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Nicht nur mit den Augen sehen
Wie ein Koch mit Sehbehinderung eine Mensa leitet
Thomas Kviring ist einer der Küchenleiter des Lippischen Kombi-Service (LKS), für den in ganz Ostwestfalen an 35 Standorten 230 Menschen arbeiten, vor allem in Kantinen und Mensen. Der Inklusionsbetrieb beschäftigt zwischen 30 und 50 Prozent Menschen mit Behinderungen. Seinen Job hier hat Kviring seit 2015. Nach solch einer Karriere sah es in seiner Kindheit und Jugend überhaupt nicht aus. „Ich war von Geburt an sehbehindert“, erzählt der Koch Jahrgang 1982. Er hat gleich mehrere Krankheiten, einen „rotatorischen Nystagmus“ zum Beispiel, bei dem beide Augen unkontrolliert zittern oder zucken und der es ihm unmöglich macht, Dinge scharf zu sehen. Dazu kommen eine Rot-Grün-Schwäche, sehr starke Kurzsichtigkeit und eine Hornhautverkrümmung.
Als er 14 Jahre alt war, zog die Familie nach Deutschland „und da habe ich zum ersten Mal Unterstützung bekommen, ich hatte nicht mal eine Brille, das konntest du auf dem Dorf vergessen“, erinnert er sich. Der Jugendliche besuchte die Opticus-Schule in Bielefeld, eine LWL-Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Sehen. Er hatte es nicht einfach, sprach zwei Jahre lang kaum Deutsch, musste die 7. Klasse wiederholen. Heute kann er sich perfekt verständigen, geholfen hat dabei auch eine Klassenfahrt. „Da ging es nicht mehr anders, ich musste das einfach lernen.“
Er machte eine Ausbildung als Konstruktionsmechaniker, lernte Schweißen, baute Treppengeländer, Tore oder Teile von Aufzügen. 2005 traf ihn ein Todesfall in der Familie hart. „Ich war psychisch am Boden, habe fast ein ganzes Jahr nichts gemacht, das war eine schreckliche Zeit.“ Als er sich erholt hatte, merkte er schnell, dass er in der Metallbranche ohne Führerschein kaum etwas anfangen kann. „Ein Schweißer muss oft dahin, wo die Arbeit ist“, sagt er heute. Er startete in der Kunststoffbearbeitung, baute zum Beispiel Luxustoilettendeckel aus Plexiglas, die nach Russland verkauft wurden. Bis ihn im Jahr 2009, nur eine Woche nach seiner Hochzeit, der nächste Schicksalsschlag traf. Er musste jeden Tag bei der Arbeit tonnenweise Kunststoff heben, die Kraftanstrengung sorgte dafür, dass sich seine Netzhaut ablöste. „Ich war plötzlich voll erblindet. Ein Arzt hat mir gesagt, dass solche Netzhautablösungen bei Menschen mit hoher Kurzsichtigkeit häufiger vorkommen. Er hat mir die Netzhaut wiederhergestellt, das war echt ein Künstler.“ Mit 16 Jahren bekam Kviring seine erste Brille, das Glas ist 1,1 Zentimeter dick. Er hat minus 19 Dioptrien auf dem rechten, minus 14 auf dem linken Auge. Zum Vergleich: Bereits bei minus 5 Dioptrien kann man Dinge, die vom Auge weiter als 20 Zentimeter weg sind, nur noch undeutlich erkennen. Durch den „Nystagmus“ liegt seine Sehleistung außerdem unter einem Prozent. „Ein paar Jahre später habe ich dann Kontaktlinsen bekommen. Die im LWL-Berufsbildungswerk in Soest haben festgestellt, dass das funktionieren könnte“, erzählt Kviring. Diese Hoffnung bewahrheitet sich, die Sehkraft des jungen Mannes verbessert sich deutlich, für ihn ist das ein riesiger Fortschritt.
Mit der harten körperlichen Arbeit ist danach Schluss. Kviring erzählt, dass es dann wieder bergab mit ihm ging: „Ich war richtig depressiv, wie sollte ich denn für meine Familie sorgen?“ Irgendwann holte er sich selbst aus der Schockstarre, machte eine Arbeitserprobung, an deren Ende zwei Vorschläge stehen: Masseur oder Beikoch. Kviring will Koch werden und er beweist, was er kann. Er macht ein Berufspraktikum, dann eine Umschulung beim LKS, die er 2015 erfolgreich beendet. Seitdem arbeitet er beim LKS fest angestellt – zunächst im Team eines anderen Kochs, seit 2018 als Leiter der Küche in Horn-Bad Meinberg. Hier ist er für fünf Beschäftigte verantwortlich, die für die Lernenden und Lehrenden des Gymnasiums und zum Beispiel auch für die Beschäftigten der Stadtverwaltung kochen.
Bei der Arbeit stört seine Sehbehinderung kaum. Das Kochen funktioniert, mit einer elektronischen Lupe kann er auch die Bestellungen beim Einkauf abwickeln und die Essenspläne zusammenstellen. Einzig bei der Sauberkeit hapert es, „ich kann es einfach nicht gut erkennen“, sagt Kviring. Seine Frau Jennifer, mit der er mit den drei Kindern drei Minuten zu Fuß von der Mensa wohnt, lacht laut, „das kann man wohl sagen, wenn du zu Hause mal putzt, muss ich immer hinterher“. Die gelernte Hauswirtschaftshelferin übernimmt oft die Aufgabe seiner Augen, so nennt er das. Sie kennt sich ebenfalls gut aus mit dem Problem, nicht richtig sehen zu können, lernte Thomas auf der LWL-Förderschule kennen.
Bei der Arbeit holt sich Thomas Kviring Hilfe, wo er kann. Seine Frau Jennifer unterstützt ihn zum Beispiel dabei, Gemüse zu reinigen oder kleine Flecken zu erkennen. Bei der Arbeit hilft sie ihm neben ihren eigenen Aufgaben immer wieder mal, kontrolliert zum Beispiel, ob die Azubis – einen hat Kviring schon fertig ausgebildet – die Küche vernünftig wienern. „Er sieht auch nicht, ob auf dem grauen Boden hier eine Kartoffelschale liegt.“ Kviring gleicht das aber durch besondere Sorgfalt aus. Mit Jennifer in der Küche – für Thomas Kviring ist das ein Traum. „Ich kann mich einfach auf sie verlassen, wir wissen, wie wir ticken, und wissen auch, wann wir uns mal nicht einmischen sollten.“ Das ist entscheidend dafür, dass der Job klappt.
Jennifer Kviring ist seit Dezember 2019 dabei. Beide hatten häufig nachgefragt, ob sie ebenfalls beim LKS arbeiten könne. „Wir haben lange gequengelt“, sagt Jennifer Kviring und grinst. Sie schaut ihren Mann an, nimmt seine Hand: „Das klappt jetzt richtig gut, oder?“ Monika Zimmermann nickt. Die Chefin der LKS hat bisher gemeinsam mit ihrem Küchenleiter Dennis Kent, der als erfahrener Kollege für mehrere Küchen verantwortlich ist, nur vom Nebentisch zugehört. „Das stimmt wohl, wir sind dabei immer etwas vorsichtig, weil es mit Beziehungen am Arbeitsplatz natürlich auch immer mal Probleme geben kann – aber es kann auch Vorteile haben, wenn sich die Mitarbeitenden so gut kennen und aufeinander verlassen können.“ Bei den Kvirings funktioniert die Zusammenarbeit sehr gut, sagt Monika Zimmermann. Das Tempo muss ein wenig niedriger sein als in anderen Kantinen, damit die Arbeit funktioniert. „Und das Essen muss dennoch pünktlich auf dem Tisch stehen“, ergänzt sie.
200 Mittagessen kocht Kviring am Tag, das geht nur mit einer guten Struktur und klaren Arbeitsabläufen. Das bestätigt auch Kent. „Ich plane zum Beispiel gemeinsam mit Thomas den Einkauf, den wir für eine Reihe von Küchen gemeinsam erledigen. Das spart Geld und Aufwand.“ Geschäftsführerin Monika Zimmermann fordert viel, zum Beispiel auch, dass die Mitglieder ihres Teams schnell lernen müssen. „Das ist einfach wichtig, manchmal auch, um das Handicap besser ausgleichen zu können.“ Thomas Kviring muss sich zum Beispiel den Umgang mit Computer und Tablet aneignen, um besser und einfach zu kommunizieren. Er hat nicht so richtig Lust, sagt er, aber er lächelt auch. Er weiß, dass er das trotzdem machen wird. So wie immer in seinem Leben eben, wenn es für ihn eine neue Herausforderung gab.