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Peter Burg

Die Steinsche Städteordnung und Westfalen

 
 

 

1. Die Städteordnung von 1808

 
 
 

1.1 Historischer Kontext

 
 
 
Die Bedeutung der Städteordnung von 1808 ist in der Wissenschaft unbestritten. Sie gilt als die erste Konstituierung des modernen Gemeindeverfassungsrechts, darüber hinaus als Symbol der preußischen Reformzeit (Christian Engeli/Wolfgang Haus). Wegen des freien Mandats ihrer Mitglieder trug nach Otto von Gierke die Stadtverordnetenversammlung "die Merkmale des ersten modernen Parlaments, das in Deutschland das Licht erblickte". Die Städteordnung stellte nach Thomas Nipperdey die Realisierung der Idee dar, "Staat und Gesellschaft, Staat und Nation zu verbinden, das Gemeinwesen auf bürgerliche Freiheit zu gründen". Distanzierter ist das Urteil von Hans-Ulrich Wehler. Er räumt zwar ein, dass es sich bei der Städteordnung um das einzige Reformwerk handelte, das vor Hardenbergs Zeit glückte und bis in die Gegenwart fortwirkt, doch wird seiner Meinung nach Steins Bedeutung in der Geschichtsschreibung maßlos überschätzt. Dennoch: Die Steinsche Städteordnung bildet einen wesentlichen Bestandteil jeder Darstellung der Reformepoche und ist Gegenstand fundierter Spezialuntersuchungen geworden (so von Paul Clauswitz).

Eine konzeptionelle Schlüsselrolle besaß im Vorfeld der Stein-Hardenbergschen Reformen die  "Nassauer Denkschrift" vom Juni 1807. Das gilt insbesondere für die Realisierung von Selbstverwaltung und politischer Verantwortung. Konkrete Erfahrungen mit Resten altständischer und lokaler Selbstverwaltung sammelte Stein in seinen westfälischen Amtsjahren (1784-1804). Nach dem Muster der kleve-märkischen Landstände wollte er nach der Säkularisation auch für das Erbfürstentum Münster eine ständische Vertretung einführen, doch die Berliner Regierung nutzte den Herrschaftswechsel, um ihren absolutistischen Verwaltungsapparat einzuführen. In Kleve-Mark begegneten Stein auf der mittleren Verwaltungsebene die Amts- und Erbentage, auf denen jährlich die Rittergutsbesitzer und die selbstständigen Bauern über die Aufbringung von Diensten und Abgaben berieten und über deren Umverteilung auf Kirchspiele und Bauerschaften entschieden. In der Reformzeit sprach er den westfälischen Erbentagen eine Vorbildfunktion zu.
 
 
Städte und Landgemeinden besaßen nach dem Allgemeinen Landrecht korporative Rechte, aber keine Selbstverwaltung. Es gab keine Gemeindeversammlungen, sondern nur "Gebote", bei denen die Dorfobrigkeit (der Schulze, zwei Schöffen) Anordnungen der vorgesetzten Stellen (Gutsherr, Landrat) entgegennehmen musste. Das Kommunalsystem war auf staatliche Leitung, nicht auf Aufsicht gegründet. In den Städten starb die Selbstverwaltung infolge der Wirksamkeit der staatlichen Steuerräte oder des Militärs und infolge des Desinteresses der Bürgerschaft weitgehend ab. Auf dem Land verhinderten namentlich in den östlichen Provinzen Preußens die obrigkeitlichen Funktionen von Rittergutsbesitzern und Domänenverwaltungen, von Korporationen und Stiftungen ein selbstständiges Gemeindeleben. Der Adel wurde für den Verlust ständischer Gerechtsame durch eine lokale Herrenstellung entschädigt. Die Gutsobrigkeit stellte ein Bindeglied zwischen Königtum und bäuerlichen Untertanen her.

In einem Immediatbericht kritisierten Stein und Minister Friedrich Leopold von Schroetter (1743-1815) im November 1808 das vom Allgemeinen Landrecht legalisierte System staatlicher Vormundschaft, das die Kriegs- und Domänenkammern, das Generaldirektorium und die Steuerräte errichtet hätten. Die städtische Vertretung war auf Zunft- und Korporationswesen gegründet, der Magistrat war Invaliden vorbehalten. Das waren die Zustände, die Stein bei der Abfassung der Nassauer Denkschrift vor Augen standen, als er beklagte, dass der Gemeingeist verloren gegangen sei. Im preußischen Beamtenstand sah er eine "Rasse von Lohnschreibern" mit großen Ansprüchen bei geringer Leistung, Handlanger, die eine despotische Verfassung benötige. Die Bürokratie, so urteilte er, menge sich in alles, ohne inneren Anteil an den Geschäften, den lebendigen Bedürfnissen, Nöten und Interessen der Regierten zu nehmen. Die Katastrophe von Jena und Auerstedt im Jahre 1806 machte für Stein die Schwächen des preußischen Staatswesens evident und war Impetus für eine radikale Staats- und Gesellschaftsreform.

Die Entfaltung von Gemeingeist und Bürgersinn gehörte zur Revolutionsideologie. Ihr verdankte die französische Nation die Niederringung der inneren und äußeren Feinde. Napoleon profitierte bei seiner imperialistischen Politik von dem anhaltenden Schwung. Stein zog in der Nassauer Denkschrift eine Folgerung aus dem der preußischen Nation fehlenden Staatsethos. Nicht nur in der emotionalen Akzeptanz des Vaterlandes war die Französische Revolution beispielhaft, sondern auch im rationalistischen Staatsaufbau. Die Aufzählung der unterschiedlichen landständischen Verfassungen des rheinisch-westfälischen Raumes in der Nassauer Denkschrift impliziert eine Kritik an eben diesen Verhältnissen. Auch die Erörterung der Kommunalverfassung geht von der Einheitsidee aus. Die Wertschätzung des Prinzips der Öffentlichkeit, die die Nassauer Denkschrift bekundet, war geradezu ein zeitgenössisches Gemeingut. Die öffentliche Rechnungslegung war in der französischen Munizipalverfassung vorgesehen. Das Munizipalgesetz vom 14.12.1789 kodifizierte erstmals den Gedanken, die Bürger nicht nur mit eigenen lokalen Angelegenheiten zu betrauen, sondern ihnen zur Wahrung des Prinzips der Einheit der Verwaltung staatliche Angelegenheiten zu übertragen. Diese Vorstellungen gingen in die Städteordnung von 1808 ein.

Der von Stein in der Nassauer Denkschrift entwickelte egalitäre Eigentümerbegriff als Basis für das Bürgerrecht fand sowohl im revolutionären Frankreich als auch in England Vorbilder. Die Zensuskriterien unterschieden sich in den französischen Verfassungen und waren sicher auch niedriger als die, die Stein vorschwebten, aber die beiderseitige Übereinstimmung lag in der Durchbrechung der Standesschranken und in der generellen Öffnung der politisch-administrativen Führungsschicht auf der Grundlage eines rationalen Kriteriums. In England war eine aus Grundbesitzern und städtischen Kapitalisten bestehende Elite an der politischen Leitung und Verwaltung beteiligt. Stein richtete sich gegen eine kastenartige Abschließung der deutschen Aristokratie, die den sozialen Aufstieg einer Leistungselite verhinderte.
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Medaille "Zur Erinnerung an die Hundertjahrfeier der Städteordnung 1808 - 19. Nov. 1908" (Rückseite), mit einem Porträt des Freiherrn vom Stein


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Sonderbriefmarke der Deutschen Post der DDR mit dem Porträt des Freiherrn vom Stein in der Reihe "Deutsche Patrioten", 16 Pf, 1957


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Gebührenmarke der Gemeinden und Gemeindeverbände mit dem Porträt des Freiherrn vom Stein, 3 DM und 50 Pf, verwendet vom Standesamt der Stadt Hagen


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Karl Freiherr vom und zum Stein, Brustbild des preußischen Staatsministers, 1804
 
 

1.2 Vorgeschichte

 
 
 
Stein erklärte sich im Vorfeld der Verabschiedung der Städteordnung von 1808 gegen eine restriktive Vergabe des Bürgerrechts. Der maßgeblich an der Konzeption beteiligte Königsberger Polizeidirektor Johann Gottfried Frey hatte aufgelistet: "Rentiers, Wissenschaftler, Künstler, Staatsdiener können auf Antrag Bürgerrecht erhalten". Der Minister warf ihm daraufhin eine zu ängstliche Auswahl vor und erklärte: "Ich sehe keinen Grund ab, warum nicht jeder, der in einer Stadt wirklich domiziliert, auch an dem städtischen Wesen teilnehmen soll." Zum Wahlrecht in der Städteordnung erstellte Frey ein Gutachten, an dem Stein nichts korrigierte, sondern lediglich ergänzte, dass bei der Definition von großen, mittleren und kleinen Städten - für die unterschiedliche Stimmrechtsvoraussetzungen gelten sollten - konkrete Zahlenangaben vonnöten seien und dass den Wahlversammlungen ein Gottesdienst vorausgehen müsse. Freys liberales Wahlverständnis bringt die Devise zum Ausdruck: Wer stimmfähig sei, sei auch wahlfähig. Die Städteordnung nahm sein Verfassungskonzept weitgehend auf. Danach war der Verordnete an keinerlei Sonderinteressen oder Mandat gebunden. Zunft, Gewerbe, Stand, Sekte, Stadtviertel, Religion sollten ihn nicht binden, sondern ausschließlich das Wohl der ganzen Stadt und ihrer Bürgerschaft leiten. Die Mandatsfreiheit sollte in der späteren Revision der Städteordnung nicht zur Disposition gestellt werden, wohl aber die weite Öffnung des Wählerkreises - letzteres auch von Stein.

Die Qualifikationsanforderungen, die Stein an städtische Repräsentanten stellte, veränderten sich zwischen Reform und Revision. Wollte er 1826 Bildung zum Kriterium für die Vergabe von Bürgerrecht machen, so bemerkte er 1808 kritisch zum Gutachten Freys: "Was hier über den Grad der Kultur, welcher zur Führung der Stimme fähig mache, angeführt ist, halte ich für unrichtig. Es frägt sich, wo dieser Grad der Kultur anfängt und wo er aufhört." Intellektuelle wertete er vergleichsweise niedrig, Gewerbetreibende höher:
"Ein verständiger, welterfahrener Gewerbetreibender urteilt besser über städtische Angelegenheiten als der Gelehrte, und es ist sehr zu wünschen, dass unter den Repräsentanten sich viele Individuen aus der gewerbetreibenden Klasse befänden."

Während der Revisionsdiskussion sollte Stein gerade die Gruppe der Gewerbetreibenden für überrepräsentiert, hingegen Grundbesitzer für zu schwach vertreten halten; außerdem wünschte er über den Notabelnverein eine stärkere Vertretung der "intellektuellen Kraft."

Auf eine landständische Mitwirkung bei der Erstellung der Städteordnung verzichtete Stein auf Anraten Freys, was den in der Nassauer Denkschrift propagierten Grundsätzen widersprach. Ein günstiger Umstand für die Einführung war es, dass die Städte die französischen Kontributionsforderungen nicht mit der überkommenen Verwaltungsorganisation zu erfüllen vermochten und deshalb teilweise von sich aus auf Reformen drängten.
 
 

1.3 Verfassungsnorm

 
 
 
In der am 19.11.1808 von König Friedrich Wilhelm III. in Kraft gesetzten Städteordnung ist der egalitäre Eigentümerbegriff der Nassauer Denkschrift im neuen Bürgerrecht zu finden. Dieses löste das von Handwerkern und Kaufleuten gestützte Privilegiensystem ab. Eine breitere mittelständische Schicht von selbstständigen Kaufleuten, Handwerkern, Gewerbetreibenden, Beamten und Angehörigen akademischer Berufe bildete den sozialen Kern der städtischen Selbstverwaltung. Das Bürgerrecht wurde durch Beantragung und Verleihung erworben. Aus Scheu vor den bürgerlichen Pflichten verzichteten viele Einwohner auf die Verleihung. Nur Inhaber von Gewerbebetrieben und von Grundeigentum waren verpflichtet, es zu erwerben. Wer kein Grundeigentum im Stadtgebiet besaß, musste ein Mindesteinkommen von 150-200 Taler aufweisen, ein Zensus, der der Masse der kleinen Handwerker und Händler das Bürger- und damit auch das Wahlrecht einräumte. Dadurch, dass schon bei einem kleinen Haus- oder Grundbesitz die Bedingungen für das Bürgerrecht als erfüllt betrachtet wurden, wurde die soziale Basis der Bürgergemeinde stark ausgeweitet. Nach wie vor gab es Schutzverwandte, die den Bürgerstatus nicht erwerben konnten.

Die Stadtverordnetenversammlung wurde nicht ständisch oder klassenweise, sondern nach Bezirken gewählt. Bei den Gewählten griff eine soziale Schere. Bevorzugt wurden Honoratioren gewählt, wobei die Angehörigen der gewerblichen Berufe überwogen. Die traditionelle Rekrutierung setzte sich durch, Vertreter der Bildungsschicht spielten eine geringere Rolle. Die Wahl erfolgte für drei Jahre. Die Stadtverordnetenversammlung, das zentrale Organ der städtischen Selbstverwaltung, war Träger der kommunalen Rechtsetzung und Verwaltung und wählte die besoldeten und für die Nassauer Denkschrift so wichtigen unbesoldeten Mitglieder des Magistrats. Diese Mitglieder mussten von der staatlichen Aufsichtsbehörde bestätigt werden.

Der Magistrat war ein von der Stadtverordnetenversammlung abhängiges Vollzugsorgan, nicht Inhaber einer selbstständigen Exekutivgewalt. Das gilt auch für den Bürgermeister, der nicht als Stadtoberhaupt zu verstehen ist. Es galt das Prinzip einer Einheit der Gemeindegewalt, nicht der Gewaltentrennung. Die Geschäftsführung des Magistrats wurde unterstützt von Deputationen und Kommissionen, bestehend aus Mitgliedern aus den eigenen Reihen, der Stadtverordnetenversammlung und sonstigen Bürgern. Sie wurden von den Stadtverordnetenversammlungen gewählt und vom Magistrat bestätigt.

Die Städteordnung gewährte ein hohes Maß an Autonomie, insbesondere Budgetrecht und Steuerbewilligungsrecht, ohne an staatliche Gesetzesnormen gebunden und auf die Mitwirkung der staatlichen Aufsichtsbehörden angewiesen zu sein. Das Verhältnis zwischen Stadt und Staat in die 'richtige' Relation zu bringen, war ein zentrales Anliegen der Nassauer Denkschrift, hingen davon doch die Gewinnung von Gemeingeist und Bürgersinn ab.

Als Gegenbeispiel der Städteordnung von 1808 gilt die napoleonische Mairieverfassung, nach der die Kommunen Glieder des staatlich-unitarischen Verwaltungsapparates bilden. Die Städteordnung setzte an die Stelle staatlicher Leitung eine Aufsicht. Bei einer Leitung, wie in alter Zeit oder in der französischen Mairie, sind die Verbandsorgane vollkommen von staatlichen Weisungen abhängig, bei der Aufsicht besteht ein freies, selbstverantwortliches Handeln. Eine staatliche Genehmigung ist nur für bedeutende Akte, für den Erlass neuer Statuten und die Bestätigung von Magistratswahlen z. B., erforderlich. Der Staat behält sich laut Städteordnung die Prüfung der Rechnungslegung und die Entscheidung über Beschwerden aus der Bürgerschaft vor. Seine Behörden konnten eingreifen, um die Stadtverwaltung zu einem Handeln im Rahmen der Staatszwecke und Staatsgesetze anzuhalten.

Durch den Rückzug der Regierung aus der staatlichen Leitung bzw. die städtische Selbstverwaltung musste der Staat bisher ausgeübte Funktionen aus der Kompetenz der Städte aussondern und zu seinen eigenen Angelegenheiten erklären, so die Gerichtsbarkeit und die Polizei. In 21 größeren und mittleren Städten wurden bis 1810 staatliche Polizeidirektionen errichtet, in kleineren Städten die Magistrate mit der Wahrnehmung ortspolizeilicher Befugnisse beauftragt. In dieser Funktion waren sie den Weisungen der Staatsbehörden unterworfen. Mediatstädte, die Patrimonialherren unterstanden, wurden den übrigen Städten gleichgestellt.

Die Kommunalverfassung des platten Landes konnte Stein noch nicht reformieren; die Dörfer blieben unter gutsherrlicher Aufsicht, da die aristokratische Opposition noch zu stark war. Erfolglos blieb er mit seiner Idee einer ständischen Mitwirkung und nationalen Repräsentation auf der Provinzial- und Gesamtstaatsebene. Erstere kam erst in den 1820er Jahren, letztere 1848 zustande.

Der Text der Städteordnung von 1808 atmet in der Selbstlegitimation und in der Bürgerrechtsdefinition den Geist Steins. Die Präambel kritisiert den derzeitigen Zerfall der Bürgerschaft in Interessengruppen, in "Klassen und Zünfte". Ganz im Sinne der Nassauer Denkschrift ist die Rede von einem "dringend sich äußernden Bedürfnis einer wirksameren Teilnahme der Bürgerschaft an der Verwaltung des Gemeinwesens". Das Ziel der Städteordnung ist die Stärkung der Autonomie und die Bildung eines effektiven Repräsentativorgans, das Einfluss auf die Verwaltung besitzt und aufgrund seiner Kompetenzen einen Gemeinsinn entwickelt.

Die von Stein gegenüber Frey angemahnte großzügige Vergabe des Bürgerrechts findet sich in der Städteordnung wieder. Es heißt in ihr (§ 17), das Bürgerrecht dürfe keinem versagt werden, der sich in der Stadt niedergelassen habe und einen unbescholtenen Lebenswandel führe. Eine Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinbürgern oder ähnliche gesellschaftliche Differenzierungen sollte es nicht bzw. nicht mehr geben (§ 16). Stand, Geburt, Religion und persönliche Verhältnisse durften, wenn jemand das Bürgerrecht beantragte, keine Rolle spielen. Allerdings war ein unbescholtener Ruf eine conditio sine qua non, und der frühere Lebenswandel musste bei einem Neuankömmling durch Rückfrage bei der zuvor zuständigen Ortsbehörde überprüft werden. Ein verurteilter Verbrecher konnte ab einer Zuchthausstrafe von drei Jahren das Bürgerrecht nicht erwerben bzw. er verlor dieses. Aus dem Besitz des Bürgerrechts leitete sich die Befugnis ab, ein städtisches Gewerbe zu betreiben und Grundstücke auf städtischem Boden zu erwerben.

Trotz seiner Vorbehalte gegenüber der Bürokratie bis hinunter zur lokalen Ebene bezweifelte Stein nie die Notwendigkeit einer staatlichen Aufsicht über die Städte. Gleich der erste Paragraf der Städteordnung von 1808 stellt dies heraus: "Dem Staat und den von solchem angeordneten Behörden, bleibt das oberste Aufsichtsrecht über die Städte, ihre Verfassung und ihr Vermögen". Der zweite Paragraf präzisiert den Aufgabenbereich.

Die im Anschluss an den Erlass der Städteordnung verabschiedeten Deklarationen verstärkten die staatlichen Aufsichtsrechte und unterminierten die Selbstverwaltung. Für die städtischen Finanzverhältnisse relevante Entscheidungen wie eine Erhöhung der Zahl der Beamten konnte der Innenminister über die Köpfe der Stadtverordneten hinweg auf Antrag des Magistrats treffen. Der Minister war befugt, die Anstellung von Magistratsmitgliedern auf Lebenszeit zu genehmigen. Die Städteordnung hatte die Höchstdauer einer Magistratsstelle auf zwölf Jahre begrenzt.
 
 

1.4 Verfassungswirklichkeit

 
 
 
Die Städteordnung wurde in den meisten preußischen Städten von der Bevölkerung reserviert aufgenommen, obwohl sie von den Reformern doch als Zugeständnis an die Bürgerschaft gedacht war. Widerstand regte sich von verschiedenen Seiten. Opposition ging verständlicherweise von denen aus, deren Kompetenzen beschnitten wurden, von den Kriegs- und Domänenkammern, den Steuerräten, den alten Magistraten und den Mediatherren. Die Bürger konnten sich die neue Selbstverwaltung noch nicht recht vorstellen. Zünfte und Kaufmannschaften widersetzten sich in den Großstädten. Vorstadtbewohner scheuten höhere Steuern und Schulden. Nach dem Wegfall der staatlichen Aufsicht befürchtete viele Bürger ein leichtfertiges Schuldenmachen und einen Anstieg der Verwaltungskosten. In Schlesien baten einige Städte die Regierung, sie von der Einführung der Städteordnung zu verschonen.

Bald nach der Verabschiedung der Städteordnung stellten sich Missstände ein. In Kleinstädten gab es keine korrekte Selbstverwaltung, in einigen Städten fanden keine Neuwahlen mehr statt und es kam wieder zu der vor der Reformzeit eingerissenen Cliquenbildung. Andere Städte brachten ihr Rechnungswesen nur mit staatlicher Hilfe in Ordnung. Stein war sich freilich schon 1808 dessen bewusst, dass die hastige Einführung der Ordnung baldige Korrekturen erforderlich machen könnte. Trotz dieser Bedenken scheute er nicht vor dem Experiment der Reform zurück. Er beklagte bereits 1810 die Schwächung der bürgerlichen Oberschicht durch die zu ausgedehnte Vergabe des Bürgerrechts und die Machtverlagerung vom Magistrat auf die Stadtverordnetenversammlung. Grundsätzlich wertete er jedoch die Städteordnung in rückblickenden Urteilen immer als eine Erfolgsgeschichte. Sie hatte ja nicht nur in Preußen Bestand, sondern besaß nach dem Wiener Kongress auch eine Ausstrahlungskraft auf andere deutsche Staaten. Seit 1818 beeinflusste sie die süddeutschen Kommunalverfassungen, als diese sich vom bürokratischen Geist der Rheinbundzeit entfernten.

Stein rühmte 1822 in einer Denkschrift für den preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (1795-1861, reg. ab 1840) den Wert der durch die Kommunalverfassung gewonnenen Autonomie als eine Errungenschaft, "die täglich und stündlich in jedem dinglichen und persönlichen Verhältnis sich äußert und schützt gegen amtliche Willkür und Aufgeblasenheit". Ebenso wenig zweifelte er an der Kritikwürdigkeit und Korrekturbedürftigkeit einzelner Verfassungselemente. Das "Eindringen roher Menschen in die Wahlversammlungen und in die Zahl der Stadtverordneten" war für ihn Folge einer fehlerhaften Zusammensetzung der Bürgerschaft, ein beklagenswerter Missstand.
 
 
 
 

2. Die Revidierte Städteordnung
von 1831

 
 
 

2.1 Der Revisionsprozess

 
 
 
Die Revidierte Städteordnung von 1831 entsprang keinem originären Reformwillen, sondern der Notwendigkeit einer Anpassung der preußischen Kommunalverfassung an veränderte territoriale und politische Voraussetzungen. Für die 1815 zurückeroberten bzw. neu erworbenen Gebietsteile stellte sich für die Regierung in Berlin die Frage, ob sie die Steinsche Ordnung von 1808 oder eine neue einführen sollte. Die Städteordnung von 1808 war bereits durch zahlreiche Zusatzedikte modifiziert worden, so dass eine vollständige Überarbeitung ratsam schien. Für eine Neufassung sprach ein zweites Argument: Seit dem Wiener Kongress 1814/1815 war die allgemeine innenpolitische Entwicklung in Preußen gekennzeichnet durch das Erstarken reaktionärer und bürokratischer Kräfte, weshalb nicht nur technische Verbesserungen der Verwaltungsorganisation oder juristische Klarstellungen auf der Tagesordnung standen, sondern auch der Umfang der Selbstverwaltungsrechte auf den Prüfstand geriet.

Wiederum war Freiherr vom Stein in die Erstellung einer Städteordnung involviert, diesmal als prominenter Bürger der Provinz Westfalen, der im Landtag aufgrund königlicher Ernennung das Amt eines Marschalls, das geschäftsführende Präsidium, wahrnahm. Der Landtag war gutachtlich am Revisionsprozess beteiligt. Als Stein sich 1826 auf die Beratung der Kommunalverfassung im Westfälischen Provinziallandtag vorbereitete, ging er davon aus, dass die Einführung der Städteordnung von 1808 in den westlichen Provinzen auf der Agenda der preußischen Regierung stand. Eine von ihm im September verfasste Denkschrift war ein kritischer Kommentar zu "seiner" Städteordnung und zugleich ein Erfolgsbericht. Die Ordnung von 1808 sollte als leitende Perspektive zur Veränderung der Kommunalverhältnisse in den westlichen Provinzen dienen.

Die Ausgangslage war bei der Herrschaftsübernahme durch Preußen (1814/1815) von den Vorgängerstaaten geprägt. Die im Königreich Westphalen, im Großherzogtum Berg und im Kaiserreich Frankreich eingeführten Munizipalverfassungen wurden ebenso übernommen wie die im Großherzogtum Hessen eingeführte Schultheißenverfassung, die im früheren Herzogtum Westfalen (jetzt Regierungsbezirk Arnsberg) galt. An der französischen Bürgermeistereiverfassung übte Stein durchweg Kritik, an konkreten Einzelpunkten, aber auch grundsätzlich. Das schloss nicht aus, dass er ihr auch positive Aspekte abgewinnen konnte. So konzedierte er 1815, dass bestimmte Formen der Geschäftsführung es verdienten, beibehalten zu werden. Damit zollte er der technisch-bürokratischen Effizienz Anerkennung, nicht aber der starken Exekutivgewalt des Bürgermeisters, der mehr den höheren Regierungsinstanzen als dem Gemeinderat verantwortlich war.

Die Einführung der Revidierten Städteordnung kommentierte die königliche Proposition zum vierten Westfälischen Provinziallandtag (1832/1833) ganz im Sinne Steins, als sie die Absicht aussprach, "die durch die Fremdherrschaft in Unsern westlichen Provinzen größtenteils zerstörte Selbständigkeit der Gemeinden auf der Grundlage deutscher Sitte wieder herzustellen, und ihnen diejenige selbständige Verwaltung ihrer innern Angelegenheiten zu gewähren, welche, nach dem entwickelten höheren Gemeinsinn und der fortgeschrittenen Bildung unseres Volkes zulässig" sei.

Führten die Kommunalreformen in der Provinz Westfalen letztlich zur Einführung von zwei Verfassungen, jeweils einer spezifischen für Stadt und Land, so war dies keineswegs selbstverständlich oder gar unumstritten. Schließlich war die aktuelle Ausgangslage in der Revisionsdiskussion ja die Existenz einer einheitlichen Verfassung für Stadt und Land. Für den in historischen Kategorien und gesamtpreußisch denkenden Freiherrn vom Stein öffnete sich freilich ein weiteres Blickfeld. Eine scharfe Trennlinie schied im Ancien Régime Stadt und Land, so dass die jeweiligen Lebensbedingungen gänzlich andere waren. Stein hatte auch in der Nassauer Denkschrift 1807 keine einheitliche Kommunalverfassung konzipiert. Seine Städteordnung hatte keinen Modellcharakter für die ländliche Welt der östlichen Provinzen besessen. Das platte Land erlebte dort auf lange Sicht keine Reformen.

Die den Bürgern von der Städteordnung eingeräumte politische Handlungsmöglichkeit besaß nach Stein einen volkserzieherischen Wert und damit eine gesamtstaatliche Bedeutung. Sie schlug eine Brücke vom Wohnort, von der konkreten Lebenswelt, zum Ganzen, von der Heimatliebe zum Patriotismus. Die Städteordnung arbeitete der projektierten Staatsverfassung vor bzw. sollte dies tun. Eine solche Sehweise unterstellte Stein auch der Berliner Regierung. Dass der Schlussstein des Staatsgebäudes erst in der 1848er Revolution gesetzt würde, entsprach sicher nicht seinen Entwürfen und schon gar nicht seinen Wünschen.

Staatliche Einheit kontra provinziale Besonderheit, mit dieser Frage musste sich die preußische Regierung zwangsläufig auseinandersetzen. Im Osten, in der die Städteordnung eingeführt war, bildeten die Rittergüter noch eigene Verwaltungsbezirke, ja sogar noch untergeordnete Herrschaftszentren, und es wurde die für den Westen anachronistische Frage aufgeworfen, ob man die Mediatstädte restaurieren sollte, in denen die Gutsherren gleichfalls Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt ausübten. Innenminister Schuckmann erklärte sich für eine differenzierte Handhabung der Städteordnung, das Staatsministerium entschied sich hingegen für eine Einheit. Dem König wurde schließlich eine für die ganze Monarchie konzipierte Städteordnung vorgelegt, doch dieser entschied sich in letzter Minute, nach einer erneuten Verhandlungsrunde des Ministeriums, zum Ärger des Vorsitzenden des Staatsrats, seines Schwagers Herzog Karl von Mecklenburg, für eine Wahlfreiheit der Provinzialstände zwischen der Städteordnung von 1808 und der Revidierten Städteordnung von 1831.
 
 

2.2 Inhalte, Ziele, Defizite

 
 
 
Die Revidierte Städteordnung wird vielfach und mit Recht als Rücknahme von Errungenschaften der Steinschen Städteordnung von 1808 kritisiert, doch gilt es den Ausgangspunkt zu betrachten. So sind auch für die Provinz Westfalen Fortschritte auszumachen. Das Bürgertum erhielt neue politische Rechte: die Wählbarkeit der Stadtverordneten und des Magistrats, ein eigenständiges Beschlussrecht, das Recht zur Erstellung von Statuten oder Satzungen, einen von der staatlichen Verwaltung freien Wirkungskreis über das selbstverantwortliche Etatrecht. Die Städteordnung gehört auch in der revidierten Form in die Vorgeschichte der lokalen Demokratie der Gegenwart. Andererseits sind die Rückschritte gegenüber der großen Reformzeit erkennbar.

Die Revidierte Städteordnung vom 17.03.1831 setzte den Zensus für Bürger- und Wahlrecht höher als die Städteordnung von 1808. Der Vorrang der Stadtverordnetenversammlung vor dem Magistrat wurde beseitigt. Der Magistrat bildete die Stadtobrigkeit. Die Staatsaufsicht wurde genauer geregelt. Stein bewertete die Revidierte Ordnung gleichwohl als eine Verbesserung. In den vier alten Provinzen wurde die Ordnung von 1808 dennoch bevorzugt. Nach Beratungen mit den Provinziallandtagen, an deren Ergebnis sich die Berliner Regierung aber nicht gebunden fühlte, wurde die Revidierte Ordnung angenommen in Sachsen und im ehemals sächsischen Gebiet Brandenburgs, in Posen und Westfalen. Schwedisch-Pommern behielt seine altständische Verfassung, die Rheinprovinz erklärte sich für die aus der französischen Zeit stammende Bürgermeisterverfassung. Mit dem Zugeständnis provinzialer Besonderheiten wurde das in der Nassauer Denkschrift entworfene Prinzip der Einheit aufgegeben.

Den Einfluss des Staates in der Städteordnung erhöhen, wie es die Revidierte Städteordnung beinhaltete, bedeutete hauptsächlich, dem Magistrat und besonders den Stadtverordneten Grenzen in ihren Kompetenzen zu setzen. Das schien Stein in den westlichen Provinzen, vor allem im Rheinland, am dringlichsten, da er hier die Staatsmacht nicht wie im Osten für fest etabliert hielt. Das Heilmittel brachte aber in der westlichsten Provinz Preußens nicht die Revidierte Städteordnung. Mit der Verteidigung der Bürgermeistereiverfassung beschritt die Rheinprovinz einen eigenen Weg, denn hier war die starke Stellung des Staates - ein französisches Erbe - schon im System angelegt.
 
 

2.3 Die Einführung

 
 
 
Dass das neue Gesetz zur "allgemeinen Zufriedenheit" ausfallen würde, stand für Stein außer Frage. Er erwartete dessen flexible Umsetzung durch die Aufstellung allgemeiner Grundsätze und die Zulassung regional- und ortsspezifischer Modifikationen. Da die Grundidee der Städteordnung, die selbstverantwortliche Verwaltung der eigenen Angelegenheiten, durchgängiges Verfassungsprinzip sein sollte, war es nach Stein nur folgerichtig, dass die verabschiedete Kreisordnung und die gleichzeitig beratene Landgemeindeordnung die ständische Mitwirkung in analoger Weise organisierten.

Voll überzeugt von der im Osten Preußens evident gewordenen Erfolgsgeschichte der Städteordnung, wäre es nach Stein ungerecht gewesen, den westlichen Provinzen die gleiche Gunst vorzuenthalten. Die Gewährung von Selbstverwaltung wertete er als einen Vertrauensbeweis: "Man zeige Vertrauen, so wird Vertrauen erwidert." Dass die Rheinprovinz dieses angebliche königliche Zugeständnis verschmähen würde, lief seiner Einschätzung total zuwider.

Stein spendete der Einräumung einer Wahlfreiheit für die Provinzialstände zwischen alter und neuer Städteordnung seinen vollen Beifall. Ohne Zweifel, so glaubte er, würden die westfälischen Städte die neue Ordnung wählen, "da die ältere hier nicht in das Leben getreten ist und in ihr auch manche Mängel der älteren abgeholfen sind." Entgegen seinen Erwartungen lehnten die Städtevertreter des Westfälischen Provinziallandtags im April 1831 jedoch die Revidierte Städteordnung ab und gaben der Ordnung von 1808 den Vorzug. Doch unbeeindruckt von ihrem Wunsch verfügte die Berliner Regierung auf dem nächsten Provinziallandtag (1832/1833) die Einführung der Ordnung von 1831. Bis 1834 verfügten fünf westfälische Städte über die neue Verfassung. Eine Kabinettsorder vom 18.03.1835 gewährte allen Städte die Genehmigung zur Einführung, doch machten insgesamt nur 67 davon Gebrauch.

Für die Verleihung der Städteordnung waren die Städte vorgesehen, die im Dritten Stand des Westfälischen Provinziallandtages wahlberechtigt waren. Das waren 98 Städte, die sich auf die sechs Wahlbezirke der Provinz verteilten. Der Kreis wurde jedoch noch enger gezogen, vor allem bei Städten unter 2.500 Einwohnern. Der Oberpräsident lehnte die Einführung vielfach für kleinere Kommunen ab, weil er in diesen Fällen die Zahl der zur Selbstverwaltung befähigten Bürger für zu niedrig hielt - eine Befürchtung, die auch Freiherr vom Stein zu eigen gewesen war. Aus Kostengründen lehnten ferner einige Kommunen die Städteordnung ab, weil sie mit der Verpflichtung zur Bestallung eines bezahlten Bürgermeisters und weiteren Dienstpersonals verbunden war. Das taten besonders Städte, die sich in Verwaltungsgemeinschaften mit Landgemeinden befanden (z. B. Telgte).

Am Ende führten 67 Städte die Ordnung ein, die übrigen 31 behielten ihre Rechte im Provinziallandtag und nannten sich "eigentliche Titularstädte". Schätzungsweise eine gleich große Zahl von Gemeinden durfte zwar den Titel "Stadt" tragen, hob sich jedoch in ihren Rechten nicht von den Landgemeinden ab. Nur in den Kreisen Halle und Meschede gab es keine Stadt, in der die Revidierte Städteordnung eingeführt wurde. Etliche Kreise beherbergten eine Stadt, einen Spitzenposition nahm Höxter mit sieben Städten ein.

Der Einführung der Revidierten Städteordnung ging ein Beratungsprozess voraus, der sich auf fünf Ebenen abspielte: innerhalb der Kommune, im Kreis, in der Bezirksregierung, im Oberpräsidium, in der Regierung zu Berlin. Erst mit der Genehmigung der Statuten durch das Innenministerium war er abgeschlossen. Einen Auftakt bildeten die Wahlen der Stadtverordneten, des Magistrats und des Bürgermeisters. Das Verfahren zog sich in den einzelnen Gemeinden unterschiedlich lange hin, die Veröffentlichungen der maßgeblichen amtlichen Verkündigungen lagen zwischen 1833 und 1843.
 
 
 
 

3. Die Städteordnung von 1856

 
 
 
Ein neuer Anlauf zur Herstellung einer einheitlichen Kommunalverfassung für Stadt und Land und in ganz Preußen wurde im Zuge und nach der Revolution von 1848/1849 unternommen. Die preußische Verfassung vom 06.02.1850 stellte die Gemeindeverfassung unter ihre institutionelle Garantie. Sie wurde am 11.03.1850 verabschiedet. Gewählte Vertretungskörperschaften wurden für Gemeinden, Kreise, Bezirke und Provinzen zugesagt. Die Gemeindeordnung hob die Unterscheidung von Bürgern und Schutzverwandten auf. Jeder Einwohner über 24 Jahren, der Steuern zahlte, einen Beruf ausübte und mindestens ein Jahr in der Gemeinde lebte, besaß das Bürgerrecht. Das nach drei Klassen gestufte Wahlrecht wurde im preußischen Staat allgemein durchgesetzt und galt auch für die Wahlen zur Zweiten Kammer. Der Name der Stadtverordnetenversammlung wurde in Gemeinderat geändert. Der Gemeinderat konnte bei einer Vernachlässigung seiner Pflichten vom Innenminister suspendiert werden. Insgesamt wurde die Staatsaufsicht noch einmal weiter ausgedehnt. Auch die Landgemeinden erhielten das Wahlrecht für ihre Vorsteher.

Das von der Gemeindeordnung angestrebte einheitliche Kommunalrecht hatte keinen Bestand, allerdings wurde am Dreiklassenwahlrecht mit offener Stimmabgabe bis zum Ende des Kaiserreichs festgehalten. Bereits nach zwei Jahren löste sich die Einheit auf. Im Jahre 1853 wurde für die sechs östlichen Provinzen eine neue Städteordnung erlassen. Westfalen erhielt am 19.03.1856 zum zweiten Mal eine spezifische Städteordnung und die Rheinprovinz am 15.05.1856 zum ersten Mal. Der Name Stadtverordnetenversammlung ersetzte wieder den des Gemeinderats. Die beiden Westprovinzen erhielten im gleichen Jahr auch eine neue Landgemeindeordnung, nachdem die preußische Regierung in Westfalen 1841 und im Rheinland 1845 die erste eingeführt hatte. In den östlichen Provinzen wurde 1856 gleichfalls eine Landgemeindeordnung eingeführt, die im Jahre 1891 durch eine neue ersetzt wurde. Stadtvorstand war in den östlichen Provinzen und in Westfalen grundsätzlich der Magistrat. In den Städten der Rheinprovinz galt weiterhin die Bürgermeisterverfassung. Bis 1918 blieben die in ihrer Substanz auf die Steinsche Städteordnung von 1808 zurückgehenden Kommunalverfassungen im wesentlichen in Kraft, zwischenzeitliche Reformversuche durch Innenminister Friedrich Graf zu Eulenburg und Finanzminister Johannes Miquel scheiterten.
 
 
 

4. Industrialisierung und Städtebildung

 
 
 
Während sich das kommunale Verfassungsrecht nach 1856 für Westfalen und in Preußen insgesamt kaum änderte, kam es infolge der Industrialisierung am Rande des Ruhrgebiets zu einer erheblichen Umgestaltung der Städtelandschaft. Am stärksten betroffen waren die Landkreise Bochum, Dortmund und Recklinghausen. Gab es bis 1875 mit der Provinzialhauptstadt Münster nur eine einzige kreisfreie Stadt neben 33 Landkreisen, so kamen von 1875 bis 1912 14 weitere Städte diesen Typs hinzu. Die ersten waren Dortmund, Bochum und Bielefeld. Gelsenkirchen, das erst 1875 von der Landgemeinde zur Stadt erhoben wurde, erwarb 1896 den Status einer kreisfreien Stadt. Aus den Titularstädten Witten und Hörde wurden 1899 und 1911 kreisfreie Städte. Darüber hinaus wurden einigen Gemeinden Stadtrechte (z. B. Rheine, Bad Oeynhausen, Wattenscheid, Versmold) verliehen, andere verloren den Status (so im Kreis Höxter vier von sieben Städten, im Kreis Warburg Borgentreich, im Kreis Brilon Niedermarsberg, Medebach, Hallenberg). Neben der Urbanisierung gab es demnach weiterhin eine mehr oder weniger statische ländliche Welt, für die die Landgemeinden kennzeichnend waren und blieben. Kennzeichen der Moderne war freilich die Stadtentwicklung am Rande des östlichen Ruhrgebiets.
 
 
 

5. Literaturauswahl

 
 
 
Burg, Peter
"... mit Sehnsucht erwartet und mit Dankbarkeit empfangen" - Freiherr vom Stein und die Revidierte Städteordnung. In: Westfälische Forschungen 57, 2007, S. 315-371

Clauswitz, Paul
Die Städteordnung von 1808 und die Stadt Berlin. Festschrift zur hundertjährigen Gedenkfeier der Einführung der Städteordnung, Berlin 1908.

Conrad, Horst
Kommunaler Konstitutionalismus und preußischer Parlamentarismus. Die Revidierte Städteordnung in der Provinz Westfalen 1831-1850, in: Karl Teppe/Michael Epkenhans (Hg.), Westfalen und Preußen. Integration und Regionalismus (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 3), Paderborn 1991, S. 47-81.

Conrad, Horst
Die Gemeindeordnungen in Westfalen 1800-1978. Ein Überblick. In: Archivpflege in Westfalen und Lippe 15, 1981, S. 21-25

Conrad, Horst
Die Einführung der Revidierten Städteordnung in der Provinz Westfalen. Ein Überblick. In: Archivpflege in Westfalen und Lippe 35, 1992, S. 8-12.

Gielisch, Dagmar
Die Diskussion um die Einführung der Revidierten Städteordnung von 1831 in Westfalen, M.A.-Arbeit Münster 1984 (ungedruckt).

Hartlieb von Wallthor, Alfred
Freiherr vom Stein und die Städteordnung in Westfalen. In: Die Stadt: Gestalt und Wandel bis zum industriellen Zeitalter (Städtewesen, 1), hg. von Heinz Stoob, 2., überarb. u. verm. Aufl., Köln 1985, S. 261-274.

Mieck, Ilja
Die verschlungenen Wege der Städtereform in Preußen (1806-1856). In: Bernd Sösemann (Hg.), Gemeingeist und Bürgersinn. Die preußischen Reformen (=Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Beiheft 2), Berlin 1993, S. 53-83.

Wex, Norbert
Staatliche Bürokratie und städtische Autonomie. Entstehung, Einführung und Rezeption der Revidierten Städteordnung von 1831 in Westfalen (=Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 19), Paderborn 1997.
 
 
 
 

6. Quellen im Internet-Portal