Forschungsstelle "Westfälischer Friede": Dokumentation

DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa

Textbände > Bd. II: Kunst und Kultur

STEFAN HANHEIDE
Musikalische Kriegsklagen aus dem Dreißigjährigen Krieg

I. Musik gegen den Krieg

Antikriegsmusik, eine Musik, die die Verderbnis des Krieges und die Sehnsucht der Menschen nach Frieden zum Inhalt hat, ist im allgemeinen Bewußtsein zuerst und fast ausschließlich mit dem Zweiten Weltkrieg verknüpft. An die bekanntesten Werke dieses Genres - Brittens "War Requiem", Pendereckis "Threnos", Luigi Nonos "Canti di vita e d'amore - Sul Ponte di Hiroshima" und, wenn man den Gesichtskreis auf die Gewaltausübung im allgemeinen weitet, Schönbergs "Survivor from Warsaw" - braucht nicht erinnert zu werden. Alle diese Kompositionen entstanden jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, Pendereckis, Brittens und Nonos Werke um 1960. Während des Krieges schufen vor allem Hanns Eisler und Karl Amadeus Hartmann solche Werke, die aber während dieser Zeit kaum aufgeführt werden konnten. Bis heute bilden die Werke mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg einen Fundus von mehr als 100 Kompositionen. [1]

Verfolgt man die Geschichte der Antikriegsmusik von diesem Zeitpunkt aus rückwärts, läßt sich feststellen, daß das Erscheinen derartiger Werke seit Mitte der dreißiger Jahre schnell abnimmt. Der Erste Weltkrieg und der Krieg gegen Frankreich 1870/71 bewegten nahezu keinen Komponisten, sich künstlerisch zu äußern - und wenn, dann geschah es in patriotischer Weise zugunsten der eigenen Nation, wofür Johannes Brahms und Richard Wagner Beweise liefern. Nicht unerwähnt sollen in diesem Zusammenhang auch zwei Opern von Heinrich Zöllner bleiben, die den Krieg 1870/71 feiern; sie lauten "Bei Sedan" op. 64 und "Der Überfall" op. 65. Alle genannten Werke votierten im Grunde nicht gegen den Krieg, sondern im Gegenteil für die gewalttätige Durchsetzung staatlicher Machtinteressen. Das zeigte sich im Zusammenhang mit den Napoleonischen Kriegen noch anders. Allem voran in den späten Messen Joseph Haydns klingt der Krieg hindurch, und am Ende des "Agnus Dei" wird das "dona nobis pacem" zu einer Bitte um explizit politischen Frieden. Noch in Beethovens Missa solemnis von 1823 wirkt dieser neue musikalische Umgang mit dem "dona nobis pacem" hinein. Sowohl Haydn als auch Beethoven hatten die Napoleonische Bedrohung Österreichs in Wien hautnah miterleben können, während Brahms und Wagner überhaupt keinen Kontakt zum Kriegsgeschehen etwa bei Sedan hatten und sich und ihre Umgebung ebensowenig in Gefahr empfanden.



II. Politische Musik zum Dreißigjährigen Krieg

Aus diesem Zusammenhang wird eine Tendenz deutlich, die die Antikriegsmusik im allgemeinen betrifft: Werke dieser Art werden vorrangig dann evoziert, wenn die künstlerisch Schaffenden persönlich mit den negativen Auswirkungen von Krieg konfrontiert sind. Aus dieser Erkenntnis wiederum folgt die Vermutung, daß auch der Krieg, der neben dem Zweiten Weltkrieg die Bevölkerung am stärksten in Mitleidenschaft gezogen hat, der Dreißigjährige Krieg, eine Anzahl kompositorischer Äußerungen hervorgerufen hat. Daß derlei Kompositionen bisher kaum in die musikalische Öffentlichkeit gelangt sind, hat seine spezifischen Gründe. Ein Interesse an der Musik der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts regte sich in der Vergangenheit vor allem in Kreisen der evangelischen Kirchenmusik, die sich dabei in erster Linie auf die Trias Schütz - Schein - Scheidt gestützt hat. Daß sich diese evangelische Kirchenmusik dabei ganz auf die geistlichen Schöpfungen konzentriert, liegt nahe. Die oft hergestellte Verknüpfung der - geistlichen - Motette "Verleih uns Frieden gnädiglich" SWV 372 von Heinrich Schütz, die 1648 erschien, mit dem Westfälischen Frieden ist sachlich jedoch durch nichts gerechtfertigt. Die eigentlichen - weltlichen - Kompositionen des Dresdner Hofkapellmeisters, die sich ganz explizit auf das politische Geschehen der Zeit beziehen, haben trotz ihrer Verfügbarkeit in der Schütz-Gesamtausgabe bisher nur marginales Interesse auf sich gezogen. Ihre schlichte Existenz stützt aber die Vermutung, daß zeitbezogene Kompositionen im Zusammenhang mit dem Dreißigjährigen Krieg auch andernorts von anderen Komponisten geschaffen wurden. Die eingehende Suche nach derartigen Werken fördert zutage, daß mindestens siebzig Kompositionen allein vom Titel oder vom Text her schon einen solchen Bezug aufweisen. [2] Nicht eingerechnet sind Werke, die zwar zur Klage gegen den Krieg oder bei Friedensfeiern verwendet werden konnten, also etwa Vertonungen der Klagelieder Jeremias' einerseits oder des 150. Psalms andererseits, bei denen aber ein direkter Hinweis auf den Zusammenhang mit dem Krieg fehlt.

Diese siebzig Kompositionen lassen sich grundsätzlich in Kriegsklagen und in Friedensfeiermusiken einteilen. Unter Friedensfeiermusiken sind vor allem die zwischen 1648 und 1651 erschienenen Werke zu fassen, die für Feiern anläßlich des Westfälischen Friedens komponiert wurden. Hinzu kommen Kompositionen, die sich auf zwischenzeitliche Friedensabschlüsse vor 1648 beziehen. Die Eindeutigkeit der Zuordnung wird dadurch erschwert, daß die Friedensfeiermusiken vielfach vornehmlich die erlittenen Kriegsplagen besingen, also inhaltlich eigentlich der Gattung der Kriegsklagen angehören. Der Bezug zu einem konkreten historischen Friedensschluß läßt aber die Einordnung als Friedensfeiermusik sinnvoll erscheinen. Eine Sonderform bilden in diesem Zusammenhang die Kompositionen zur Huldigung Gustav Adolfs, besonders zu dessen Tod 1632.

Die politischen Kompositionen zum Dreißigjährigen Krieg und zum Westfälischen Frieden haben bisher das Interesse der Musikwissenschaft nicht wecken können. Deshalb gibt es von den meisten der Werke keine Neuausgaben, sondern es existiert in der Regel lediglich ein einziges vollständiges historisches Druckexemplar in einer der Bibliotheken Europas. Allein die betreffenden Kompositionen von Heinrich Schütz liegen in der "Neuen Schütz-Ausgabe" vor. Daneben gibt es noch die Werke Heinrich Alberts in den "Denkmälern der deutschen Tonkunst" und die Werke Kindermanns in den "Denkmälern der Tonkunst in Bayern", beides Ausgaben vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Einspielungen gibt es ebenfalls ausschließlich von den Werken von Heinrich Schütz.

Innerhalb der rund siebzig kriegsbezogenen Kompositionen lassen sich etwa dreißig direkt als Kriegsklagen ansprechen. Das ist zwar verschwindend wenig im Rahmen der reichen musikalischen Produktionsfülle des frühen 17. Jahrhunderts - man bedenke, daß das Verzeichnis der Werke von Heinrich Schütz weit über 500 Nummern aufweist, und daß Melchior Franck allein mehr als 600 geistliche Werke in 40 Sammlungen schuf sowie eine Fülle von weltlicher Vokal- und Instrumentalmusik. Aber an dieser Art der musikalischen Kriegsklage hat sich doch ein großer Teil der wichtigsten Komponisten der Zeit beteiligt, so etwa Heinrich Schütz in Dresden, Johann Erasmus Kindermann und Johann Staden in Nürnberg, Melchior Franck in Coburg, Heinrich Albert in Königsberg, Andreas Hammerschmidt in Zittau, Erasmus Widmann in Rothenburg ob der Tauber, Johannes Werlin in Lindau und Johann Hildebrand in Eilenburg. Aus dieser Zusammenstellung wird deutlich, daß diese Kriegsklagen ganz ausnahmslos aus dem protestantischen Raum stammen, der dem katholischen Bereich in Hinsicht musikalischer Komposition in dieser Zeit in Deutschland weit überlegen war.

Während diese komponierten Kriegsklagen im Spektrum der zeitgenössischen Musikproduktion in quantitativer Hinsicht völlig unbedeutend sind, ist ihr qualitativer Rang jedoch achtbar. Eine der betreffenden Kompositionen von Heinrich Schütz, die Motette "Da pacem, Domine", wurde sogar als "eines seiner stärksten Stücke überhaupt" bezeichnet. [3] Die Komponisten finden zu ganz individuellen musikalischen Konzeptionen, um der Klage über die Kriegsauswirkungen Ausdruck zu verleihen.

Über die Verbreitung und die Auflage der einzelnen Musikalien ist schwer zu urteilen. Einen gewissen Verbreitungsgrad dürften zumindest diejenigen Werke erreicht haben, die in den Messekatalogen der Frühjahrs- und Herbstmessen für Druckwerke in Frankfurt und Leipzig verzeichnet waren. Deshalb wird auf eventuelle Einträge in den Messekatalogen hier eigens hingewiesen. [4]



III. Johann Stadens Kriegsklagen

Eine sehr frühe musikalische Kriegsklage erschien 1622 in Nürnberg von dem Sebald-Organisten Johann Staden (1581-1634) unter dem Titel "Drey Christliche Bet=Gesäng / zu diesen gefährlichen unnd betrübten Zeiten sehr notwendig zu gebrauchen. Mit 4. Stimmen Auff ihre gewöhnliche Melodey komponiert". [5] Die drei vierstimmig gesetzten Lieder tragen dem begonnenen Krieg Rechnung. Das erste Lied hebt an: "Gib Fried zu unser Zeit o Herr / Groß noth ist jetzt vorhanden." In der zweiten Strophe heißt es: "Gib Fried den wir verloren han / Durch unglaub und böß leben". Schon in dieser frühen Kriegsklage kommt das Verständnis des Krieges als Folge menschlicher Sünde zum Ausdruck. Der zweite Gesang - "Wenn wir in höchsten Nöten sein" - bringt die Not in allgemeiner Form zum Ausdruck. Das dritte Lied besteht aus der zweiten Strophe von Martin Luthers "Verleih uns Frieden gnädiglich", in der für die Obrigkeit "Fried und gut Regiment" erbeten wird.

Die Bitte um Frieden kommt auch in Stadens vierteiliger Sammlung "Hauß Music" immer wieder in einzelnen Gesängen zum Ausdruck, so im ersten Teil von 1623 in der Vertonung des "Da pacem, Domine", im dritten Teil von 1628 im Betgesang um den Frieden und im vierten Teil aus dem gleichen Jahr im "Gebet um Abwendung von allerhand Landstrafen". Von Staden stammt auch eine Vertonung des Rist-Textes "O welch ein Übel ist der Krieg". [6]



IV. Heinrich Schütz: Da Pacem, Domine (1627)

Der Dresdner Hofkapellmeister Schütz hatte 1621 zwei Kompositionen zur Huldigung für seinen Kurfürsten in Breslau geschaffen, in denen der ausgebrochene Krieg und der gewünschte Frieden schon angesprochen waren (vgl. meinen anderen Aufsatz in diesem Band).

Sechs Jahre später schuf er ein drittes Werk dieser Richtung, das aber von seiner Gestalt nun ganz anders ausgerichtet war und als Kriegsklage angesprochen werden kann: die doppelchörige Motette "Da pacem, Domine" [7], die anläßlich des Kurfürstentages 1627 in Mühlhausen entstand. Wie schon in Breslau 1621, so befand sich Schütz auch hier im Gefolge Johann Georgs I., diesmal mit 18 Mitgliedern seiner Hofkapelle, die in einem erhalten gebliebenen Verzeichnis einzeln aufgelistet sind. [8] Wiederum galt es, eine huldigende Begrüßung für die anreisenden Potentaten zu komponieren. Inzwischen jedoch waren die Folgen des andauernden Krieges für die Bevölkerung deutlich geworden. So beließ es Schütz in diesem Werk nicht dabei, die Kurfürsten zu ehren, sondern verknüpfte diese Huldigung mit dem Text der mittelalterlichen Antiphon "Da pacem, Domine". Der I. Chorus beginnt: "Gib Frieden, Herr", und spricht dann aus, daß nur Gott allein den Frieden geben könne. Dieser Chorus sollte von fünf Violen gespielt, eine oder zwei Stimmen dazu von Diskantisten gesungen werden. Chorus II richtet sich dagegen mit Vivat-Rufen in lateinischer Sprache an die Kurfürsten. Es heißt: "Es lebe der Mainzer, es lebe der Trierer, es lebe der Kölner, sie leben, die drei Begründer des Friedens; es lebe Ferdinand, der unbesiegbare Kaiser! Es lebe der Sachse, es lebe der Bayer, es lebe der Brandenburger, sie leben, die drei Beschützer des Friedens." Schütz kombiniert in diesem Werk sinnfällig die notwendigen Huldigungsfloskeln an die Potentaten mit der eindringlichen Bitte um Frieden, die er an Gott richtet. Die Interpolation des alten Da-pacem-Textes in einen die aktuelle politische Situation ansprechenden Text ist dabei ein Verfahren, das sich auch in Flugschriften der Zeit wiederfindet. [9] Dieser zweite Chorus sollte nach Angaben von Schütz von vier Sängern gesungen werden, "welche die Wort mit feiner gratiâ aussprechen und sonst stark singen, und kan dieser Chor Von dem ersten absonderlich gestellet werden". [10] Die Darstellung Martin Gregor-Dellins, nach der der zweite Chor, die Vivat-Rufe singend, am Kirchenportal aufgestellt war, der erste Chor seine Da-pacem-Rufe aber aus dem Innern der Kirche vortrug [11], ist zwar sinnfällig, entbehrt jedoch der historischen Quelle. Nach dem aufführungspraktischen Hinweis, von Schütz "Ordinantz" genannt, lag es ihm also an der Textverständlichkeit besonders der Begrüßungsfloskeln und Hochrufe. Der naheliegende Schluß, daß die Huldigung der Potentaten das Wesen dieser Komposition ausmacht, wird jedoch durch die formale Konzeption konterkariert, denn der Anfang, die ersten 24 Takte, und der Schluß, die letzten 29 Takte, gehören allein dem Vortrag der Friedensbitte. Auch im Mittelteil, der die Huldigung beinhaltet, werden immer wieder Partien des Da-pacem hineingesungen, und im Schlußteil des Werkes singen beide Chöre gemeinsam in lateinischer Sprache: "Gib Frieden, Herr, in unseren Tagen". Das Werk schließt also nicht mit Hochrufen, sondern mit einer sehr verhalten vorgetragenen Bitte um Frieden. Damit macht Schütz deutlich, daß das Hauptanliegen der Mühlhäuser Zusammenkunft nicht Huldigung der Kurfürsten ist, sondern Schaffung des Friedens. Diese Bitte richtet sich nun aber nicht an die politisch Verantwortlichen, sondern an Gott. Wollte man allerdings aus der Faktur dieser Motette schlußfolgern, daß Schütz den Herrschern die Gewinnung des Friedens nicht mehr zutraute, würde man sich auf schwankendes Eis begeben, denn man weiß zu wenig über Schütz' Haltung zur Politik seiner Zeit. [12] Ein Merkmal aber zeigt sich in dieser Schützschen Konzeption, das schon bei Staden zu finden war und auch für alle weiteren Kriegsklagen gilt: Die Klage über den Krieg und die Bitte um den Frieden war ohne religiöse Dimension nicht möglich. Den Krieg empfand man als eine durch Sünde verschuldete Strafe, und der Friede konnte nur durch Gottes Vergebung dieser Sünde und den Erlaß der Strafe erreicht werden.



V. Melchior Franck: Suspirium Germaniae Publicum (1628)

Ein Jahr später, 1628, brachte Melchior Franck (1579-1639) eine Kriegsklage im Druck heraus, die den Titel trägt: "Suspirium Germaniae Publicum, Das ist: Allgemeine des betrübten Vaterlandes Seufftzerlein, Bey instehenden und gefährlichen Leufften, auß dem Propheten Daniel am 9. und ersten Buch Mos. am 18. Cap. erhaben [es folgt eine devote Widmung an den Bürgermeister und den Rat der Stadt Nürnberg]. Ubersetzet durch Melchior Francken, Fürstl. Sächs. Capellmeister." [13] Die im Titel erscheinende zweisprachige Anlage lateinisch/deutsch spiegelt sich auch in der Komposition selbst wieder. Ein sechsstimmiger Chor trägt zu Beginn homophon lateinisch die Worte vor: "Damit ihr den Angriff der Feinde nicht fürchtet". Nach 27 Takten führt der Tenor allein rezitativisch mit Generalbaßbegleitung diesen angefangenen Satz fort mit den Worten: "sollt ihr eingedenk sein, auf welche Weise unsere Väter bewahrt worden sind, und nun laßt uns unsere Stimme zum Himmel erheben". Daraufhin trägt der sechsstimmige Chor in deutscher Sprache akkordisch psalmodierend einen Text vor, der an die Verse 18 und 19 aus Daniel 9 angelehnt ist, responsorial abwechselnd mit der Tenorstimme (Abb. 1). Als Abschluß singt der gesamte Chor lateinisch: "Und unser Gott wird sich unser erbarmen". Als zweiter Teil der Komposition folgt ein achtstrophiger vierstimmiger Kantionalsatz auf den Inhalt des 18. Kapitels des 1. Buches Moses (Genesis). Melchior Franck verknüpft in dieser Komposition die katholische und die evangelische Sphäre auf zweierlei Weise: Die Sprache der katholischen Liturgie, lateinisch, wird mit der vornehmlichen Sprache der evangelischen Liturgie, deutsch, in einer Komposition vereinigt. Auch musikalisch wird diese Vermischung vollzogen: Franck verwendet ein Element der katholischen Liturgie, den gregorianischen responsorialen Psalm-Gesang, und ein Moment der evangelischen Liturgie, das geistliche Strophenlied. Seine Komposition gestaltet er in Form des Abwechselns von Vorsänger und Gemeinde, womit er die reale Situation des Gebets um den Frieden abbildet.

Aus den Umständen von Francks Komposition läßt sich einiges über den Umgang mit derartigen Werken erfahren: Franck widmete, wie schon erwähnt, sein Werk dem Rat der Stadt Nürnberg. Solche Widmungen geschahen sehr häufig zu diesen Zeiten - auch Johann Hermann Schein und Samuel Scheidt widmeten Werke dem Rat in Nürnberg. Dieser legte solche Werke nun seinen kompetentesten Musikern, in diesem Fall dem Sebald-Organisten Johann Staden und dem Lorenz-Organisten Valentin Dretzel, zur Begutachtung vor. Nach einem positiven Urteil erhielt der Widmende, so auch Franck, eine bestimmte Summe von der Stadt Nürnberg. Die schriftlichen Dokumente dazu sind erhalten (Abb. 2). [14]



VI. Erasmus Widmann: Piorum Suspiria (1629)

Im Jahre 1629 gab Erasmus Widmann (1572-1634), Kantor und Organist in Rothenburg ob der Tauber, eine Sammlung mehrstimmiger Gesänge unter folgendem Titel heraus: "Piorum suspiria. Andechtige Seufftzen unnd Gebet umb den lieben Frieden und abwendung aller Hauptplagen und Straffen: Gesangsweiß gestellt: Darbey auch etliche nach der newen Viadanischen Art gesetzten Moteten unnd Gesäng auff die hohen Fest bey der Communion und Copulationen zu musiciren". [15] Diese Sammlung besteht aus dreißig Einzelgesängen, die in sich drei Gruppen bilden. Nach einem ersten Teil, auf den noch näher einzugehen ist, folgt als zweiter Teil eine aus neun kürzeren dreistimmigen Einzelmotetten zusammengestellte Reihe, jeweils mit einem lateinischen und deutschen Text ohne expliziten Zeitbezug, in denen Jesus angebetet wird. An dritter Stelle stehen dreizehn größere Einzelmotetten zu drei oder vier Stimmen mit Generalbaß. Die Texte sind mit einer Ausnahme (Komm Heilger Geist, Herre Gott) lateinisch und entstammen weitgehend dem Hohelied Salomonis. Die Bestimmung dieser zwei Teile ist dem Vorwort zu entnehmen: Die zweite Gruppe dient als Musik während der Kommunion; hier sind neun kürzere Teile aneinandergereiht, um die Dauer der Kommunion auszufüllen, gleichzeitig aber bei deren Ende auch mit dem Gesang aufzuhören. Die Nutzung des dritten Teils als Hochzeitsmusik ist durch die Verwendung von Hohelied-Texten evident. Diesen beiden Teilen vorangestellt hat Widmann nun einen ersten Teil mit aktuellem Zeitbezug. Er besteht aus sieben Kantionalsätzen mit teilweise bis zu 38 Strophen, in denen die Kriegsnot und der ersehnte Friede behandelt werden. Die ersten beiden dieser Sätze sind mit "Nürnbergisch Gebet" und "Rotenburgisch Gebet" betitelt. In der Vorrede teilt Widmann mit, daß diese Gebete in den Kirchen verordnet worden seien, "welche ich in reymen Gesangsweis verfast und mit vier vocibus hierinnen vornan gesetzt". Widmann zeigt sich hier als kluger Zeitgenosse, der sich die politischen Geschehnisse zunutze zu machen wußte. Er dichtete eine gereimte Version der zu betenden Texte - das "Nürnbergisch Gebet" hat 38 Strophen zu 8 Zeilen, das "Rotenburgisch Gebet" 12 zu 12 Zeilen - und komponierte einen schlichten Liedsatz dazu. Ferner gab er noch eine Melodie an, in der diese Dichtungen gesungen werden können, wenn sein einfacher, neu komponierter Satz schon zu hohe Anforderungen stellt. Das "Piorum suspiria" wurde in den Messekatalogen der Herbstmesse 1629 in Frankfurt und Leipzig angezeigt.

Widmann hatte schon 1620 vor dem Hintergrund des Krieges ein allegorisches Schauspiel mit Musikeinlagen verfaßt. [16] Er sah sich, wie auch manche seiner Kollegen, als Dichter und Komponist in Personalunion. 1633 trat er mit zwei weiteren zeitnahen Werken hervor: zum einen erschien ein "Danckh- und Lobgesang für die Erlösung auß der Päpstischen Trangsal der hochlöblichen Stadt Augspurg", zum anderen publizierte er eine Sammlung von Heldengesängen auf Gustav Adolf. Vielleicht ist es nicht unzulässig, Widmann aufgrund seines Geschäftssinnes als musikalischen Kriegsgewinnler zu bezeichnen. Jedenfalls hat er sich mit solchen Werken Einnahmen verschafft, die er in Friedenszeiten mit anderen Arbeiten verdient hätte. Auf Grund des sich ausbreitenden Krieges wurden vielerorts in Deutschland den Musikern die Gehälter gekürzt oder zeitweise ganz gestrichen. Die dadurch entstehende große materielle Not konnte mit den Einnahmen aus solchen Kompositionen gelindert werden. [17] Widmann hätte wohl noch weitere Werke mit Zeitbezug hervorgebracht, wäre er nicht ein Jahr darauf, 1634, an der Pest gestorben.



VII. Politische Bezüge in Heinrich Alberts Arien

Wie stark sich die Gesangsproduktion der Zeit an unmittelbar aktuelle politische Ereignisse der Zeit anlehnte, zeigen auch zwei Arien des Königsberger Domorganisten Heinrich Albert (1604-1651) aus dem Jahre 1635. Die eine Aria komponierte Albert auf einen Text von Simon Dach. Sie trägt den Titel: "Als die hochlöblichen Crohnen, Pohlen und Schweden nach abgelauffenem Sechsjährigen Stillstand in Preussen, sich wiederumb zum Krieg rüsteten, Im Jahr 1635" [18]. Der Titel bezieht sich auf den Waffenstillstandsvertrag von Altmark zwischen Polen und Schweden vom 26. September 1629. Albert komponierte eine dreistimmig imitatorische Aria mit vier Strophen, in der geklagt wird: "Das Leid ist hier, das sehen wir, was Krieg und Schlacht uns denn für großen Jammer macht". Alberts nächstes Werk auf einen Text von Andreas Adersbach trägt den Titel: "Da, durch Gottes Gnade, zwischen höchstermeldten beyden löblichen Crohnen der Sechs und Zwantzig-jährige Stillstand geschlossen worden den 12. Septembris selbigen Jahres" [19]. Hier bezieht sich Albert auf den Frieden von Stuhmsdorf. Im Text der fünfstimmigen polyphonen Komposition mit sieben Strophen heißt es nunmehr: "Gott sei Dank für solches Gnadenwerk, Nun ist Fried in allen Ständen, Fried ist hier an allen Enden: Fried ist über ganzes Königsberg, Friede rufen allzumal. Fried in Preußen überall."



VIII. Johann Erasmus Kindermann: Musikalische Friedens Seufftzer (1642)

Ein besonders großes Engagement für Friedensmusiken zeigte der Nürnberger Egidien-Organist Johann Erasmus Kindermann (1616-1655). Dies muß aber nicht unbedingt auf dezidiert große Friedensliebe zurückzuführen sein. Kompositionen, die die Friedenssehnsucht der Menschen nach dem langen Krieg zum Ausdruck brachten, waren spätestens in den vierziger Jahren des Jahrhunderts "en vogue", und der noch junge Musiker durfte damit auf vielseitiges Interesse hoffen - zumal in einer Stadt, die für den Kriegsverlauf und für die Friedensverhandlungen eine außerordentlich bedeutende Rolle spielte, die eine Hochburg der evangelischen Kirchenmusik war und das Zentrum des deutschen Musikaliendrucks. 1640 gab Kindermann das Sammelwerk "Friedensklag" heraus. [20] An diesem nicht vollständig erhaltenen Werk waren neben Kindermann drei weitere Komponisten beteiligt, von denen der damalige Nürnberger Liebfrauen-Organist Johann Andreas Herbst (1588-1666) namhaft gemacht werden kann. Zwei Jahre später brachte Kindermann eine Sammlung mit ausschließlich eigenen Werken heraus, die er "Musikalische FriedensSeufftzer" nannte. [21] Hier wird etwas deutlich, was auch für die nachfolgenden Kriegsklagen zutrifft: Sie erschienen nun nicht mehr einzeln, sondern in Sammlungen. Daran läßt sich ablesen, daß diese Werke eine gewisse Konjunktur hatten, daß solche Musik gefragt war.

In der Vorrede zu seinen "Musikalischen FriedensSeufftzern" geht Kindermann zunächst auf den Entstehungshintergrund der Sammlung ein, die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges. Er gedenkt "Deme / von so vielen Jahren her / mit Auffopfferung vieler millionen Seelen geführten Christen=Krieg" und richtet seinen Blick auf "unser liebes / von Blut=Wellen gleichsam überschwemtes / an Land und Leut unnd Städten ganz verösetes / auch an Volck und Geld entblöstes Vatterland teutscher Nation". Dann spricht Kindermann aus, wofür seine Komposition gedacht ist: "bey anstellung unterschiedener Reichs-Convent, Deputation, Kriegs, und anderer, diesen Edlen so lang begehrten Frieden zu erlangen, angestellten Tägen". Die Musik ist also zur Begleitung von Friedensverhandlungen komponiert; Kindermann erwähnt "nunmehr wiederumb angestellten Tägen"; die Vorrede ist datiert mit dem 27. November, der Druck ist von 1642. Nicht nur über den äußeren Anlaß, sondern auch über den inneren Sinn macht der Verfasser Ausführungen: "Wann aber derer Wort mit Beysetzung einer lieblichen Harmonia viel annehmlicher gemacht und deß Menschen Hertz zu mehrer auffgemuntert unnd beweget wird". Hier scheint eine Musikauffassung hindurch, die vom Mittelalter bis zum späten Bach präsent war und deren Wurzeln schon in der griechischen Antike liegen. Die zentrale Rolle spielt darin die Vorstellung, daß die Musik von Ordnungsgesetzen geprägt ist. Deshalb gehörte "musica" innerhalb der sieben freien Künste, die das Bildungssystem der Zeit prägten, zu den vier quadrivialen Künsten, die sich mit Ordnungsfragen beschäftigten, ebenso wie die Geometrie, die Arithmetik und die Astronomie. Ihnen gegenüber standen die drei trivialen, sich mit der Sprache beschäftigenden Künste Rhetorik, Dialektik und Grammatik. Nach dieser quadrivialen Vorstellung also erreicht die Musik, indem in ihr eine Ordnung - die Harmonia - waltet, eine Wirkung auf die menschliche Seele, modern müßte man Psyche sagen. Diese Wirkung besteht darin, daß die Musik mit Hilfe der ihr innewohnenden Harmonie die in Unordnung befindliche Seele in ihre Ordnung zurückführt. Der Mensch wird also durch Musik von dem Bösen, der Sünde, weggeführt und dem Guten zugeführt. Im konkreten Fall heißt das, daß die Gegenwart von Musik bei den Friedensverhandlungen die friedliebenden Tendenzen der Verhandelnden fördert und ihre kriegstreibenden und rachsüchtigen Absichten zurückdrängt. Musik steht also in direktem Dienste der Friedensschaffung.

Neben der Aufführbarkeit bei politischen Verhandlungen spricht Kindermann indirekt noch eine andere Verwendungsmöglichkeit an: Er habe das Werk nämlich dem Markgrafen Albrecht von Brandenburg-Ansbach und dem Grafen Joachim Albrecht von Hohenlohe-Langenburg deshalb gewidmet, weil diese in ihrem Herrschaftsgebiet Bittgottesdienste für den Frieden eingerichtet hätten. Er denkt also an Aufführungen seiner Stücke auch innerhalb dieser Bittgottesdienste.

Kindermanns Sammlung "Musikalischer Friedensseufftzer" besteht aus acht Einzelstücken von unterschiedlicher Textaussage und musikalischer Faktur. Die Stücke 1 bis 5 sind geistliche Konzerte zu drei Stimmen mit Generalbaß, die Stücke 6 und 7 sind vierstimmige Strophenlieder, und das letzte Stück ist ein zweistimmiger Choralsatz zu 5 Strophen mit Violinritornellen. Die in den Nummern 1 bis 5 vertonten Texte gehören zu den ganz zentralen Texten im Zusammenhang von Krieg und Frieden. Es handelt sich um das 9. Kapitel Daniel, das auch Melchior Franck herangezogen hatte, um die Antiphon "Da pacem, Domine", die bei Schütz zu finden war, und um die Klagelieder Jeremiae, die in der Geschichte bis ins zwanzigste Jahrhundert immer wieder zu Kriegsklagen herangezogen wurden. Die Texte der Strophenlieder Nr. 6 und 7 beziehen sich auf den aktuellen Krieg und bringen die Leiden des Krieges und die Sehnsucht nach Frieden zum Ausdruck. Ebenfalls aktuell ist der Text von Nr. 8 "Verzage nicht, du Häuflein klein", den Michael Altenburg anläßlich der Schlacht bei Breitenfeld 1631 dichtete. Dieser Liedtext galt als "Bannerlied der evangelischen Sache" und genoß große Popularität. [22] Die "Friedens Seufftzer" gelangten in den Messekatalogen der Frühjahrsmesse 1643 in Frankfurt und Leipzig zur Anzeige.



IX. Johannes Werlin: Irenodiae (1643)

Die wohl bedeutendste und umfangreichste Sammlung von Kriegsklagen schuf Johannes Werlin unter dem Titel "Irenodiae, Oder Friedens-Gesäng. Das ist: NEwe Geistliche Concert, bey diesen noch continuirlich grassirenden hochgefährlichen Kriegsläufften / umb gnädige Abwendung solcher langwürigen Plag / und Vätterliche Widerschenckung deß so offt gewünschten guldenen Friedens / und hochwerthen thewren Kleinods / zu vermehrung der Andacht / und auffmunterung der Hertzen / Heilsam und Christlich zu gebrauchen." [23] Die Sammlung erschien 1643 in Ulm - die Generalbaßstimme ist mit 1644 datiert, was darauf hinweist, daß das Werk um die Jahreswende gedruckt wurde -, die Vorrede ist mit dem 17. Juli 1643 datiert. Bei dem Komponisten handelt es sich nicht um den katholischen Komponisten gleichen Namens aus dem Kloster Seeon, sondern um jenen protestantischen Werlin aus Oettingen, der von etwa 1640 bis zu seinem Tod 1680 in Lindau am Bodensee als Lehrer und "Director Chori musici" an der dortigen Lateinschule wirkte. Das Werk ist dem Rat der Stadt Lindau gewidmet. Werlin bedankt sich darin für die erfolgte Anstellung als "Praeceptor" in der Lateinschule und als Direktor des "Chori musici". Ferner bedankt er sich für den ihm gewährten Unterricht durch einen "in omni Musica hocherfahrnen und excellirenden Itali", die Beifügung "allhier" deutet darauf hin, daß Werlin nicht, wie sonst üblich, eine Studienreise nach Italien angetreten hat, sondern daß der Unterricht in Lindau stattfand. Der oben zitierte Werktitel gibt des weiteren an, daß das Werk "auff jetzo gebräuchliche Italiänische Invention mit 2, 3 und 4 Stimmen neben dem Basso Continuo verfertiget" sei.

Bei dem Werk handelt es sich um 31 geistliche Konzerte, davon sind die ersten 10 Konzerte zweistimmig, die folgenden 10 dreistimmig und die letzten 11 vierstimmig. In der Anlage kommen sie den "Kleinen Geistlichen Konzerten" von Heinrich Schütz aus den Jahren 1636 und 1639 nahe, nur handeln die Texte bei Werlin ausschließlich von Krieg und Frieden, während Schütz inhaltlich vielfältige Bibel- und Choraltexte zur Vertonung herangezogen hat. Der Begriff "Italienische Invention" weist auf den Ursprung dieser Kompositionsart hin, der in den "Cento Concerti Ecclesiastici" von Ludovico da Viadana aus dem Jahre 1602 zu suchen ist. Die Besetzung bei Werlin ist sehr variantenreich und nutzt alle möglichen Stimmzusammenstellungen aus, so auch etwa zwei Soprane und zwei Bässe oder drei Tenöre und Baß. Die Stimmen sind durchweg polyphon gesetzt, oft imitatorisch. Werlin arbeitet häufig mit Taktwechseln und führt Tempomodifikationen ein, vor allem zur Intensivierung der im Text vorgenommenen Aussage. So schreibt er über Worten wie "klagen" und "weinen" die Tempobezeichnung "adagio" (Nr. 29). Der Satz "Wende das Weinen in Lachen, das Herzleid in Freud" verlangt bei "Weinen" adagio, bei "Lachen" allegro, bei "Herzleid" wieder adagio und bei "Freud" abermals allegro, alles innerhalb weniger Takte (Nr. 23, s. Abb. 3). Werlin macht sich auch die weiteren kompositorischen Mittel zur musikalischen Darstellung des Textes zunutze, wie sie im italienischen Madrigal im 16. Jahrhundert entwickelt und in der evangelischen Kirchenmusik der Folgezeit intensiv genutzt wurden.

Der Verfasser des Textes bleibt ungenannt, es darf aber angenommen werden, daß er mit dem Komponisten identisch ist. Das geht daraus hervor, daß Werlin seine Vorrede mit sechs gedichteten Zeilen schließt, die er dann im letzten seiner Konzerte vertont hat. Darin wird im Bild der Linde der Stadt Lindau Glück gewünscht (Abb. 4). Das Werk wurde in den Messekatalogen der Frühjahrsmesse in Frankfurt und der Frühjahrs- und Herbstmesse in Leipzig 1644 angezeigt. [24]



X. Johann Hildebrand: Krieges-Angst-Seufftzer (1645)

Eine weitere Sammlung mit Kriegsklagen wurde 1645 in Leipzig als Werk des Eilenburger Nicolai-Organisten Johann Hildebrand (1614-1684) unter dem Titel "Krieges-Angst-Seufftzer" gedruckt [25]. Bei der zweiteiligen Komposition handelt es sich im ersten Teil um einstimmige generalbaßgestützte Monodien, die als "Kriegs- Angst-Seufftzer I bis VI" bezeichnet sind. "Hierauf folgt die göttliche Friedens-Vertröstung" lautet der anschließende Gesang derselben musikalischen Faktur. Im zweiten Teil von Hildebrands Sammlung erscheinen fünf vierstimmige Kantionalsätze jeweils mit mehreren Strophen, einer davon mit zwei Texten. Sie sind als "Zugabe an die gesambte Friedens-Begierige Bürgerschafft" bezeichnet; der erste Teil war einigen geistlichen und weltlichen Würdenträgern Eilenburgs, die namentlich in der Vorrede erwähnt sind, zugeeignet.

Carl von Winterfeld schreibt 1845 über den Charakter des Werkes: "Es entstand zu einer Zeit, wie schon die Jahreszahl seines Erscheinens zeigt, wo der verderbliche dreißigjährige Kampf in Deutschland zwar schon seinem Ende sich nahte, aber Sachsen zumahl noch den ganzen Druck des Elendes empfand, das er mit sich geführt hatte. Man fühlt es dem Tonsetzer an, wie schwer dasselbe auch auf ihm lastete, seine Seufzer kamen ihm aus dem Herzen, die Zeit hat sie ihm wahrhaft ausgepreßt." [26] Dieser Eindruck bestätigt sich schon bei einem Blick auf die erste Seite des Drucks (Abb. 5).

Tatsächlich ist die Geschichte der Stadt Eilenburg [27] zwischen 1637, dem Beginn der Organistentätigkeit Johann Hildebrands an St. Nicolai, und 1645, der Drucklegung der "Krieges-Angst-Seufftzer", zutiefst von den Greueln des Dreißigjährigen Krieges geprägt. Die in der Stadt abwechselnd hausenden sächsischen, kaiserlichen und schwedischen Soldaten verursachten großes Elend und mißhandelten die Bevölkerung schwer; sie werden als verwildert, zügellos und roh beschrieben. Durch die Besatzung entstanden der Stadt etliche Male Kontributionen in Form von hohen Geldbeträgen und großen Mengen von Nahrungsmitteln. Die Häuser in den Vorstädten wurden ihrer Dächer beraubt, weil die Soldaten das Holz zum Palisadenbau benutzten. Große Scharen von Landleuten trieben in die Stadt. Die Pest wütete unter der Bevölkerung und verschlimmerte sich durch die Überfüllung der Wohnräume. 1637 starben 3161 Einwohner, davon nur 97 Soldaten. 1638 herrschte eine furchtbare Hungersnot: "Hunde Katzen, Ratten, sogar Aas werden verzehrt. Leute, welche früher Landgüter gehabt, verhungern hier und sterben auf den Misthaufen, welche sie vergeblich nach Nahrung durchwühlt haben. [...] Besonders zur Nachtzeit klang das Klagen und Winseln der in den Straßen und auf den Misthaufen liegenden Verhungernden schauerlich", so berichtet die Chronik [28], die nur ein Beispiel für das Schicksal vieler anderer deutscher Städte darstellt.

Zur musikalischen Darstellung der Kriegsnot verwendet Hildebrand eine Fülle von melodisch-rhythmischen Wendungen, die den Aussagegehalt des jeweils gesungenen Wortes verstärken sollen. Sie wurden in der zeitgenössischen Musiktheorie mit Figur- Begriffen aus der Rhetorik benannt. In aller Regel handelt es sich um Wendungen aus der Gruppe der Hypotyposis (griech. Abbildung)-Figuren, die den Sinn- und Affektgehalt der Wörter abbilden. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen:

Die Suspiratio (lat. Seufzen) bildet musikalisch die Worte "seufzen" und "weinen" ab; die Vorstellung des menschlichen Seufzens ist in Melodik und Rhythmik nachgezeichnet. Der "Passus duriusculus", der etwas harte Gang, bedeutet die chromatische melodische Fortschreitung als etwas vom Normalen, der diatonischen Melodik, Abweichendes. Dem entsprechen an dieser Stelle die "elenden Nächte" und der "lang" anhaltende Kriegszustand. Ähnlich verstanden wird der "Saltus duriusculus", der etwas harte Sprung; auch hier ist der große Sprung als eine Abweichung vom normalen Singen gemeint. Der verzweifelte Ausruf "Ach Gott" wird mit diesen unnormal großen Intervallen intensiv zum Ausdruck gebracht. Schließlich findet man häufig die Figur der Pathopoeia vor, die Joachim Burmeister 1606 definiert als "geeignete Figur, um Affekte zu erregen. Sie geschieht, wenn Halbtöne in die Komposition eingefügt werden, die weder zum modus noch zum genus der Komposition gehören" [29]. Gleich am Beginn des ersten "Krieges-Angst-Seufftzers" verwendet Hildebrand dieses Mittel, indem er ständig die Töne cis'' und c' wechselt, um die erregte Stimmung des von Jammer und Herzeleid handelnden Textes zum Ausdruck zu bringen (vgl. Abb. 5). Die gesamte Komposition ist durchsetzt mit solchen musikalischen Mitteln, mit denen in der Zeit des Frühbarocks die Aussage des Textes musikalisch intensiviert wurde.

Mit Hildebrands "Krieges-Angst-Seufftzern" endet 1645 die Reihe der Kriegsklagen aus dem Dreißigjährigen Krieg. Im gleichen Jahr erscheint in Hamburg schon die erste Musik zur Feier des bevorstehenden Friedens, Johann Martin Ruberts "Friedens- Frewde". Mit dem Herannahen des Westfälischen Friedens geht die Komposition von Kriegsklagen zurück. Darin zeigt sich ein Unterschied zum Zweiten Weltkrieg, der bedeutende Kriegsklagen noch Jahrzehnte nach seinem Ende hervorgerufen hat, während solche Kompositionen vor 1945 mit einigen Ausnahmen nicht von gleichem Rang sind.



XI. Barocke Kriegsklage im Dritten Reich: Karl Amadeus Hartmann

Abschließend sei noch auf zwei dieser Ausnahmen verwiesen, in denen in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts literarische Kriegsklagen des Dreißigjährigen Krieges zum Bekenntnis gegen den sich abzeichnenden Krieg rezipiert wurden. Es handelt sich um zwei Werke aus der Feder des Münchener Komponisten Karl Amadeus Hartmann (1905-1963). In den Jahren 1934 und 1935 komponierte Hartmann die Kammeroper "Simplicius Simplicissimus" nach Grimmelshausen und 1936 die Kantate "Friede Anno 48" für Sopran, vierstimmigen gemischten Chor und Klavier auf Texte von Andreas Gryphius.

Hartmann hatte sich gegen Ende der Weimarer Republik mit einigen Werken in München hervorgetan, entschied sich aber nach 1933, sich im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr öffentlich zu präsentieren. Bei seiner sozialistischen Grundhaltung wäre er ohnehin mit dem Regime in Konflikt geraten. Er lebte in München in der "inneren Emigration" und hoffte auf Aufführungen seiner Werke im Ausland. Sein kompositorisches Schaffen ab 1933 ist geprägt von dem Bekenntnis gegen den deutschen Unrechtsstaat und seine Gewalttätigkeit.

Auf den Grimmelshausen-Stoff wurde Hartmann von seinem Mentor, dem Dirigenten Hermann Scherchen gebracht. Über seine erste Begegnung mit dem Simplicius Simplicissimus berichtet Hartmann: "Ich machte mich mit dem Buch vertraut; die Zustandsschilderungen aus dem Dreißigjährigen Krieg schlugen mich seltsam in Bann. Wie gegenwärtig kam mir das vor: 'Die Zeiten sein so wunderlich, daß niemand wissen kann, ob du ohn Verlust deines Lebens wieder herauskommest...' Da war der einzelne hilflos der Verheerung und Verwilderung einer Epoche ausgeliefert, in der unser Volk schon einmal nahe daran gewesen ist, seinen seelischen Kern zu verlieren. Und nirgends war Rettung als nur in dem, was das Gemüt des einfachen Menschen dagegen aufbrachte." [30] Hartmann setzt also die politischen Geschehnisse während der Nazi-Zeit in Bezug mit den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges. Er benutzt den Dreißigjährigen Krieg als Parabel auf die Barbarei des Dritten Reiches.

Hartmann zieht von dem Grimmelshausen-Roman nur drei Episoden aus der Jugend des Protagonisten zur Vertonung heran. [31] Die Musik erscheint holzschnittartig expressionistisch und erinnert an Alban Bergs Wozzeck und den frühen Strawinsky. Das Werk gelangte konzertant 1948 bei Radio München zur Uraufführung, szenisch 1949 in Köln. Eine Umarbeitung zur heute gültigen Form kam 1957 in Mannheim heraus.

Ähnlich wie der Simplicius muß auch die Kantate "Friede Anno 48" als Parabel auf die Zeit um 1936 verstanden werden. Hartmann vertont in dem sechsteiligen Werk verschiedene Sonette von Andreas Gryphius [32], die den Krieg beklagen und den Frieden herbeisehnen. Das Werk erhielt 1937 durch die Emil-Hertzka-Stiftung in Wien eine Auszeichnung, blieb aber unveröffentlicht. Hartmann arbeitete es 1955 um und veröffentlichte es unter dem Titel "Lamento". [33] Er kürzte die Komposition und eliminierte die Chorpartie, wodurch das Werk gattungsmäßig eindeutig dem Klavierlied zuzuordnen ist. Die zumal sehr schwierige Chorpartie hat Aufführungen beträchtlich erschwert. Das ursprüngliche Werk erschien posthum 1968.



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ANMERKUNGEN


1. Eine Zusammenstellung befindet sich beim Verfasser.

2. Die Zusammenstellung beruht auf der Untersuchung der Werkverzeichnisse einschlägiger Komponisten der Zeit, der Durchsicht des Quellenverzeichnisses "Rép Internationale des Sources musicales", Serie A I, Einzeldrucke vor 1800 und des älteren Quellenverzeichnisses von Eitner 1900ff.

3. Moser 1954, S. 381.

4. Göhler 1902; Göhler 1901f.

5. Ein Exemplar besitzt die Staats- und Universitäts-Bibliothek Hamburg.

6. Moser 1922, S. 6.

7. SWV 465 für neun Stimmen in zwei Chören und Basso continuo. Das Werk ist handschriftlich erhalten. Wiederabdruck in Schütz 1971.

8. Schütz 1931, S. 85-87.

9. Breig 1985, hier S. 393-395.

10. Schütz 1931, S. 88.

11. Gregor-Dellin 1984, S. 141f.

12. Breig 1985, S. 395f.

13. Ein vollständiges Druckexemplar besitzt die British Library in London, ein Partitur-Neusatz wurde an der Universität Osnabrück erstellt.

14.Hanheide 1998.

15. Ein Exemplar besitzt die British Library in London.

16. "Ein Schöner Neuer Ritterlicher Auffzug vom Kampff und Streyt zwischen Concordia und Discordia", Rothenburg ob der Tauber 1620.

17. Vgl. zur Situation der Musik im Dreißigjährigen Krieg insgesamt Moser 1921

18. Vierter Teil der Arien, Nr. 8, Königsberg 1641, wiederveröffentlicht in den Denkmälern Deutscher Tonkunst, XII, S. 122.

19. Vierter Teil der Arien, Nr. 9, Königsberg 1641, wiederabgedruckt in den Denkmälern Deutscher Tonkunst, XII, S. 123f.

20. Kindermann 1913, S. XCI.

21. Wiederabdruck in Kindermann 1913, S. 123-147.

22. Kindermann 1913, S. LXX.

23. Ein Exemplar der vier Singstimmen besitzt die Bischöfliche Zentralbibliothek in Regensburg, ein Exemplar der Generalbaßstimme befindet sich in der British Library in London, ein Partitur-Neusatz wurde an der Universität Osnabrück erstellt.

24. Göhler 1902, S. 94.

25. Ein vollständiges Exemplar des historischen Druckes besitzt die Musikbibliothek Leipzig, ein Partitur-Neusatz wurde an der Universität Osnabrück erstellt.

26. Winterfeld 1843, S. 441f.

27. Gundermann 1879, S. 109-120.

28. Gundermann 1879, S. 113.

29. Zit. nach Bartel 1985, S. 235.

30. Hartmann 1965.

31. Zur Auswahl der einzelnen Grimmelshausen-Passagen vgl. McCredie 1982, S. 200.

32. Zur Textauswahl im einzelnen vgl. McCredie 1982, S. 165.

33. Vgl. dazu Hanheide 1995.



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