Zeitabschnitte > 1918-1933





 

1. Wahl zur Nationalversammlung (19.01.1919)

 
 
 
Die Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) hatten nach ihrer Machtübernahme im Reich noch im November 1918 im Rat der Volksbeauftragten - der Revolutionsregierung aus MSPD und den linkssozialistischen Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) - die Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung durchgesetzt. Sie sollte aus allgemeinen und freien Wahlen hervorgehen und über die bevorstehende Neuordnung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland entscheiden. Auf dem allgemeinen Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte Mitte Dezember des Jahres in Berlin setzte die große Mehrheit der SPD-nahen Delegierten gegen die linkssozialistischen Rätevertreter den 19.01.1919 als Wahltermin fest.

Einen solchen frühen Termin hatten auch das westfälische Bürgertum und seine Parteien seit Beginn der scharfen Auseinandersetzung um die Einberufung der Nationalversammlung nachdrücklich gefordert. Ein demokratisch gewähltes Parlament sahen sie als einzige Gewähr an, um eine befürchtete vorübergehende oder dauerhafte Alleinherrschaft der Räte nach sowjetischem Vorbild zu verhindern. "Für die Nationalversammlung, gegen den Bolschewismus!" lautete daher die Parole, mit der die bürgerlichen Parteien Westfalens an der Jahreswende 1918/19 in den Wahlkampf zogen.
 
 
Für die Wahl selbst galt ein geändertes Wahlrecht. Der Rat der Volksbeauftragten hatte das allgemeine und gleiche Wahlrecht eingeführt. Anders als im Kaiserreich waren jetzt auch Frauen und Soldaten wahlberechtigt; gleichzeitig war das wahlfähige Alter von 25 auf 20 Jahre herabgesetzt worden. Der Wahlkampf fand in einer Atmosphäre politischer Erhitzung statt. Die überwiegend katholische Bevölkerung Westfalens sah sich vor allem durch Pläne der sozialdemokratisch geführten Übergangsregierung in Preußen zur Aufhebung des Religionsunterrichtes an den Schulen des Landes herausgefordert. Ihr Bekanntwerden hatte Erinnerungen an den "Kulturkampf" des 19. Jahrhunderts wach gerufen und die kirchentreuen Katholiken mobilisiert. Meldungen über linksradikale Aufstandsversuche in Berlin und anderen Teilen des Reiches verstärkten die außerhalb des Ruhrgebiets verbreitete Stimmung gegen das "rote Berlin" und das protestantische Preußen.
"Neue Ordnungen":
Feature "Ereignis des Monats": Julia Paulus über die  Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland
 
 
Der Wahlausgang brachte einen klaren Sieg der bürgerlichen Parteien. Im Wahlkreis Westfalen-Nord, der die Regierungsbezirke Münster und Minden umfasste, kamen Zentrum, linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) sowie die rechtsbürgerliche Deutsche Volkspartei (DVP) auf zusammen 58,5 % der Stimmen. Stärkste politische Kraft wurde die katholische Zentrumspartei mit 42,1 %. Ihr Stimmenanteil lag auch allgemein in Westfalen mehr als doppelt so hoch wie im Reichsdurchschnitt (19,7 %). Die Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) kamen in Westfalen-Nord auf 30,6 %; in Westfalen-Süd, dem Regierungsbezirk Arnsberg mit einem erheblichen Anteil an Industriearbeitern, erzielten sie dagegen 41,3 %. Die ersten politischen Wahlen nach der Revolution wichen insgesamt wenig von dem Ergebnis der letzten Reichstagswahl von 1912 ab. Die große Stimmenmehrheit am 19.01.1919 für die staatstragenden Parteien der so genannten Weimarer Koalition aus Zentrum, DDP und MSPD (Westfalen-Nord: 82,5 %) zeigte zudem, dass der Übergang zur bürgerlichen parlamentarischen Demokratie dem politischen Wollen eines Großteils der wahlberechtigten Westfalen entsprach.
 
 
 
 

2. Kapp-Putsch und Ruhraufstand 1920

 
 
 
Die junge Republik war noch ungefestigt, als am 13.03.1920 rechtsradikale Freiwilligeneinheiten, so genannte Freikorps, in Berlin einmarschierten und die Reichsregierung des Sozialdemokraten Gustav Bauer für abgesetzt erklärten. Die Bevölkerung Westfalens erfuhr schon aus den Morgenzeitungen von dem gegenrevolutionären Putschversuch unter General von Lüttwitz und dem ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp.

Der Kommandierende General des Wehrkreiskommando VII in Münster, Generalleutnant von Watter, verweigerte bis zum 16. März eine öffentliche Erklärung zugunsten der alten Regierung. Die Zentrumspresse, SPD und DDP verurteilten dagegen das Umsturzunternehmen in ersten Reaktionen als unrechtmäßig und verbrecherisch. In vielen Städten, wie in Münster, folgten Arbeiter, Angestellte und auch Teile der Beamtenschaft dem Aufruf von SPD und Freien Gewerkschaften zum Generalstreik. Die größte Zustimmung für den Streikaufruf gab es im Ruhrgebiet, das schon seit Monaten immer wieder von sozialen und politischen Unruhen erfasst wurde.

Weite Teile der Ruhrarbeiterschaft waren tief enttäuscht über die Ergebnisse der Revolution, die nicht zu einer sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung geführt hatte. Hinzu kam großer Hass auf die Freikorps, deren sich die sozialdemokratische Reichsregierung im Frühjahr 1919 im Kampf gegen linke Aufstandsversuche bediente. Schon unmittelbar nach Bekanntwerden der Ereignisse in Berlin begannen sich die politisch erregten Arbeiter unter Führung lokaler Vollzugsräte aus Sozialdemokraten, Linkssozialisten und Kommunisten zu bewaffnen und Milizen zu bilden. Am 15. März gelang ihnen in Herdecke die Überwältigung einer zahlenmäßig unterlegenen Abteilung des Freikorps Lichtschlag. Von diesem Erfolg ermutigt bildete sich binnen kurzem eine größere Arbeiterstreitmacht von etwa 50.000 bis 80.000 Mann. Am 16. März hatte diese so genannte Rote Ruhrarmee Dortmund erobert, und nur wenige Tage später kontrollierte sie nahezu das gesamte Ruhrgebiet.

Als am 17.03.1920 der Kapp-Putsch im Reich zusammenbrach, kämpften die Arbeiter weiter. Aus dem Abwehrkampf gegen den Rechtsputsch wurde jetzt eine linke Aufstandsbewegung, in der die radikalen Kräfte die Oberhand gewonnen hatten. Sie riefen zum Sturz der Regierung auf und wollten die Errichtung einer Rätediktatur erzwingen. Am 23./24. März unternahm der SPD-Politiker Carl Severing im Auftrag der Reichs- und der preußischen Regierung in Bielefeld den Versuch, in Verhandlungen mit Vertretern der Aufständischen zu einer politischen Lösung des Konflikts zu gelangen. Doch die Mehrzahl der kämpfenden Arbeiter lehnte das so genannte Bielefelder Abkommen vom 24. März ab. Daraufhin erteilte die Reichsregierung Anfang April General von Watter den Befehl zum Einmarsch ins Aufstandsgebiet. Die Militäraktion stützte sich auf reguläre Reichsverbände und Freikorpseinheiten, von denen einige als republikfeindlich gelten mussten. Dabei gingen die Regierungstruppen vielerorts mit rücksichtsloser Härte und Brutalität vor. Das letzte Gefecht des "Ruhrkriegs" fand am 6. April in Gelsenkirchen statt und markierte die vollständige Niederlage der aufständischen Ruhrarbeiterschaft.
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Kommunistischer Instrukteur bei der Vorführung eines Maschinengewehrs, um 1920

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Die zumeist mit Duldung oder auf Anregung des sozialdemokratischen Reichswehrministers Gustav Noske von ehemals kaiserlichen Offizieren aufgestellten Freiwilligenverbände ("Freikorps") richteten sich gegen kommunistische und linksextreme Aufstände, die sie blutig niederschlugen. Diese antirepublikanischen Verbände, die 1919 ca. 400.000 Mann in ca. 150-200 Freikorps umfassten, wurden 1920 offiziell aufgelöst, bestanden in verschiedenen Formen jedoch weiter. Das Freikorps Epp, das am 06.04.1920 in Dortmund einmarschierte (Foto), war an der Niederschlagung des dortigen Aufstands beteiligt - vier Tage zuvor hatten sie bei Pelkum nach einem Gefecht mit Rotarmisten mehrere Verwundete und zehn Sanitäterinnen der Roten Ruhrarmee sowie weitere Aufständische "auf der Flucht" erschossen.

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In seiner Zeit als preußischer Minister (1920-1932) setzte sich der Sozialdemokrat  Carl Severing (1875-1952) für die politische Stabilität des Landes ein.
 
 
 

3. Ruhrbesetzung 1923

 
 
 
Im Frühjahr 1923 geriet das Ruhrgebiet erneut in den nationalen und internationalen Blickpunkt. Am 11. Januar rückten französische und belgische Truppen in Stärke von 60.000 Mann in das Revier vor. Bis zum 16. Januar nahmen sie ein Gebiet bis zur Lippe im Norden, bis Lünen, Dortmund und Hörde im Osten sowie zu den Höhen zwischen Ruhr und Wupper im Süden ein. Die französische Regierung Poincaré begründete die Besetzung mit rückständigen deutschen Reparationslieferungen an Kohle und Holz für Telegrafenstangen. Es ging um Wiedergutmachungsleistungen, die Deutschland im Versailler Vertrag von 1919 als Folge des verlorenen Ersten Weltkrieges auferlegt worden waren. Das rheinisch-westfälische Industriegebiet mit seinen Kohlevorräten galt der französischen Regierung als ein geeignetes Druckmittel, um Deutschland zur Erfüllung seiner Reparationsverpflichtungen zu zwingen und es zugleich wirtschaftlich dauerhaft zu schwächen.
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Aufmarsch einer französischen Artillerie-Einheit am Essener Hauptbahnhof, Januar 1923
 
 
Die Reichsregierung des parteilosen Wilhelm Cuno (1922/23) rief die Bevölkerung an Rhein und Ruhr zum passiven Widerstand auf. Auch Arbeitgeber und Gewerkschaften sowie die Behörden unterstützen den regionalen Generalstreik. Es kam zu Arbeitsverweigerungen und Sabotageakten, die den Abtransport vor allem von Kohle verhindern sollten. Die Besatzungsmacht reagierte mit Ausgangssperren, Beschlagnahmungen und Ausweisungen. Bis Juli 1923 wurden 70.000 Beamte, zu einem großen Teil Bedienstete der Bahn, ins unbesetzte Gebiet abgeschoben.

Ein besonders schwerer Zwischenfall ereignete sich, als am 31. März französische Soldaten 13 Arbeiter der Krupp-Werke erschossen, die versucht hatten, die Beschlagnahme von Lastkraftwagen auf dem Werksgelände aufzuhalten. Die Härte der Franzosen steigerte die Empörung der Bevölkerung und ermunterte zugleich zahlreiche nationalistische Abenteurer zum aktiven Widerstand. Ehemalige Freikorpskämpfer und Mitglieder rechter Wehrverbände verübten mit Wissen und Unterstützung des Wehrkreiskommandos in Münster Anschläge auf Eisenbahnen und Kanäle sowie Attentate auf Besatzungssoldaten.

Der Widerstand vermochte die Franzosen jedoch nicht zum Nachgeben zu bewegen. Gleichzeitig verursachte er immer höhere finanzielle Lasten. Das Reich musste Hunderttausende von Arbeitslosen in den besetzten Gebieten unterstützen, während Steuereinnahmen und Kohlelieferungen von dort ausblieben. Der passive Widerstand erforderte täglich fast 40 Millionen Goldmark und wurde unbezahlbar. Die neue Reichsregierung unter Gustav Stresemann (DVP) zog am 29.09.1923 die Konsequenzen und erklärte ihn auch gegen den vehementen Protest der rechtsnationalen Presse für beendet. Der so genannte Dawes-Plan von August 1924 führte zu einer Neuregelung der Reparationen und legte so den Grundstein zur Aufhebung der Besatzung. Der Landkreis Dortmund und Hörde kamen am 22. Oktober des Jahres frei; die letzten französischen und belgischen Truppen zogen am 31.07.1925 aus dem Ruhrgebiet ab. Die Ruhrkrise hinterließ gleichwohl weiter wirkende mentale Spuren; vor allem steigerte sie den Hass auch vieler Westfalen auf die Franzosen, die ihre Region "mitten im Frieden überfallen" hatten und durch die Art ihrer Besatzungsherrschaft viele nationalistische Vorurteile zu bestätigen schienen.
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Dortmunder Protestplakat gegen die französische Ruhrbesetzung, 1923


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Plakat der Kultur Liga: "Hände weg vom Ruhrgebiet!"


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"Personal-Ausweis: Gültig nur für die Einreise in das [französisch] besetzte Gebiet", 1923
 
 
 

4. Inflation

 
 
 
Neben der Ruhrbesetzung war das Krisenjahr 1923 vor allem durch eine katastrophale Geldentwertung geprägt. Die Inflation hatte schon während des Ersten Weltkrieges begonnen, ausgelöst durch die Art der deutschen Kriegsfinanzierung über kurzfristige Kredite und Anleihen. Nach 1918 war das öffentliche Defizit infolge der Reparationslasten und von Sozial- und Beschäftigungsprogrammen weiter angestiegen. Entsprechend wurde der Geld- und Notenumlauf gesteigert. Ihren letzten Schub erhielt die Inflation 1923 durch die Ruhrbesetzung, als die Reichsregierung zur Finanzierung des passiven Widerstandes die Notenpresse auf Hochtouren laufen ließ.

Der dramatische Verfall der deutschen Währung 1922/23 führte dazu, dass im Januar 1923 schon nur noch in Tausenden, seit August in Millionen und im Oktober in Milliarden gerechnet wurde. Ein Liter Vollmilch kostete in Münster am 8. August 30.000 Mark, am 18. August 100.000 Mark und am 9. September 600.000 Mark. Der Paderborner Kleinhandel verlangte am 23. Oktober für einen Zentner Kartoffeln 5 Milliarden Mark. In den folgenden letzten Wochen der so genannten Hyperinflation, im Spätherbst 1923, verlor das Geld täglich und fast stündlich an Wert. Gleichzeitig schritt die drastische Entwertung von Löhnen, Gehältern, Pensionen und den ohnehin niedrigen Sozialunterstützungen immer rascher voran. Wer Geld erhielt, musste es nunmehr umgehend wieder ausgeben; anderenfalls drohten untragbare Verluste.
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Wohltätigkeitsorganisationen aus den USA versorgten nach dem Ersten Weltkrieg deutsche Schulkinder mit Nahrungsmitteln. Der Dank wurde in Form von Fotografien übermittelt - wie hier 1923 in Münster, zusammen mit Oberbürgermeister Dr. Sperlich (rechts). Auf dem Plakat ist zu lesen: "Die deutschen Kinder sagen ihren lieben Freunden in Amerika innigen Dank! Münster"
 
 
Die Bauern in den ländlichen Teilen Westfalens weigerten sich aber inzwischen, Kartoffeln, Eier oder Fleisch gegen praktisch wertloses Papiergeld abzugeben. Gleichzeitig begannen die Kleinhändler in den Städten, ihre Waren zu horten und ihre Verkaufszeiten einzuschränken. In der Folge griff die akute Not auch auf diejenigen über, die noch über eine bezahlte Arbeit verfügten. Die hungernden Verbraucher schritten nun vielfach zu illegalen "Selbsthilfeaktionen". Aus den Städten südlich der Emscher zogen die Menschen in Scharen in die landwirtschaftliche Umgebung von Buer, um die Äcker zu plündern, und zu Tausenden erschienen sie auch auf den Feldern des Ruhrtals. Das Hamstern wurde zur notwendigen Alltagsverrichtung vieler. Mancherorts führte der aufgestaute Zorn der verzweifelten Verbraucher auch zu Ausschreitungen gegen die Lebensmittelhändler, denen viele eine Mitschuld an der horrenden Teuerung gaben.
 
 
 
Die Stadtverwaltungen versuchten die Notlage zu mildern, indem sie etwa Beihilfen zum Kauf von Nahrungsmitteln, Kohlen und Kleidern gewährten sowie öffentliche Speisungen durchführten. Zu den Hauptopfern der verheerenden Inflation zählten Rentner und allein stehende Witwen, die ihren Lebensunterhalt von angespartem Geldvermögen bestreiten mussten. Nach dem harten Währungsschnitt von Mitte November 1923 und der Einführung der neuen so genannten Rentenmark trat ihre vollständige Verarmung offen zutage. Viele dieser Betroffenen machten in ihrer Verbitterung den demokratischen Staat und die angeblich untätigen Politiker für ihr Schicksal verantwortlich.
 
 
 
 

5. Weltwirtschaftskrise

 
 
 
Nach der Inflation verzeichnete die deutsche Wirtschaft nur wenige Jahre einer vergleichsweise stabilen Entwicklung. Seit Herbst 1928 stellte sich erneut eine deutliche Konjunkturdämpfung ein, die zeitlich fortschreitend den Charakter einer schweren Krise annahm. Infolge fehlender Absatzmöglichkeiten brach die Produktion auf breiter Front ein; gleichzeitig schnellten die Arbeitslosenzahlen in die Höhe. Die stark schwerindustriell ausgerichtete, exportorientierte Wirtschaft des Ruhrreviers wurde von den Auswirkungen der weltweiten Depression besonders hart getroffen. Zwischen 1929 und 1933 ging allein die Eisenproduktion an Rhein und Ruhr um fast 60 % zurück, die Stahlerzeugung um 54 %. Ähnlich drastische Einbrüche ergaben sich für den Bergbau und die westfälische Bauwirtschaft.
 
 
 
Im Frühjahr 1932 erreichte die Branchen übergreifende Wirtschaftskrise auch in Westfalen ihren Höhepunkt. Allein im Ruhrbergbau waren inzwischen 120.000 Menschen arbeitslos. Der Schwerpunkt der Erwerbslosigkeit lag im Hagen-Schwelmer Raum sowie in den Industriestädten wie Solingen, Herne und Dortmund. Noch am wenigsten ungünstig war im Vergleich dazu die Situation im ländlich geprägten Regierungsbezirk Minden sowie in den gering industrialisierten Städten wie Münster. Im Durchschnitt ergab sich in Westfalen 1932/33 eine Arbeitslosigkeit von 23 % (Ruhrgebiet: 31,2 %). Bei gleichzeitig sinkenden Löhnen führte die massenhafte Erwerbslosigkeit neuerlich zu einer verbreiteten Verarmung der westfälischen Bevölkerung.
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Bankenkrise - Kunden vor der "Darmstädter und Nationalbank", Juli 1931
 
 
Besonders schlimm war die Lage für die direkt Betroffenen und ihre Familien, die lediglich für 12 bis 26 Wochen Arbeitslosen- bzw. eine so genannte Krisenunterstützung erhielten. Danach fielen sie der gemeindlichen Fürsorge anheim, die kaum mehr das Existenzminimum sicherte. In Hamm etwa waren am Jahresende 1932 bereits 28 % der gesamten Einwohnerschaft von öffentlichen Zuwendungen in Form von Geld- und Sachzuweisungen abhängig geworden. Die Gemeinden gerieten dadurch ihrerseits in immer größere Finanznot, die ihren Spielraum für ein Gegensteuern gegen die ärgste Not verkleinerte. Dennoch taten sie ihr Möglichstes, richteten öffentliche Notküchen, Nähstuben oder Wärmehallen ein und organisierten eigene Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen besonders im Straßen- und Wegebau. Aber auch wer noch nicht erwerbslos geworden war, litt unter der Furcht vor dem drohenden sozialen Abstieg. Hinzu kam die deprimierende Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher. Als Folge breiteten sich zunehmend Zukunftsangst, Mutlosigkeit, Verzweiflung und auch Wut über die anscheinend wirkungslose Anti-Krisenpolitik vor allem der Reichsregierung unter Heinrich Brüning (Zentrum) aus. Diese Stimmung 1930/32 bot den radikalen Parteien von links und rechts, der KPD sowie der NSDAP, höchst günstige Ansatzmöglichkeiten für ihre Agitation gegen den Kapitalismus und den republikanischen Staat.
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Jugendliche Arbeitslose, um 1930
 
 
 

6. Entwicklung und Aufstieg der NSDAP
in Westfalen bis 1933

 
 
 
Die Geschichte der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei reicht auch in Westfalen in die frühe Nachweltkriegszeit zurück. Eine erste regionale Ortsgruppe der NSDAP bildete sich im Juni 1920 in Dortmund, hervorgegangen aus dem völkisch-antisemitischen Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund von 1919. Bis Ende 1923 kamen weitere Parteistützpunkte unter anderem in Hagen, Münster und Hattingen hinzu. Es handelte sich um kleine verschworene Gemeinschaften, die damals mit einer Vielzahl militant-nationalistischer Bünde und Zirkel konkurrierten. Nach der Entlassung Hitlers aus der Landsberger Festungshaft und dem Ende der Verbotszeit in Preußen und im Reich begann sich die Partei seit dem Frühjahr 1925 allmählich zu festigen.

Ihre regionale Zentralorganisation stellte seit Oktober 1928 ein neuer Gau Westfalen dar. Er umfasste die gesamte Provinz und wurde im Januar 1931 entsprechend den Reichstagswahlkreisen nochmals in die Gaue Süd und Nord aufgeteilt. An der Spitze des Südgaus mit Sitz in Bochum stand der regional bekannte Lehrer und nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete Alfred Wagner; den Nordgau mit Sitz in Gelsenkirchen, seit Oktober 1932 in Münster, leitete der Nationalökonom Dr. Alfred Meyer. In ihrer Frühzeit und in der sich anschließenden Konsolidierungsphase nach den Verbotsjahren von 1923/25 kämpfte die westfälische NSDAP immer wieder mit internen Führungsstreitigkeiten sowie Geld- und Mitgliedermangel. Der Ortsgruppe Dortmund beispielsweise gehörten im Jahre 1925 nicht mehr als 50 Personen an; den größten Ortsverband stellte zu dieser Zeit Hattingen mit 117 Mitgliedern. Das Gros der Parteimitglieder war damals zwischen 20 und 30 Jahren und entstammte überwiegend dem unteren Mittelstand. In einzelnen Industriestädten des Reviers spielten neben kleinen Angestellten und Gewerbetreibenden auch Arbeiter zahlenmäßig eine Rolle.
Zum Thema "Nationalsozialismus" bietet das Internet-Portal online weitere
Quellen und Medien an

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Plakat zur Ankündigung einer Protestveranstaltung der "National-Sozialistischen Freiheitsbewegung, Kreisverein Münster", am 29.11.1924 in Münster gegen die weitere Inhaftierung Adolf Hitlers

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"Öffentliche Volks-Versammlung" der NSDAP-Ortsgruppe Hattingen gegen die "Warenhausseuche", 30.03.1928
 
 
Die ersten nennenswerten Erfolge erzielte die NSDAP bei den Kommunalwahlen im November 1929. Der eigentliche politische Durchbruch folgte dann mit den Reichstagswahlen vom 14. September 1930, die bereits im Zeichen der aufziehenden Weltwirtschaftskrise standen. Aber schon bei diesen wie auch bei den weiteren Wahlgängen in der Endphase der Weimarer Republik war die Partei Hitlers in Westfalen weniger erfolgreich als im Reich. Dies zeigte sich beispielhaft bei den hart umkämpften Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932, bei denen die NSDAP mit 37,4 % der Wählerstimmen allgemein triumphierte, während sie in Westfalen-Süd und in Westfalen-Nord mit 27,2 % bzw. 25,7 % deutlich schlechter abschnitt. In einigen katholischen Landkreisen kam sie nicht einmal auf 10 % - in Büren waren es nur 7,8 %, im sauerländischen Olpe 9,4 %. Überdurchschnittlich gute Resultate verbuchte die NSDAP demgegenüber in Gegenden mit einem relativ starken evangelischen Bevölkerungsanteil, so im Landkreis Lübbecke (60,7 %) und im ostwestfälischen Lemgo (44,0 %).
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Wahlplakate, 1932
 
 
Trotz solcher lokaler Erfolge waren den Nationalsozialisten stärkere Einbrüche in die Reihen der weiterhin zentrumstreuen westfälischen Katholiken sowie der Arbeiterschaft mit ihrer insgesamt fest gefügten politischen Ausrichtung auf SPD und auch KPD nicht gelungen. Insbesondere das Münsterland, das Paderborner Land, das Sauerland sowie die Arbeitergroßstädte an Rhein und Ruhr trugen also zu den reichsweiten Wahlerfolgen des Nationalsozialismus in den frühen dreißiger Jahre vergleichsweise wenig bei.
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Wahlkampfbesuch: Adolf Hitler mit Gauleiter Alfred Meyer in der Halle Münsterland 1932
 
 
 

7. Literatur

7.1 Allgemeine Geschichte


Büttner, Ursula
Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Stuttgart 2008.

Grevelhörster, Ludger
Kleine Geschichte der Weimarer Republik 1918-1933. Ein problemgeschichtlicher Überblick. Münster 2000.

Longerich, Peter
Deutschland 1918-1933. Die Weimarer Republik. Handbuch zur Geschichte. Hannover 1995.

Möller, Horst
Weimar. Die unvollendete Demokratie. 7. Aufl. München 2004.

Winkler, Heinrich August
Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. 3. Aufl. München 1998.
 
 
 

7.2 Westfälische Geschichte

Abelshauser, Werner / Himmelmann, Ralf (Hg.)
Revolution in Rheinland und Westfalen. Quellen zu Wirtschaft, Gesellschaft und Politik 1918-1923. Essen 1988.
Das Werk befasst sich mit den zentralen politischen und wirtschaftlich-sozialen Ereignissen und Entwicklungen der frühen Nachweltkriegszeit, so wie sie sich vor allem in den städtischen Zentren an Rhein und Ruhr alltagswirksam zeigten. Im Vordergrund stehen die revolutionären Umwälzungen von 1918/19 im Ruhrgebiet, der Ruhraufstand von 1920 sowie die Inflation von 1922/23 und ihre sozialen Folgen. Das Buch kombiniert jeweils informative Aufsätze mit aussagekräftigen wichtigen Quellen.

Behr, Hans Joachim
Die Provinz Westfalen und das Land Lippe 1813-1933. In: Wilhelm Kohl (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert, Politik, Kultur, Düsseldorf 1983, S. 45-164 (hier S. 128-153).
Der Aufsatz bietet einen einführenden Überblick über die politische Geschichte Westfalens in der Zeit der Weimarer Republik. Schwerpunkte der - gut lesbaren, faktenreichen - Darstellung bilden die revolutionären Jahre nach dem Ersten Weltkrieg sowie die frühen 1930 er Jahre, wobei es hier vor allem um die regionale Wahlentwicklung und das Abschneiden der einzelnen Parteien bei den Wahlgängen der damaligen Zeit geht. Angefügt sind zudem Hinweise auf weiter führende Quellenwerke und Darstellungen zu verschiedenen Teilthemen der westfälischen Geschichte der "Weimarer Phase".

Böhnke, Wilfried
Die NSDAP im Ruhrgebiet 1920-1933. Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bd. 106. Bonn-Bad Godesberg 1974.
Das Buch informiert zuverlässig über die Anfänge und Entwicklung der NSDAP an Rhein und Ruhr bis zur so genannten Machtergreifung im Reich. Es konzentriert sich auf die organisationsgeschichtliche Perspektive und bietet insbesondere zur Frühgeschichte der "Hitler-Bewegung" in den Ruhrgebietsstädten wichtige Einblicke und Angaben.

Borscheid, Peter
Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (1914-1945). In: Wilhelm Kohl (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 3: Das 19. und das 20. Jahrhundert. Wirtschaft und Gesellschaft, Düsseldorf 1984, S. 313-438 (hier S. 313-340).
Der Aufsatz skizziert die Entwicklung der westfälischen Wirtschaft vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg, wobei der Autor die wichtigsten Branchen und Sektoren jeweils in einer in sich abgeschlossenen Darstellung durchgehend behandelt. Thematisiert werden die Landwirtschaft, der Bergbau, die Eisen- und Stahlindustrie, die Metall verarbeitende Industrie, die Textilindustrie, Handwerk, Handel, Banken sowie die Energie- und Wasserwirtschaft. Gezeigt wird schließlich, wie sich die wechselvolle wirtschaftliche Entwicklung auf die soziale Lage bzw. die Einkommensverhältnisse großer Teilgruppen der westfälischen Bevölkerung konkret auswirkte.

Grevelhörster, Ludger
Die Zeit der Weimarer Republik (1918-1933). Geschichte original - am Beispiel der Stadt Münster, Mappe 19. Münster 1995.
Das Sammelwerk zeichnet die Geschichte Münsters von 1918 bis 1933 in ihren Hauptzügen nach. Die behandelten Themen reichen von der Revolution 1918/19 über Inflation und Weltwirtschaftskrise bis hin zu den Maßnahmen der Stadt zur Bekämpfung von Lebensmittelknappheit, Wohnungsnot und großer Arbeitslosigkeit in der Endphase der Weimarer Republik. Der Darstellung sind zur Veranschaulichung zentrale Schrift- und Bilddokumente beigefügt, die sich auch zum unterrichtlichen Einsatz eignen.

Krüger, Gerd
'Treudeutsch allewege'. Gruppen, Vereine und Verbände der Rechten in Münster (1897-1929/30). Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, (NF) Bd. 16: Ser. B, Monographien, Nr. 3. Münster 1992.
Gegenstand dieser quellengesättigten Arbeit ist die so genannte Rechtsbewegung der Weimarer Zeit: die Vielzahl von Bünden, Zirkeln und vaterländischen Gruppierungen zeitlich vor und neben der lokalen NSDAP. Im Zentrum der Darstellung stehen die frühen 1920er Jahre, welche die Blütezeit der "vaterländischen" Verbände markierte und in der die NSDAP noch keine herausragende organisatorische und politische Stellung innerhalb der vielgestaltigen Rechtsbewegung innehatte. Das Buch greift häufig über den lokalen Rahmen hinaus und ist insoweit auch als Beitrag zur Geschichte der regionalen Rechtsbewegung von Wert.

Rürup, Reinhard (Hg.)
Arbeiter- und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Wuppertal 1975.
Der Sammelband vereinigt verschiedene Aufsätze zu Problemen und Verlauf der so genannten Rätebewegung 1918/19 im westdeutschen Industriegebiet. Zu finden sind hier etwa Beiträge U. Kluges zum Generalsoldatenrat des VII. Armeekorps in Münster sowie I. Marszolleks zu "Dortmund unter der Herrschaft des Arbeiter- und Soldatenrats".
 
 
 
Stand des Haupttextes: 2004.