QUELLE

DATUM[o. D.]
TITEL/REGESTBericht der ukrainischen Zwangsarbeiterin Ljuba Leontjewna Meleschko über ihre Zeit in Meinerzhagen
TEXT[S. 53] Ljuba Leontjewna Meleschko
geb.: 10.11.1924
Firma: Metallwerke Otto Fuchs

Ich kam am 3. August aus der Stadt Mariupol zurück, wo meine Schwester wohnt. Ich besuche sie jedes Jahr. Wir erinnern uns gemeinsam an die Jahre, die wir in Deutschland verbrachten. Wir staunen immer wieder, wie wir es geschafft haben, in dieser schrecklichen Zeit zu überleben. Meine Schwester ist jetzt eine Witwe. Sie hat einen Sohn, der in der Stadt Workuta (Sibirien) lebt, und sie hat einen Enkel, der in der Stadt Mariupol lebt. Er beendete dieses Jahr sein Studium an der Uni, energetische Fakultät. Am 20. Juli war er damit fertig, er hat aber noch keine Arbeit.

Im Januar 1941 ist unser Opa väterlicherseits gestorben. Er hat uns vorhergesagt, daß der Krieg in diesem Jahr anfangen wird. Mit wem, weiß ich nicht mehr. Wir lebten sehr arm, gearbeitet hat nur unser Vater. Wir waren 3 Kinder: 2 Mädchen und der ältere Bruder Viktor. Wir hatten nicht einmal ein Radio und mußten beim Licht einer Kerosinlampe lernen. Wir lernten auf ukrainisch, zu Hause aber sprachen wir russisch. Damals war genauso eine Zeit wie jetzt.

Am 21. Juni 1941 fuhr unsere Nachbarin Anna Sacharowna für ein paar Tage in die Stadt Donezk (das ist ungefähr 120 km von Mariupol entfernt), um ihren Bruder zu besuchen. Ich durfte mit, und meine Eltern gaben mir etwas Geld mit, damit ich mir schöne Schuhe kaufe. Wir kauften die Schuhe am gleichen Tag, und ich war unwahrscheinlich froh und glücklich. Der Bruder von Anna Sacharowna war Lokführer und wohnte in einem kleinen Zimmer direkt neben der Eisenbahnlinie. Er hatte keine Kinder. Nachdem wir zu Abend gegessen hatten, sind wir schlafen gegangen. Wir schliefen auf dem Boden. Ich hatte in dieser Nacht einen Albtraum und fing an zu schreien. Alle wurden wach und fragten mich, wovon ich geträumt hätte. Ich erzählte, daß ich von einem Flugzeug geträumt hätte, das ganz tief flog. Der Pilot rief ganz laut: "Der Krieg hat angefangen“ und verteilte Flugblätter aus der Luft. Wir wohnten in Mariupol in der Nähe eines Militärflughafens. Alle lachten und beruhigten mich. Ich sollte wieder schlafen gehen, es gäbe keinen Krieg. Morgens in der Frühe erfuhren wir aber, daß der Krieg tatsächlich angefangen hatte. Da fingen unsere Leiden an. Wir kamen am 22. Juni nach Mariupol zurück.

Im September 1941 wurde unsere Stadt von den Deutschen okkupiert. Was war da los! Die Straßenränder waren mit Menschenleichen bedeckt, jeden Tag liefen die Deutschen in den Höfen umher und [S. 54] schrien: „Mamka, Kurka, Jaijki, Milch!" [1] Wir wurden beraubt und versteckten uns. Nachts bombardierten die russischen Flugzeuge, die Partisanen waren aktiv und die Deutschen erschossen unschuldige Menschen. Ich sah selbst, wie die Spätschichtarbeiter erschossen wurden. Heute steht dort ein Denkmal als Erinnerung an sie.

1942 wurde mit den Transporten nach Deutschland begonnen. Man wurde direkt auf der Straße, auf dem Markt gefangen, wie Vieh in Güterzüge geworfen und so, wie der Mensch da stand, wurde er zur Zwangsarbeit nach Deutschland gefahren. Es herrschte furchtbarer Hunger, viele erkrankten an Typhus und anderen Infektionskrankheiten. Unsere Ärztin gab unserem Bruder eine Bestätigung, daß er an Typhus erkrankt war. Wir brachten einen Zettel an der Tür an, daß sich im Haus ein Typhus-Kranker befindet. Die deutschen Soldaten kamen nicht herein, denn sie hatten Angst, sich anzustecken. Dann versteckten sich mein Bruder und noch zwei Nachbarn in einem Brunnen. Sie gruben ein tiefes Loch aus und saßen darin. Morgens ging meine Mutter mit einem Eimer als wolle sie Wasser holen. In Wirklichkeit aber brachte sie den Männern Essen. Sie brachte Wasser aus dem Brunnen nach Hause. Wir wurden täglich solange bombardiert, bis die Deutschen aus der Stadt vertrieben wurden. Bald aber kamen die Deutschen wieder. Die Stadt und die Vorstadt wurden vollkommen zerstört. Es gab keine Arbeit, und die Deutschen wüteten. Sie setzten den Abtransport der Jugendlichen und älteren Menschen fort. Wir versteckten uns, solange es ging, aber dann waren auch wir an der Reihe. Die Soldaten und Polizisten kamen am Tag, trieben uns aus den Höfen und führten uns zu Fuß zum Bahnhof. Es war nicht möglich, sich zu verstecken: Wenn du nach Deutschland fährst und für die Deutschen arbeitest, dann schicken die Russen dich nachher nach Sibirien. Viele kamen aus Deutschland nach Sibirien. Unser Cousin Viktor Serdjuk kam auch nach Sibirien ohne Briefwechselrecht, warum und weshalb wissen wir bis heute nicht.

Im Mai 1942 wurde ich im Waggon eines Güterzuges wie Vieh nach Deutschland gebracht. Wir saßen auf dem nackten Boden des Waggons. Das Schlimmste aber war, was uns so erniedrigte, daß, als morgens der Zug angehalten wurde, wir alle, Frauen und Männer auf dem freien Gelände nebeneinander unser Geschäft machen mußten. Damit keiner fliehen konnte, bewachten uns die Soldaten dabei. Sie hielten die Maschinengewehre bereit. Es wiederholte sich jeden Tag. [S. 55] Die Soldaten lachten uns aus und riefen „Russenschwein“! Wir fuhren schnell und bekamen einmal täglich etwas zu essen. An den Haltestellen standen Feldküchen. Was wir da genau aßen, weiß ich nicht mehr, wir hatten selbst nichts dabei. Ich kann mich noch erinnern, daß wir nach Brest-Litowsk kamen, dann nach Peremyschl (Polen). Als wir an den Haltestellen standen, waren die Türen offen. Die Polen versuchten, etwas Eßbares von uns zu bekommen und boten uns zum Tausch billigen Schmuck an, aber die Soldaten gingen nicht von den Türen weg. Unsere nächste Haltestelle war in der Stadt Soest, ich weiß nicht wo das war, wahrscheinlich schon in Deutschland. Hier sind wir in Busse umgestiegen und zur „Sanitärbearbeitung“ gebracht worden. Die Baracke, in die wir gebracht wurden, war leer und von oben bis unten mit den Autogrammen der vorherigen „Besucher“ voll, denn jeder hinterließ hier seine Adresse. Die Soldaten kamen mit Hunden, und wir mußten uns ganz ausziehen. Unsere Kleidung mußten wir in kleine Wagen legen, sie wurde darin erhitzt. Wir zogen uns Hemden an, das heißt ein Stück Stoff oder Papier mit einem Loch für den Kopf. Die Soldaten desinfizierten alle unsere haarbedeckten Stellen mit einem Quast, der aus einem Stock mit einem Schwamm am Ende gemacht war. Der Quast wurde in einen Eimer getaucht und wir wurden überall, zwischen den Beinen, unter den Achseln, auf dem Kopf beschmiert. Danach duschten wir und zogen unsere erhitzte Kleidung wieder an. Es ging sehr schnell. Wir stiegen in die Busse und wurden zur Fabrik gebracht.

Das Lager war mit einem Stacheldrahtzaun eingezäunt, obwohl die Fabrik selbst auch schon einen Zaun hatte. Einige Frauen befanden sich schon im Lager, und auch der böse Kommandant Hans, dessen Nachname ich vergessen habe. Die Frauen sahen aus den Fenstern heraus, es war aber verboten, sich miteinander zu unterhalten. Wir bekamen sofort etwas zu essen. In unser Lager kamen zum Essen auch die Männer, sie wohnten aber in einem anderen Lager. Wir bekamen dunkelrote Metallpötte, wahrscheinlich wurden sie aus Rußland mitgebracht, und das Essen war sehr getrocknetem Mist ähnlich, den Kühe hinterlassen. Ich konnte das zuerst nicht essen. Das waren entweder Rüben mit irgendeinem Gras, oder Brennesseln oder Spinat. Hinterher habe ich gelernt, das zu essen.

Wir wurden in einem leeren Zimmer der Baracke untergebracht, wo zweistöckige Betten mit Matratzen und blauen Decken standen. Ich schlief unten, Maria Kokunko aus Taganrog hatte den Platz über mir. Neben mir schlief Swjaginzewa Njura, die immer weinte, weil ihre Mutter noch zu Hause von einem Bombensplitter getötet wurde.

[S. 56] Vorher wußten wir nicht, wohin wir fahren. In einer Baracke, das heißt in einem Zimmer, wohnten 20-24 Menschen, genau weiß ich es nicht mehr. Es war sehr eng, ein Ofen stand da, auf dem wir Fladen aus Kartoffelschalen backten. Wir klatschten die Fladen direkt an die Seiten, die Fladen backten sich selbst. Wir aßen sie dann, weshalb ich am Blinddarm operiert wurde. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, ob wir ein- oder zweimal täglich unser Essen bekamen. Das Essen war immer gleich, ein Stückchen Brot dazu. Wir hatten immer Hunger. Nachts wurden wir eingesperrt. Im kleinen Flur stand ein Eimer, falls einer in der Nacht mußte, aber wir standen nachts selten auf. Ich kann mich nicht erinnern, wo im Lager die Toilette war.

Wir wurden von Soldaten bewacht, und die Soldaten brachten uns auch zur Arbeit, obwohl die ganz in der Nähe war. Wir kochten nichts außer diesen Fladen, aber auch das war selten. Was wir an Kleidung bekamen, weiß ich auch nicht mehr, vielleicht bekamen wir auch gar nichts.

Ich kann mich genau daran erinnern, daß ich immer ein schwarzes Kleid trug. Holzblöcke bekamen wir, das weiß ich noch, davon habe ich jetzt noch Beulen an den Füßen.

Am 10. November 1943 wurde ich in Hagen am Blinddarm operiert. Eine russische Medizinstudentin, Ara Nikolajewna, operierte mich unter Vollnarkose. Die Operation war gerade zu Ende, als ein Luftangriff begann. Ich wußte es damals nicht, das wurde mir erst später erzählt. Nach vier Tagen kam ich aus dem Krankenhaus wieder und durfte 10 Tage nicht arbeiten. Den ganzen Tag verbrachten wir in der Baracke und saßen auf den Betten. Gott bewahre uns aber vor dem bösen Kommandanten! Wenn er herein kam und sah, daß jemand liegt, schlug er mit seiner Peitsche zu. Es gab keine Appelle im Lager. Der Kommandant wohnte in einer einzelnen Baracke neben dem Lagereingang. Mit ihm zusammen wohnte seine Geliebte Lydia (...). In einem kleinen Zimmer, auch neben dem Eingang, saßen ein Schneider und ein Schuhmacher, ein anderes Zimmer dieser Baracke war mit Judenkleidung vollgestopft. Nur die Geliebte hatte das Recht, sich daraus Kleidung und Schuhe auszusuchen. In einer Baracke wohnte eine schon ältere Schneiderin, die die Judenkleider für Lydia änderte. Ich sah sie nie. Zusammen mit ihrer kleinen Tochter war sie immer im Zimmer. Es gab sehr viele Frauen im Lager, es war sehr sauber. Die Kinder machten alles sauber, halfen in der Küche und arbeiteten auch in den Werken. Das waren alles Halbwüchsige, 12-13 Jahre alt. Wir bekamen das Brot von Herrn (...). Wir fuhren, 3-4 Personen, [S. 57] mit einem Lastwagen und luden schwarzes Brot ein, das extra für die Ostarbeiter gebacken wurde. Herr (...) machte selbst das Tor auf, zeigte uns, welches Brot wir einladen durften und ging. Wir schnappten uns sofort ein Brot, rissen es in Stücke und aßen hektisch, fast verschluckten wir uns, weil wir kein Stückchen in das Lager mitnehmen durften. (...) wußte, daß wir das Brot klauten, aber er war menschlich und hatte Mitleid mit uns.

Ich arbeitete in der Dreherei an der Fräse. Wir hatten zwei Schichten. Als die Schicht zu Ende war, brachten wir unseren Arbeitsplatz in Ordnung, stellten uns in einer Reihe auf und gingen mit der Wache in die Baracken. Die kommende Schicht sahen wir nicht. Wir arbeiteten 10 Stunden ohne einen freien Tag. Wir durften nicht die anderen Werke besuchen. Wir bekamen für unsere Arbeit Geld, das auf Zeitungspapier gedruckt war, aber nicht mehr als 5 Mark und etwas Kleingeld. Wir konnten dafür nichts kaufen und benutzten es in der Toilette. Später verkaufte der Buchhalter, der uns das Geld auch brachte, direkt im Werk billigen Schmuck.

Einmal in der Nachtschicht, klappte bei mir etwas mit der Arbeit nicht (ich mußte mit der Fräse auf einer Seite eine Mulde schneiden). Ich rief den Meister immer wieder, er reparierte die Maschine, ging dann und mußte dann wieder kommen und versuchte erneut die Maschine zu reparieren, aber es klappte nicht so recht. Da sagte ich: „Krieg kaputt - Hitler kaputt“. Er schnappte mich am Kragen und schleppte mich in den Karzer unter der deutschen Küche, vor den Augen aller Arbeiter. Er machte die Metalltür auf, schaltete das Licht ein. Da standen ein Tisch und ein paar Stühle und ich sagte: „Wie schön, hier kann ich mich prima ausruhen!“ Er wurde wütend, nahm die Lampe, schmiß sie auf den Boden und zerbrach sie. Er schloß mich ein und ging. Hier fielen mich Ratten an, ich schrie, sprang auf den Tisch, packte den Stuhl und verteidigte mich, wie ich konnte. Die Ratten bissen mir in die Zehen und erst nach ein paar Stunden kam der Meister wieder und machte die Tür auf. Es war schon hell. Viele andere mußten auch in den Karzer - „Karzer“ war das Lieblingswort der Deutschen.

In der Freizeit saßen wir alle in unseren Zimmern und beweinten unser bitteres Schicksal. Wir durften das Lagerterritorium nicht verlassen. Einmal in den ganzen Jahren wurden wir ins Kino auf ein anderes Gelände gebracht.

Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, in welchem Jahr es war, 1943 oder 1944, als der Betriebsleiter Herr (...) mir nach Gevelsberg zu fahren erlaubte, um meine Schwester Lydia zu besuchen. [S. 58] Sie arbeitete in der Fabrik von Richard Stube an der Pressmaschine. Sie wohnte auch in einem nicht besonders großen Lager, alle Frauen in dem Lager kamen aus Mariupol. Ich mußte am gleichen Tag zurückkehren. Als ich nach Hause fuhr, mußte ich in Hagen umsteigen. Ich wußte nicht, wo mein Zug stand, und während ich mich nach dem Zug erkundigte, war er schon losgefahren. Es war Abend, ich lief langsam auf dem Bahnsteig auf und ab und hörte plötzlich eine Männerstimme, die mich auf russisch frage: „Russin?“ Ich drehte mich um und sah einen jungen Mann, der schnell sagte: „Komm schnell, wir gehen!“ Das war unser Deutscher (...). Wir kamen zu seiner Bekannten, wo er wohnte. Die Frau empfing mich sehr freundlich und fragte sehr lange, wie wir im Lager leben. Am nächsten Morgen wurde ich zum Zug gebracht und nach Meinerzhagen gefahren. Mit guten Gedanken erinnere ich mich oft an ihn, er hat mir sehr geholfen.

Wir schrieben einmal im Monat Briefe, die dem Dolmetscher - einem Emigranten - geöffnet abgegeben wurden. Sie wurden von ihm durchgelesen, und wenn etwas vom schlechten Leben oder von der Fabrik, wo wir arbeiteten, darin stand, mußten wir den Brief neu schreiben. Wir haben uns zu Hause schon vor dem Abtransport so verabredet, daß wir statt „schlecht“ - „gut“ und statt „sehr schlecht“ - „sehr gut“ schreiben werden.

Als wir kamen, hatten wir keinen Kontakt zu den Deutschen. Ein älterer deutscher Mann arbeitete neben mir. Er legte mir ab und zu ein kleines Butterbrot in meine Maschine und zeigte mit den Augen darauf. Ich aß es heimlich schnell auf. In unserem Werk arbeiteten die Ostarbeiter auf einer Seite des Raumes an den Maschinen, auf der anderen Seite saßen die deutschen Frauen und kontrollierten unsere fertigen Produkte. Es gab viele Fehler. [2] In der Fabrik arbeiteten auch Franzosen, einige Italiener und einige freiwillige Holländer, auch der Koch. Wir hatten keinen Kontakt zu ihnen, nur diejenigen, die zusammen mit ihnen arbeiteten. Maria Korowanenko aus unserem Zimmer wurde von einem Franzosen nach Frankreich mitgenommen. Auch Valentina Latschenko ging mit Gaston mit: Ich sah die beiden bei uns in Mariupol, als sie zu Besuch kamen.

Der Fabrikinhaber Otto Fuchs [3] war ein Mann mittleren Alters, etwas mollig, er hatte eine Schramme auf dem Gesicht (eine Schnittnarbe). [S. 59] Wir sahen ihn ab und zu auf dem Lagergelände und beschwerten uns bei ihm über die Greueltaten des Kommandanten Hans. Er entfernte ihn von dem Posten - die Geliebte war auch weg. An seine Stelle kam (...) (sie wohnte zusammen mit der Familie und Schwester (...) in der (...)-straße). Sie war sehr menschlich. Zusammen mit ihr kam auch (...), ihm fehlte der mittlere Finger an der rechten Hand. Er durfte nicht an die Front, wurde aber zufällig im Wald durch eine blinde Kugel getötet, als er von der Arbeit nach Hause ging. Er hatte ein kleines Kind. Es passierte, als die amerikanischen Truppen die Stadt befreiten. Wir trauerten sehr um ihn, er war ein guter Mensch. Das soll auch sein Sohn wissen, falls er noch lebt.

Unsere Stadt wurde nicht bombardiert. Der Krieg ging zu Ende, das wußten wir von den Deutschen. Da entschieden meine Schwester und ich uns zu treffen. Ein Deutscher brachte meine Schwester genau an dem Tag zu mir, an dem wir ins Kino gebracht wurden. Als ich gerufen wurde, freute ich mich sehr über meine Schwester. Sie blieb aber nur eine Nacht. Ihr Herr erklärte, daß sie geflohen war, und sie wurde sofort weggebracht. Ich dachte, sie wird wieder nach Gevelsberg gebracht, aber sie kam in ein Straflager. Wir wissen nicht mehr, wo dieses Lager stand, sie mußte da an einer Maschine arbeiten: Dicke Stangen zertrennen. Sie war damals 16 Jahre alt. Es war September oder Oktober 1944. Wir wissen nicht mehr, wie lange sie da war, aber nicht weniger als zwei Wochen, vielleicht auch einen Monat. In einem kleinen Zimmer ohne Fenster bekamen sie einmal täglich Suppe, das Geschirr wurde nicht gespült, und wenn die Männer zuerst gegessen hatten, hat meine Schwester nicht gegessen. Am nächsten Tag durften die Frauen zuerst essen, dann hat auch sie gegessen. Größere Erniedrigung kann man sich kaum mehr ausdenken! In unserem Lager kam sie schwarz vor Dreck an. Das Gesicht und die Hände waren voll mit Öl, auf dem Kopf trug sie ein Mützchen mit „Mickey-Maus-Ohren“. Sie sah selbst wie eine Maus aus. Noch lange konnte sie sich nicht richtig sauber kriegen. Bis zur Befreiung am 11. April 1945 durften wir zusammen bleiben, Herr (...) erlaubte es uns. (...)

Es gab natürlich Widerstand im Lager, auch bei den Männern. Ich kann mich daran erinnern, daß eine junge Frau eine rote Flagge heraushängte, dabei schrie sie etwas. Sie wurde dafür zusammen mit meiner Schwester in das Straflager gebracht. Als meine Schwester zurück kam, mußte die Frau noch länger im Straflager bleiben.

Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr das war, als der Kommandant mich rief und mir anbot, eine sehbehinderte deutsche Familie [S. 60] regelmäßig zu besuchen, um im Haushalt zu helfen. Ich war einverstanden. Das war die Familie (...), sie hatten drei kleine Kinder: Die älteste Tochter (...), sie hatte ein durch Polio behindertes Bein, (...) und noch der Junge, ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Ich putzte auch ein andermal im gleichen Haus bei (...). Sie wohnte mit ihrer Tochter (...), ihr Mann arbeitete in Frankreich (nach so vielen Jahren kann ich mich nicht mehr an alle Vor- und Nachnamen erinnern). Ich bekam von ihnen etwas zu essen und ich durfte mich bei ihnen waschen, aber das wichtigste war, daß ich aus dem Lager raus konnte. Das war ein Luftloch für mich. Sie hatten auch sehr bescheidenes Essen: gekochte Kartoffeln und Rotkohl (ich half ihnen ungefähr 1 1/2 Jahre). Als ich zu meiner Schwester nach Gevelsberg fuhr, gab mir (...) ein gutes Jackett und Schuhe. Die gesamte Bekleidung war fast von der ganzen Baracke gesammelt. Trotzdem war eine deutsche Frau, die neben mir im Zug saß, etwas unruhig. Wahrscheinlich spürte sie, daß eine Ostarbeiterin neben ihr saß. Als ich aussteigen mußte, bekam ich schnell ein Butterbrot von ihr. Unter dem Kragen des Jacketts war ein Zeichen „OST“ angebracht.

Am 11. April, dem Tag der Befreiung, wachten wir von alleine auf, keiner weckte uns. Wir gingen allein, ohne Wache, zu unserem Werk, standen und warteten da. Es war schon hell, die Männer waren aber immer noch nicht da. Plötzlich liefen zwei Deutsche zu uns und riefen: „Lauft weg, rettet euch, sonst werdet ihr erschossen!“ Wir fragten, wohin wir laufen könnten, und sie zeigten uns die Kanalrohre, da sollten wir rein. Wir rannten fort, aber bald kamen die Amerikaner, es waren auch Neger dabei. Wir weinten und umarmten sie, schrien vor Freude (ich weine jetzt wieder). Sie waren riesig, wir aber mager und häßlich. Sie fingen sofort an, den Proviant zu verteilen: Große Kartons mit Keksen, große Tafeln Schokolade, kleine Konservendosen mit Fleisch und Mais. Ich weiß nicht mehr, ob das Lager am gleichen Tag oder später verbrannt wurde. Wir dachten, wir würden sofort mitgenommen und nach Hause gebracht, aber keiner interessierte sich für uns. Wir waren bis Ende Mai uns selbst überlassen. Einige Deutsche kamen jetzt zu uns, um etwas zu essen zu bekommen, wir teilten es mit ihnen. Dann wurden wir nach Krakau gebracht und in einem Pferdestall untergebracht. Der Pferdestall gehörte entweder dem Goebbels oder dem Göring. Von da kamen wir nach Lübeck, wo wir noch mehr als ein Jahr in einer Militärabteilung gearbeitet haben: Die deutschen Frauen nähten den Soldaten die Anzüge und wir kontrollierten sie. Als wir an der Grenze zum Radwechsel anhielten, knieten wir uns alle hin und küßten unseren Boden, wir weinten.

[S. 61] In der Heimat mußten wir unser ganzes Leben geheim halten, daß wir in Deutschland gearbeitet hatten. Erst als Präsident Gorbatschow an die Macht kam [11.03.1985], konnten wir etwas freier darüber sprechen. Die Deutschen haben bis jetzt nichts bezahlt, was aber hätten wir in diesen 55 Jahren sparen können, wenn wir unser verdientes Geld angelegt hätten. [...]

Ich beendete die 10. Klasse nach dem Krieg, besuchte dann die Textilfachschule und arbeitete als Betriebswirtin. Ich habe keine Familie.

P.S.: In unserem Lager wurden keine Kinder geboren, sie wurden abgetrieben. Maria (...) aus unserem Zimmer ließ abtreiben, danach lag sie einige Tage da wie tot. Das machte ein Arzt, ein Mann. Er war entweder kein Frauenarzt oder absichtlich so brutal mit den Frauen: Er band etwas an die Hand oder das Bein des ungeborenen Kindes und riß so nach und nach alle Teile auseinander. Die Frauen schrien, aber es wurde ihnen keine Hilfe geleistet. Ich sah das mit meinen eigenen Augen, es wurde in einer Sanitätsstation gemacht. Im Männerlager war der Kommandant „Popintsch“. Er war ein richtiges Tier, so wie er handelte. Es war ein Pole, hatte vorstehende Augen, schrie immer, wenn er die Männer aufstellte: „Popintsch aufstellen“, das heißt 5 Mann in einer Reihe. Die Männer lebten in einem anderen Lager unter den schrecklichsten Bedingungen, sie liefen dreckig und erschöpft umher. Wenn jemand die Mutter oder die Frau hier hatte, wurde ihm die Wäsche gewaschen. Es gab furchtbare Zusammenstöße mit dem Kommandanten. Ich glaube, der Kommandant wurde von den Ostarbeitern nach der Befreiung ermordet.

Das ist alles die Wahrheit, ich habe mir nichts ausgedacht.


[1] Offenbar riefen die deutschen Soldaten oft in falschem russisch: "Muttchen, her mit Eiern, Hühnern und Milch!"
[2] Ob die Fehler absichtlich herbeigeführt wurden, sagt die Autorin nicht ausdrücklich. Wahrscheinlich waren sich die Zwangsarbeiterinnen aber bewußt, daß sie an der Produktion von Waffen arbeiteten, die gegen ihre eigenen Landsleute eingesetzt wurden.
[3] Es muß sich hierbei um Hans-Joachim Fuchs handeln.


QUELLE     | ...denn das sind die schwersten Seiten meines Lebens, die mir in jungen Jahren zugestoßen sind! | S. 53-61


FORMALBESCHREIBUNGDie Kürzungen sind der Vorlage entnommen.


SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ1.3   Einzelquelle (in Volltext/Regestenform)
Zeit3.9   1900-1949
Ort1.3.3   Gevelsberg, Stadt
1.8.9   Meinerzhagen, Stadt
1.11.10   Soest, Stadt
Sachgebiet6.10.1   Geburt, Taufe
10.9.6   Zwangsarbeit
10.13   Industrie, Manufaktur
DATUM AUFNAHME2004-07-15
DATUM ÄNDERUNG2011-02-07
AUFRUFE GESAMT8689
AUFRUFE IM MONAT647