesiedelt wurden. Das bedeutet daß auch als Sold und als Ausrüstung vom Militärdienst zurückkehrender Soldaten römische Objekte nach Germanien gelangten, vor allem Goldmünzen, Waffen und Trachtbestandteile (Fibeln, Gürtelgarnituren u.ä.).


Zeitliche Entwicklung

Der römische Import beginnt mit dem Versuch der Römer unter Augustus, auch jenseits des von ihm als Grenze des Imperiums eingerichteten Rheins die Germanenstämme bis zur Elbe hin zu unterwerfen. Es war offensichtlich beabsichtigt, auch dieses Gebiet auf die Dauer zu einer romanisierten Provinz zu machen. Daher bemühten die Römer sich auch, insbesondere den germanischen Adel mit der römischen Lebensweise vertraut zu machen. Neben den Hinterlassenschaften der Römer in ihren entlang der Lippe ausgegrabenen Militärlagern sind daher einige römische Fundstücke aus dieser Zeit bereits auf den intensiven Kontakt der Germanen mit den Römern zurückzuführen. Zu diesen Zeugnissen kann man wahrscheinlich auch den bekannten Hildesheimer Silberschatz zählen. [1] Erst gegen Ende des 1. und im frühen 2. Jh. n. Chr. läßt sich ein langsamer Aufbau des Handels aus der allmählichen Zunahme römischer Importstücke ablesen. Vom 2. bis ins 4. Jh. blühte dann der Handel, der sich trotz der sich mehrenden Einfälle verschiedener germanischer Stämme über den Limes hinweg konsolidierte und noch zunahm. Die weniger aggressive Haltung der Römer seit der Festschreibung und defensiven Verstärkung der Grenzen wirkte sich hier fördernd aus. Damit in Zusammenhang stand die zunehmende Söldner- und Föderatenanwerbung unter den Germanen, die nach ihrem Dienst zum Teil mit ihrem Verdienst und ihrer römischen Ausrüstung in die Heimat zurückkehrten. Gegenüber dem Beutegut, das die in der 2. Hälfte des 2. und dann verstärkt seit dem späteren 3. Jh. n. Chr. plündernden Germanen verschleppten, hatten die erwähnten "Tribute", die die Römer in der späten Kaiserzeit manchen Germanenstämmen zahlten, wohl größere Bedeutung. Das wird auch für Teile der Franken gelten, einen Zusammenschluß verschiedener zum guten Teil ursprünglich in Westfalen ansässiger Stämme, der erst spät und nur auf dem kurzen Weg direkt über den Rhein auf römisches Gebiet übertrat. Neben Plünderungszügen und gewaltsamen Besetzungen ließen sie sich teilweise auch aufgrund von Verträgen mit den Römern als Föderaten zum Schutz gegen andere Angreifer in der Grenzprovinz nieder.

Zu letzteren gehörten offenbar auch die aus Südholstein ins Gebiet südlich der Nordseeküste übergetretenen Sachsen, die seit dem späten 3. Jh. n. Chr. mit ihren Raubflotten in der Art der späteren Wikinger die römische Atlantikküste unsicher machten. Manches an dem Vorgang der Herausbildung des sächsischen Stammesgebietes im heutigen Niedersachsen und Westfalen ist noch unklar, jedenfalls verschob sich die Grenze zwischen Franken und Sachsen im Laufe des 5. bis 7. Jh. stark nach Südwesten. Man kann die Stammeszugehörigkeit nach der einheimischen Keramik einigermaßen unterscheiden, kaum dagegen nach dem Import von Luxusgütern aus der inzwischen von den Franken besetzten Provinz jenseits des Rheins. Schon zuvor waren offenbar auch römische Handwerker vom germanischen Adel angeworben oder verschleppt worden (insbesondere sicherlich Schmiede, die Waffen und Schmuck herstellen konnten), deren Techniken damit ins germanische Handwerk übernommen wurden. Im Verlauf der Völkerwanderungszeit kommt es daher in vielen Bereichen schließlich zu einer solchen Angleichung, daß man nicht mehr sicher sagen kann, ob es sich um römische oder germanische Arbeiten handelt. Da Germanen zugleich die germanischen, gallischen und weiteren Provinzen des römischen Reiches besetzten, ist diese Frage auch bald gegenstandslos. Der Import geht jedoch auch danach in erster Linie weiter in derselben Richtung wie bisher, aus dem jetzt fränkischen Rheinland nach Osten. Die Bevölkerung wohnt und arbeitet ja weiter in den eroberten und geplünderten Städten, deren urbanes Leben erst langsam mit dem Zusammenbrechen der Infrastruktur zurückgeht, weit langsamer als man nach den übertreibenden Berichten über die Plünderungen früher angenommen hat. Die kölnischen Glashütten zum Beispiel arbeiten ebenso wie andere Industrien unter den neuen Herren weiter, höchstens verlagert sich nach und nach manches aus den Städten aufs Land und in den Umkreis neuer Herrschaftszentren wie Burgen und Kirchen. Mit der Übernahme des christlichen Glaubens durch die neuen germanischen Herren ist in der Kirche ein weiterer Faktor der Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter in Kraft gesetzt.

Ein gutes Beispiel für die Angleichung der Produktion in der Völkerwanderungszeit, vor allem aber die Fortsetzung des Imports aus dem Rheinland im Frühmittelalter bietet in Westfalen das sog. Fürstengrab von Beckum [2], das durch seine reichen Beigaben und die Anzahl von zehn geopferten Pferden, die ihm zugeordnet werden können, unter den anderen Gräbern der Zeit in Beckum hervorgehoben und als Grab eines noch nicht christlichen Adligen charakterisiert wird. Unter den Beigaben sind neben Waffen Eimer, Kamm insbesondere ein 23,5 cm hoher, konischer fränkischer Glasbecher mit Fadenauflage (sog. Spitzbecher, der nicht selbst stehen konnte), ein Bronzebecken, goldene Riemen- und Taschenbeschläge und eine imitierte byzantinische Goldmünze des Kaisers Justin II. (565-578 n. Chr.) zu erwähnen. Daraus läßt sich eine Bestattung etwa im früheren 7. Jh. n. Chr. erschließen. Da wir uns hier gerade in einer Zeit des Umbruchs befinden, in der die Konsolidierung des südsächsischen Gebiets noch nicht abgeschlossen war, ist es interessant, daß das Grab keine typisch sächsische Keramik enthält, wohl aber fränkischen Import aus dem Gebiet links des Rheins. Trotzdem ist es wahrscheinlich, daß der Tote nicht etwa noch einer der letzten Franken in diesem Gebiet war, sondern ein sächsischer Adliger, dem man statt billiger Keramik eine möglichst kostbare Ausstattung, und das bedeutete eben zu einem Teil Import aus dem Westen, mitgab. Für den Fortbestand der alten Industrien im ehemals römischen, jetzt fränkischen Rheinland stehen mehrere Stücke. So führt der sog. Spitzbecher vor Augen, wie die rheinische Glasindustrie, wenn auch mit gewandelten und z.T. neuen Formen und sicher beeinträchtigt durch die Zerstörungen und Plünderungen, in antiker Tradition weiterarbeitete. Auch in älteren germanischen Gräbern sind gelegentlich römische Gläser, allerdings durch den Grabbrand zerschmolzen, gefunden worden. Die Bronzeschale hat im Vergleich mit älteren römischen Schalen [3] eine einfachere Form. Das entspricht aber der allgemeinen Entwicklung auch im byzantinischen Mittelmeerbereich. Für den gleichgebliebenen Bedarf der neuen fränkischen Herren arbeitete die Bronzegefäßindustrie in gleicher Weise weiter und kam auch weiterhin dem entsprechenden Bedarf der germanischen Adeligen jenseits der Grenze nach. Nur wo ein Wechsel in Bedarf und Funktion vorlag, kam es zu Abbruch oder Neuschaffung. Daher zeigen sich Unterschiede in Form und Stil, mit Flechtbändern oder Ornamentik des germanischen Tierstils, bei den Beschlägen aus dem Beckumer Fürstengrab. Bei den zugehörigen Pferden wurden schließlich Zaumzeugteile mit byzantinischer Ornamentik, also Importstücke aus dem Süden, gefunden.


Kirchlicher Antikenimport im Mittelalter

Trotz der Umbrüche und neuen Staatenbildungen auf römischem und germanischem Territorium gingen die Wirtschaft und das kulturelle Leben kontinuierlich weiter, kamen mit der Zeit nur zu einer stärkeren Angleichung, die gerade durch die Kirche noch verstärkt wurde. Nur langsam ist ein Rückgang der antiken Traditionen zu verzeichnen, der oft erst im Hochmittelalter seinen Tiefpunkt erreichte. Ein Bruch mit der Antike, ein kultureller Neubeginn war den Zeitgenossen - auch außerhalb des ehemals römischen Gebietes - nicht bewußt, wie alle schriftlichen Äußerungen zeigen. Vielmehr kam es in der karolingischen Zeit sogar bewußt zu einer stärkeren Reaktivierung der antiken Traditionen, die aufgrund der Unterwerfung der Sachsen durch Karl d. Gr. auch Westfalen direkt in ihre Auswirkungen einbezog.

Die Kirche ist während des Mittelalters auch der Träger eines weiteren Imports von, auch damals schon, antiken Objekten, der ein ganz anderes Kapitel darstellt. Meist handelt es sich um Dinge aus kostbarem Material für kirchliche Zwecke, besonders Elfenbeinkästchen und -büchsen - vielleicht zur Aufbewahrung von Hostien und wertvollen Objekten für den kirchlichen Kult - zuweilen mit heidnischen, öfter aber mit christlichen Bildthemen, die wohl sehr wichtig waren. So wurden in der von Liudger, dem ersten von Karl d. Gr. eingesetzten Bischof von Münster, gegründeten Abtei von Werden an der Ruhr, heute Stadt Essen, zwei Elfenbeinkästchen mit Darstellung der Weihnachtsgeschichte (eine noch in Essen-Werden, die andere in London, Victoria and Albert Museum) und als Bucheinband ein Elfenbein-Diptychon vom Amtsantritt des spätantiken römischen Consuls Probianus (heute in Berlin) sowie die spätantike Handschrift der gotischen Bibelübersetzung des Wulfila, der Codex Argenteus (heute in Uppsala), aufbewahrt, im Domschatz von Minden eine weitere Elfenbein-Pyxis (heute ebenfalls in Berlin). Anders war es bei den zahlreichen Gemmen und Kameen, denen in fortgesponnener antiker Tradition bestimmte magische Kräfte zugeschrieben wurden. Auf die Darstellungen kam es weniger an, wie die Art der Anbringung auf liturgischen Edelmetallgeräten wie Vortragekreuzen, Reliquiaren u.ä. nach Steinsorten, Größe und Symmetrie zeigt. In den Domschätzen von Essen, Minden, Münster und Osnabrück sind Beispiele dafür erhalten; mehrere Objekte aus dem Stift Herford (heute in Berlin) werden mit der Taufe Widukinds, des von Karl d. Gr. besiegten Anführers der westfälischen Sachsen, in Zusammenhang gebracht. Die Verwendung von geschnittenen Steinen im Zusammenhang mit Reliquien, mit denen in karolingischer Zeit ein regelrechter Handel von Italien in die neu christianisierten Regionen einsetzte, ist besonders bezeichnend. Später kam wahrscheinlich durch die Kreuzzüge noch manches antike Stück als Andenken oder Reliquienbehälter, wie es für das Edelsteingefäß von Nottuln überliefert ist (siehe Bild 12  Medien), nach Norden. Aber sogar ein einfaches römisches Kännchen aus einem kölnischen Gräberfeld konnte in dieser Zeit als Reliquie einer der 11.000 Jungfrauen nach Westfalen (Bersenbrück) verhandelt werden. Mit irgendwelchen magischen Vorstellungen über antike Arbeiten mag es auch zusammenhängen, wenn sogar Architekturteile damals noch für die Verwendung im Kirchenbau importiert werden konnten, so ein korinthisches Kapitell am Nordeingang des Patrokli-Münsters in Soest. Für das ungebrochene Weiterwirken der spätantiken Bildtradition sei schließlich stellvertretend die karolingische Wandmalerei mit antiken Sagenszenen (Odyssee) im Westwerk der Benediktinerklosterkirche von Corvey genannt.


[1] Falls er nicht doch Kriegsbeute darstellt; früher wurde oft vermutet, daß er aus der Schlacht im Teutoburger Wald 9 n. Chr. stammt, die dieser Entwicklung mit dem Rückzug der Römer ein abruptes Ende setzte; neuerdings wird die Herkunft aus den Plünderungen beim Civilis-Aufstand 70 n. Chr. vertreten.
[2] Ausgestellt im Westfälischen Museum für Archäologie in Münster, vgl. Bild 10  Medien, Bild 11  Medien und Bild 12  Medien der Serie "Alltagsleben der Sachsen"; dort auf Bild 11  Medien Spitzbecher und Taschenbeschläge abgebildet, Bronzeschale zu erkennen im Grabungsphoto Bild 10  Medien.
[3] Vgl. etwa solche aus dem Gräberfeld von Veltheim an der Weser, aus dem auch die Gefäße auf Bild 5  Medien stammen, heute im Museum in Dortmund.




Westfalen im Bild, Reihe: Vor- und Frühgeschichte in westfälischen Museen, Heft 5