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Seminarsitzung 2


 
 
Thema
Verfolgungsnetzwerk -
Arbeitsteilige Zusammenarbeit von Steuer-, Zoll-, Polizeibehörden und Privatunternehmen
 
 
Leitfrage
Inwiefern wurden Ausplünderung und Verfolgung arbeitsteilig in Form eines Netzwerkes von Institutionen, Behörden und Privatunternehmen umgesetzt?
 
 
Lernziel
Die Studentin/der Student soll erkennen, dass die Ausgrenzung, Ausplünderung und Verfolgung der Juden durch die Zusammenarbeit verschiedener staatlicher und privater Einrichtungen arbeitsteilig organisiert wurde und die Finanzverwaltung ein aktiver Bestandteil dieses Verfolgungsnetzwerkes war.
Sabine Mecking

Verfolgung und Verwaltung
Die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden und die westfälischen Finanzbehörden


 
Einführung
War die Einhaltung der Devisenbestimmungen und Ausfuhrbeschränkungen in den beiden ersten Jahren nach der Machtübernahme noch nicht mit letzter Konsequenz überprüft worden und gab es gelegentlich noch Lücken im Kontrollnetz, so lässt sich ab 1935 eine zunehmende Verschärfung im Verfolgungs- und Ausraubungsprozess feststellen. Die Zusammenarbeit zwischen Steuer- und Zollbehörden, Ordnungspolizei und Gestapo wurde enger. Die Grenzen wurden stärker überwacht, das Meldeverfahren zwischen den einzelnen Dienststellen und Behörden ausdifferenziert und die Zusammenarbeit systematisiert. [31] Finanzämter, Hauptzollämter, Zollfahndungsstelle und Devisenstelle informierten sich gegenseitig über die Ausreiseabsichten von Juden, damit die einzelnen Dienststellen und Behörden schnell entsprechende Maßnahmen einleiten konnten. Mit dem Erlass vom 29.12.1936 leitete der Reichsfinanzminister die Verfügung der Gestapo betreffend die "Zusammenarbeit mit den Finanzbehörden bei Vorbereitungen zur Auswanderungen" an die ihm nachgeordneten Behörden weiter. Mit der Verwendung von vorgedruckten Ausreisemitteilungen wurde das Verfahren rationalisiert und die Meldungen ergingen in immer größerer Zahl. [32] Bereits im November 1935 hatte das Landesfinanzamt in Münster die Finanzämter, Hauptzollämter, die Zollfahndungsstelle Dortmund und die Devisenstelle angewiesen, "über alle Fälle, in denen Steuerpflichtige - insbesondere nichtarische Personen - ihre Bank- oder Postscheckguthaben abheben oder ihre Wohnungseinrichtung, Grundstücke, Maschinen u. dgl. zu verkaufen versuchen und hiernach anzunehmen ist, daß sie ins Ausland flüchten wollen, sofort der zuständigen Staatspolizeistelle ihres Bezirks und der Zollfahndungsstelle Dortmund Kenntnis zu geben." [33]
 
 
Für die Auswanderung aus dem Deutschen Reich hatte der Ausreisewillige nachzuweisen, dass keine Steuerrückstände bestanden. Die Devisenstelle erteilte die Genehmigung schließlich nur noch nach Vorlage eines Vermögensverzeichnisses und einer Unbedenklichkeitsbescheinigung des zuständigen Finanzamtes durch den Ausreisewilligen. Insbesondere sollte sichergestellt werden, dass vor der Auswanderung auch die "Reichsfluchtsteuer" entrichtet wurde. [34] Mit dem in sieben Durchschlägen erstellten, zweiseitigen Vordruck "Vorbereitende Maßnahmen zur Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland" [35] teilte z.B. das Finanzamt der Devisenstelle, der Geheimen Staatspolizei, der Zollfahndungsstelle, dem Gemeindevorstand (Steuerverwaltung) und der Reichsbank eine bevorstehende oder auch nur vermutete Auswanderung eines Juden mit. Verdachtsgründe konnten u.a. die Beantragung eines Reisepasses, die Auflösung eines Geschäfts oder der Wohnung und der Verkauf von Grundstücken sein.

Gleichzeitig informierten Versicherungsgesellschaften oder Banken über vermögende Juden und damit potentielle Ausreisekandidaten sozusagen im "vorauseilenden Gehorsam", so dass die Devisenstelle u.a. durch Sicherungsanordnungen schnell auf das Vermögen und die Gelder der entsprechenden Person zugreifen konnte, ohne dass der Betroffene überhaupt einen Ausreisewunsch geäußert hatte. [36] Der Verdacht bzw. die Unterstellung von Auswanderungsvorbereitungen reichte bereits aus, um Juden das Verfügungsrecht über ihr Eigentum zu entziehen. Diese Ausreisevermutung konnte sowohl von anderen Behörden als auch von Privatunternehmen geäußert werden, indem z.B. die Reichspost die Beantragung eines Nachsendeantrages meldete bzw. die Reichsbahn oder Lagerbesitzer die Aufgabe von Aufbewahrungsgepäck, Spediteure den Transport entsprechender Güter oder Makler den Verkauf einer Immobilie oder eines Grundstückes meldeten.

Die enge Zusammenarbeit von Finanz-, Zoll- und anderen Behörden, Polizei, Banken, Versicherungen und Privatunternehmen verengte die letzten Freiräume der Juden zunehmend. War eine Person an einer Stelle im Kontrollnetz als "ausreisewillig" aufgefallen, so setzte das "Verfahren" sofort ein. Ab 1936 wurden generell alle Juden verdächtigt, potentielle Kapitalschmuggler zu sein. Einmal erfasst, konnte sich der Betroffene dem Prozess der wirtschaftlichen und finanziellen Auspressung faktisch nicht mehr entziehen. Hierbei war es ohne Bedeutung, ob die Auswanderungsabsicht tatsächlich vom Betroffenen geäußert worden war oder ob sie ihm lediglich unterstellt wurde.

Der mit diesen Rechtsnormen und Maßnahmen verbundene "Spießrutenlauf durch die Bürokratie" [37] wird im Fall der Familie Baer aus Bielefeld sehr deutlich. Nach dem Bekanntwerden des Auswanderungswunsches der Baers im Juni 1938 wurden von der Devisenstelle sofort die anderen Dienststellen und Behörden des Kontroll- und Verfolgungsnetzwerkes informiert, damit diese entsprechende Maßnahmen zur Geld- und Vermögensabschöpfung einleiten konnten. Im Zuge der Ausschreitungen in der Pogromnacht im November 1938 wurde Richard Baer verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht, wo er bereits nach wenigen Tagen starb. Nun forcierte seine schwangere Ehefrau Irmgard Baer die Emigrationsvorbereitungen. Doch die Auswanderung verzögerte sich. Erst nach der Geburt des zweiten Sohnes Ruben, als alle Bescheinigungen eingeholt, Verzeichnisse ausgefüllt und Abgaben gezahlt waren, erteilte die Devisenstelle mit Datum vom 31.08.1939 der (Rest-)Familie Baer die Genehmigung zur Ausreise. [38] Doch diese Erlaubnis kam zu spät. Mit dem Einfall deutscher Truppen in Polen, dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am folgenden Tag, konnte sie das Reich nicht mehr verlassen. Im Juli 1942 erfolgte ihre Deportation nach Theresienstadt. Von dort wurde Irmgard Baer (34 Jahre) mit ihren beiden Söhnen Heinrich (10 Jahre) und Ruben (5 Jahre) am 12.10.1944 nach Auschwitz gebracht, wo sie ermordet wurden. [39]
 
 
Fragen und Arbeitsaufträge
  • Zeichnen Sie skizzenartig das "Kontroll- und Verfolgungsnetz" nach, das Behörden und nichtstaatliche Einrichtungen knüpften, um möglichst alle Vermögenswerte der auswandernden Juden erfassen und einziehen zu können!
  • Die Familie Baer plante die Ausreise. Welche Sachen durften laut Umzugsgutverzeichnis für den Säugling Ruben zum Aufbau einer neuen Existenz ins Ausland mitgenommen werden und was nicht?
  • Wie lässt sich die "reibungslose" Zusammenarbeit zwischen Behörden und Privatunternehmen bei der Abschöpfung des jüdischen Vermögens Ihrer Meinung nach erklären?
  • Diskutieren Sie verschiedene Handlungsmöglichkeiten des Finanzbeamten, der 1942 den Hinweis der städtischen Sparkasse bezüglich des nicht gesperrten Sparkontos von Hans Oppenheim, einem Sohn der jüdischen Arztfamilie aus Petershagen, erhielt!
  • Wie ist das Verhalten der Behörden und privaten Einrichtungen bei der Abschöpfung des jüdischen Vermögens Ihrer Meinung nach zu bewerten?
 
 
Anmerkungen
[31] Vgl. Blumberg: Zollverwaltung, S. 325.
[32] Birkwald: Steuerverwaltung, S. 258f.; Blumberg: Zollverwaltung, S. 325, 328ff.
[33] Verfügung des LFA Münster vom 25.11.1935 mit der Weitergabe der Rundverfügung des LFA Berlin vom 06.11.1935 und dem Erlass der Preußischen Geheimen Staatspolizei und des Politischen Polizeikommandeurs der Länder vom 26.10.1935, zit. nach Blumberg: Etappen, S. 22f.
[34] Blumberg: Zollverwaltung, S. 324.
[35] Siehe Quelle 8.
[36] Siehe z.B. Quelle 9.
[37] Peter Gay: Meine deutsche Frage. Jugend in Berlin 1933-39, München 1999, S. 164.
[38] Siehe Quelle 7.
[39] Siehe hierzu weiter Alfons Kenkmann: Der Beamte als "germanischer Kavalier". Historisches Lernen am Beispiel von Verfolgung und Verwaltung, in: Kenkmann/Rusinek: Verfolgung, S. 151-167, hier S. 156f.