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Ambulant Betreutes Wohnen
Wenn sich Eltern von ihren behinderten Kindern lösen
Kinder mit Behinderungen leben meistens zu Hause bei ihren Eltern, außer wenn es die Einschränkungen nicht zulassen. Werden aus den kleinen dann große Leute, steht für alle von ihnen die Entscheidung an, wie sie als Erwachsene wohnen werden. Den meisten Eltern fällt die Entscheidung nicht leicht. Sie fragen sich oft, wie überhaupt jemand besser als sie auf die Besonderheiten ihrer Tochter oder ihres Sohnes eingehen soll. Und wie es dann weitergeht, wenn sie selbst nicht mehr in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern.
Viele junge Menschen mit Behinderung möchten, genauso wie Gleichaltrige ohne Handicaps, alleine wohnen. Damit dieser Abnabelungsschritt leichter fällt, brauchen die Eltern viel Vertrauen in ihre Kinder – und natürlich auch in das Wohnangebot. Und andersherum müssen auch die jungen Menschen mit Behinderungen Selbstvertrauen verspüren, dass es für sie in der Selbstständigkeit klappen kann.
Für Karin van Eyk war, so erzählt sie es heute, schon immer sehr klar, dass ihre Tochter Hannah spätestens dann ausziehen soll, wenn ihr jüngerer Bruder ebenfalls aus dem Haus geht. „Wir waren immer sehr stark involviert, haben zum Beispiel dafür gekämpft, dass Hannah in eine ganz normale Grundschulklasse gehen kann – so haben wir für die erste integrative Klasse in Bochum gesorgt“, erinnert sich die Mutter. Irgendwann musste damit Schluss sein, sagt sie, aus zwei Gründen: „Hannah will genauso selbstständig leben wie alle anderen Menschen auch und wir als Eltern wollen unser ,drittes Leben’ mit weniger Verantwortung und mehr Freizeit führen.“
Ein stationäres Wohnen kam dabei nie infrage. „Hannah war dafür immer schon viel zu fit. Doch es muss eine Betreuung geben, weil sie ganz alleine nicht zurechtkommen würde.“ Ambulant Betreutes Wohnen sollte es sein, sagt Karin van Eyk, „und das haben wir hier sehr gut angetroffen.“ Hier, das ist im Moment des Gesprächs ein sonniger Balkon, ein paar Gehminuten entfernt vom Bochumer Hauptbahnhof und dennoch in absolut idyllischer Ruhe in den Claudius-Höfen. Hannah van Eyk ist ein wenig müde, weil sie gerade erst von ihrer Arbeit in der Werkstatt für behinderte Menschen gekommen ist. „Mir gefällt es hier gut“, sagt sie und lächelt schüchtern, aber das gibt sich schnell, als sie weiter erzählt. „Ich habe drei Mitbewohner, die sehe ich ab und zu, und vor allem habe ich mein eigenes Apartment, da bin ich immer sehr gerne und gucke Fernsehen oder so“, sagt sie, während sie mit ihren Fingern an ihrem geblümten Kleid entlangstreicht. Ihre Mutter beobachtet sie interessiert und offensichtlich auch entspannt, sie traut ihrer Tochter das zu, auch ein Gespräch mit einem fremden Journalisten.
Ob es nicht komisch gewesen sei, von zu Hause auszuziehen, und Hannah van Eyk schüttelt den Kopf. „Ich habe mir meine Möbel ausgesucht und das Apartment eingerichtet. Das ist alles neu“, sagt sie. Sie kannte auch von Anfang an andere in den Claudius-Höfen, weil die mit ihr zur Schule gegangen sind. „Lotte.“ „Shari und Giulia“, zählt sie weiter auf. Die beiden haben sie in der „Wohnschule“ auf das neue Leben vorbereitet. Hannah war nicht wichtig, wer mit ihr zusammenwohnt. Sie kann ja in ihr Apartment gehen, sagt sie, und so viel unternimmt sie sowieso nicht mit den Mitbewohnern. Die 33-Jährige mag ihre Freiheit, das merkt man. „Ich kann essen, was ich will, und ich kann auch machen, was ich will“, sagt sie und erzählt dann davon, was sie am liebsten kocht: „Nudeln, gefüllte Paprika, Möhren durcheinander, Heringssalat mit Salzkartoffeln und Spaghetti bolognese.“ Dann steht sie auf, geht Matthias, dem Fotografen, ihr Zimmer zeigen, um einige Fotos zu machen, ganz in Ruhe.
Ich stelle auch Karin van Eyk noch mal die Frage, ob es nicht doch ein bisschen schwierig gewesen sei loszulassen. „Natürlich haben wir uns sehr viel Mühe gegeben, das Richtige für Hannah zu finden“, sagt Karin van Eyk, aber: „Der Schritt war genau der richtige, für uns und für sie.“ Die Tochter sei glücklich, genieße ihr Leben, könne vieles von dem unternehmen, was auch junge Menschen in ihrem Alter, die keine Behinderung haben, machen können.
Der „richtige“ Ort, das sind für Hannah van Eyk die Claudius-Höfe, eine Wohnanlage mit modernen, lichten Apartments und kleinen Reihenhäusern, die allesamt barrierefrei gestaltet sind und verschiedene Bedürfnisse erfüllen. Menschen jeden Alters leben hier, ältere Menschen, Familien, Studierende und eben Menschen mit Behinderungen. Im Jahr 2012 zogen die ersten ein – darunter Hannah van Eyk –, rund 180 Personen sind es heute.
Die Familie war schon sehr früh bei den Planungen für die Claudius-Höfe dabei. Beide Kinder waren auf der integrativen Matthias-Claudius-Schule in Bochum, deren Träger die Wohnanlage bauen ließ. „Wir haben damals davon gehört, das klang nach einer guten Geschichte“, sagt Karin van Eyk: das gemeinsame Leben, die mehreren Generationen, der Austausch zwischen den Menschen. Nicht alles hat sich bewahrheitet. „Ich hatte erwartet, dass mehr Kommunikation zwischen den Gruppen stattfindet. Aber nachdem es am Anfang einige Abende gab, bei denen die Menschen mit Behinderungen dann doch wieder eher für sich saßen, ist das Ganze eingeschlafen“, erzählt Karin van Eyk.
Außerdem, das sagt sie gleich mehrfach, sei die Aufteilung der Wohnung nicht optimal, zumindest aus der Perspektive ihrer Tochter. „Hannah mag es, so wie ihre Mitbewohner auch, sich zurückzuziehen, ein zweites Zimmer, also ein Schlafzimmer, wäre sinnvoll gewesen. Man darf nicht vergessen, wir haben hier ja keine Studenten-WG, sondern Berufstätige, die gerne eben auch für sich sind“, sagt Karin van Eyk. „Sie nutzt die gemeinsamen Räume, die große Küche und das Wohnzimmer gar nicht so intensiv.“ An ihrem Ein-Zimmer Apartment mit Küchenzeile, das wie alle mit einem eigenen Bad ausgestattet ist, hat sie deswegen auch eine eigene Klingel angebracht bekommen, damit sie sich hinter ihrer Tür wie in einer eigenen Wohnung fühlen kann.
„Das ist allerdings auch klagen auf hohem Niveau“, sagt Karin van Eyk. „Hannah ist sehr gut angekommen in ihrer neuen Lebenssituation.“ Dazu trägt die tolle Lage bei, sagt die Mutter. Ihre Tochter geht ab und zu ins zehn Minuten entfernte Bermuda-Dreieck – die Ausgehmeile in Bochum –, zur Tanzschule oder ins Fitnessstudio. Vieles macht sie allein, manchmal begleitet sie auch Svea-Maria Hielscher. Sie arbeitet für das Team vom Ambulant Betreuten Wohnen des Evangelischen Johanneswerks, das Hannah van Eyk mit 6,5 sogenannten Fachleistungsstunden pro Woche durch die Tücken des Alltags begleitet. Die „Bezugsbetreuerin“ ist heute auch dabei, sie spricht mit Karin van Eyk durch, was in den vergangenen Wochen los war.
„Das meiste klappt wirklich gut“, sagt Svea-Maria Hielscher, „aber manchmal stehen wir auch ein wenig zwischen den Eltern und ihren erwachsenen Kindern.“ Was Mutter oder Vater wollen, entspräche gelegentlich eben nicht dem, was die jungen Menschen wollen, wie in jeder Familie. „Das stimmt, wir als Eltern gehen oft doch emotional an die Sache ran und die Bezugsbetreuerinnen sind im Alltag vielleicht viel näher dran an unseren Kindern“, sagt Karin van Eyk.
Svea-Maria Hielscher und ihre Kolleginnen und Kollegen sind für 13 Menschen verantwortlich. Sie sorgen für Struktur, helfen bei den kleinen und großen Problemen – vom Einkauf bis zur Kühlschrankreparatur. „Je nach Fähigkeiten können unsere Klienten manche Dinge sehr gut, andere dagegen weniger und so ergänzen wir, was für den jeweiligen eben nötig ist.“ Die Arbeit startet meist, wenn Hannah van Eyk und die anderen Bewohnerinnen und Bewohner aus der Werkstatt für behinderte Menschen nach Hause kommen und geht bis ungefähr 20 Uhr. „Nachts sind immer auch Schlafbereitschaften im Büro, um bei möglichen Notfällen eingreifen zu können oder in den Abendstunden und bei der morgendlichen Routine zu unterstützen.“
Neben den gemeinsamen Alltagstätigkeiten sprechen Betreuerinnen und Klienten auch viel miteinander. „Wir hören zu, wenn es zum Beispiel Streit auf der Arbeit oder mit den Mitbewohnern, aber auch mal mit den Eltern gibt“, erzählt Svea-Maria Hielscher, die eine enge Bindung zu den Klientinnen und Klienten aufbaut. „Dafür brauchen wir auch den Vertrauensvorschuss der Eltern. Da ist es nicht einfach, wenn wir bestimmte Dinge vielleicht anders machen als sie es tun würden.“ Der Ablöseprozess ist nicht einfach, sagt die Heilpädagogin und dabei sind – wie bei allen Themen – Menschen mit Behinderungen nicht anders als diejenigen ohne. „Viele merken erst hier, dass sie alleine gut klarkommen, mehr Selbstständigkeit haben und sich auch von den Normen und Werten von zu Hause ein wenig lösen können.“ Sie wollen nicht immer sofort ans Telefon gehen, wenn die Mutter anruft, wollen nicht so ordentlich sein, wie es daheim gefordert wurde, „sie tun einfach auch einmal etwas, was nicht so clever ist“, sagt Svea-Maria Hielscher.
Die Bezugsbetreuerin traut ihren Klientinnen und Klienten sehr viel zu, sagt sie, auch das müssten die Eltern manchmal lernen. „Schauen Sie sich mal Hannah an: Sie geht acht Stunden am Tag zur Arbeit, fährt da alleine hin, besucht fünfmal in der Woche das Fitnessstudio, macht Bauchtanz und geht in die Tanzschule. Sie leistet so viel.“ Der Abnabelungsprozess mit den van Eyks habe gut geklappt, sagt Svea-Maria Hielscher. „Aber wir hatten auch schon Familien, bei denen das gar nicht läuft. Das liegt dann eigentlich immer daran, dass Eltern glauben, dass ihre Kinder etwas nicht können.“ In den meisten Fällen funktioniert es eben doch. „Der einzige Nachteil ist oft, dass die Bewohner am Anfang ein wenig zunehmen, manchmal, weil sie einfach anders essen als zu Hause, manchmal auch aus Heimweh und Frust. Aber das gibt sich dann – und wir passen auch auf.“
Zum Beispiel, indem sie das Geld der Bewohnerinnen und Bewohner verwalten. „Wenn ich mir etwas kaufen möchte, frage ich Svea-Maria“, erzählt Hannah van Eyk, „eine Dose Cola Zero oder ab und zu einen Kinderriegel.“ Über die Arbeit möchte sie weniger sprechen, über ihre Hobbys umso mehr. „Tanzen, Fitness, Schlagerpartys“, zählt sie auf, „Anna-Maria Zimmermann mag ich, Roland Kaiser und Helene Fischer.“ Und Reisen. „Hier waren wir in Namibia, hier in Neuseeland, hier in Sri Lanka“, erzählt sie zu Fotos an den Wänden. Familie van Eyk ist eine Reisefamilie, so scheint es, und da ist Hannah van Eyk immer noch gerne dabei.
Ihrer Mutter fällt noch etwas ein: die Rechte ihrer Tochter. Denn, Hannah selbstständig leben zu lassen und gleichzeitig zu schauen, dass es ihr gut geht und sie auch wie ein erwachsener Mensch behandelt wird, sei gar nicht so einfach. Ein Beispiel sei das Duzen. „Ich bin da sehr rigide. Heute habe ich ihr erklärt, dass zwei Männer kommen und mit ihr sprechen und sie fotografieren wollen. ,Und die müssen dich siezen’, habe ich gesagt. Für jemanden wie Hannah, die gerade einmal 1,43 groß ist, ist es eher normal, dass die Menschen sie duzen“, sagt Karin van Eyk. „Sie bekommt auch an der Wursttheke manchmal wie ein kleines Kind eine aufgerollte Scheibe Schinkenwurst, das geht einfach nicht. Ich bin Frau van Eyk, sie ist Frau van Eyk und das muss sie selbst lernen, genauso wie die Menschen um sie herum.“