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DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa

Textbände > Bd. II: Kunst und Kultur

WOLFRAM STEUDE
Heinrich Schütz und der Dreißigjährige Krieg

I. Einleitung

Der erste deutsche Komponist von europäischer Bedeutung und herausragende Meister der deutschen Musik im 17. Jahrhundert Heinrich Schütz - er wurde am 8. Oktober 1585 in Köstritz bei Gera geboren und starb am 6. November 1672 in Dresden als kursächsischer Hofkapellmeister - gilt in der deutschen Musikgeschichtsschreibung seit weit über hundert Jahren als derjenige große schöpferische Musiker, an dessen Leben und Werk mit besonderer Deutlichkeit menschliches und künstlerisches Schicksal im Dreißigjährigen Krieg ablesbar ist. [1] Das hat seinen Grund: Schützens aktivste Zeit als Kapellmeister deckte sich nahezu mit den Jahren des Großen Krieges, der selbstverständlich - wie könnte es anders sein - in der von ihm furchtbar heimgesuchten mitteldeutschen Landschaft des "Sagittarius" Leben (Schütz hatte seinen Namen nach Humanistenbrauch latinisiert) nachhaltig gezeichnet hat.

Im Spätsommer 1615 trat Heinrich Schütz nach seinen Kasseler, Marburger und venezianischen Schul- und Studienjahren im Alter von 30 Jahren den Dresdner Hofdienst an, zuerst als Organist und "Director der Musica", bald mit dem regulären Kapellmeistertitel.

In dieses Amt ist er wahrscheinlich von seinem interimistischen Vorgänger Michael Praetorius, der als Wolfenbütteler Hofkapellmeister eine sogenannte "Hausbestallung" in Dresden hatte, eingearbeitet worden. Und 1656 erreichte er, nachdem sein höchst problematischer und ihm gleichaltriger Dienstherr, der Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen gestorben war, von dessen Sohn und Nachfolger Johann Georg II. die Versetzung in einen Quasi-Ruhestand, in dem ihm kompositorische Verpflichtungen für den Hof blieben, er aber von "Auffwartungen" als leitender Kapellmeister entbunden war, gleichwohl als "ältester Capellmeister" das Haupt der Kapelle bleibend bis zu seinem Tod.

Von den 41 Jahren des aktiven Kapellmeisterdienstes - insgesamt waren es 57 - lagen dreißig im Kriege. Während dieser Zeit schuf er eine Fülle von Kompositionen, denen das Frühwerk, die italienischen Madrigale, Venedig 1611, voranging und das Spätwerk, u.a. die Weihnachtshistorie 1664, die "Sieben Worte", die drei Passionen 1665/66 und der "Schwanengesang" (beendet 1671) folgte. (Über die zahlreichen, wahrscheinlich 1760 in Dresden verbrannten ungedruckten Werke kann nur wenig ausgesagt werden.)

Heinrich Schütz' Vita ist, von einzelnen noch wenig erhellten Abschnitten abgesehen, gut überschaubar, ja bis zu einem gewissen Grade auch gut durchschaubar. Vor allem in den Dresdner Hofakten sind relativ zahlreiche Äußerungen von und zu ihm erhalten geblieben, die sein Bild als Mensch und Kapellmeister wenigstens in bestimmten Zügen deutlich hervortreten lassen. Dieses Bild fasziniert immer wieder aufs neue - ähnlich wie seine Musik, sofern sie adäquat musiziert wird.

Im Folgenden sei nachgefragt, wie und in welchem Grade der Dreißigjährige Krieg in Schützens Leben und Schaffen Spuren hinterlassen hat. Freilich: "Leben" und "Schaffen" sind zwei verschiedene Größen. Es muß hier mitbedacht werden, was in allen Künstlerbiographien sonst auch zur Diskussion steht, nämlich das Verhältnis von künstlerischem Oeuvre und individueller Befindlichkeit seines Schöpfers, ein Problem, über das zuweilen nicht einmal reflektiert wird. Es sei versucht, einige wenige zeitgeschichtliche Vorgänge zu benennen, die sicher oder möglicherweise im Gesichtsfeld Schützens gelegen haben. Einerseits hatte er als der hochanerkannte Kapellmeister am wichtigsten evangelischen Kurfürstenhofe des Reichs sehr oft Berührung mit den "Großen" jener Politik, der der Krieg zu "verdanken" war, andererseits war er aber, wie die meisten der anderen Hofbediensteten auch, nicht eingeweiht in die Geheimnisse der kursächsischen Politik. Die Mehrzahl der umlaufenden Nachrichten dürften Gerüchte gewesen sein, es sei denn, einer der Hofsekretäre oder Hoftagebuchschreiber ließ im Gespräch eine zuverlässige Bemerkung fallen. Mitunter verwiesen auch Andeutungen der Hofprediger in ihren Predigten auf tatsächliche Zusammenhänge. Schütz stand mit den meisten seiner "Kollegen" am Hof in einer guten Beziehung, auch mit den Hofpredigern, dem Hausmarschall Pflugk, dem Geheimen Rat und Reichspfennigmeister vom Loß, dem Geheimsekretär Reichbrodt und anderen höheren Beamten. Sogar sein Verhältnis zum Kurfürsten selbst, unter dessen Indolenz er und die Kapelle zeitweise entsetzlich gelitten haben, scheint von Sympathie geprägt gewesen zu sein. Informierter war er deshalb nicht.



II. Heinrich Schütz im Dreißigjährigen Krieg

Als Schütz 1615 sein Dresdner Amt antrat, dürften weder er und die Hofkapellmitglieder noch der Kurfürst selbst und dessen hohe Beamtenschaft etwas von dem bevorstehenden langen Krieg geahnt haben, wiewohl politische Unruhe seit längerem die Gemüter bewegte. 1611 war mit der Entmachtung und 1612 mit dem Tode des Kaisers Rudolf II. der "Bruderzwist im Hause Habsburg" beendet worden. Die Kapellmusiker in Dresden könnten davon inoffiziell durch den Kammerorganisten Hans Leo Haßler in Kenntnis gesetzt worden sein. Haßler wirkte von 1608 bis 1612 in Dresden und war mit dem Kaiserhof in Prag durch finanzielle Transaktionen eng verbunden. Das lag vor der Ankunft Schütz'. Von den konfessionellen Spannungen in Böhmen aber, die Rudolf mit dem "Majestätsbrief" von 1609 zu entschärfen versucht hatte, wußte jeder im lutherischen Kursachsen, kamen doch schon jetzt etliche, in der Folgezeit jedoch in großen Scharen die Exulanten aus dem Nachbarlande über die Grenze.

Knapp zwei Jahre nach seinem Amtsantritt hatte Schütz im Sommer 1617, wahrscheinlich zusammen mit Praetorius, einen Staatsakt ersten Ranges musikalisch auszugestalten, den Besuch des Kaisers Matthias in Dresden, der mit großem Gefolge kam: der Kaiserin, dem Neffen Ferdinand, um dessen künftige Wahl zum Kaiser es vor allem dabei ging, dem Erzherzog Maximilian, dem Kardinal Klesl, Hanns Ulrich von Eggenberg, Adam von Waldstein und vielen anderen. [2] Schütz' Empfangs-Carmen und sein Begrüßungsspiel von "Apollo und den Neun Musen" [3] müssen neben der durch Praetorius besorgten großen mehrchörigen Kirchenmusik [4] einen starken Eindruck auf die Gäste gemacht haben. Er stand mit einem Schlage auf der Höhe seines Ruhms, den er durch große Festmusiken zur ersten Säkularfeier der Reformation im Oktober 1617 weiter ausbauen konnte. Am Vorabend des Krieges war für ihn die Welt noch heil, optimale Wirkungsmöglichkeiten als Komponist und Kapellmeister boten sich ihm am reichen Dresdner Hofe. Dennoch konnte auch ihm die lebhafte Besuchstätigkeit am Hof 1617 und 1618 nicht entgangen sein. Den Hofjournalen ist zu entnehmen, daß sich kaiserliche, pfälzische, königliche und ständische böhmische, schlesische, brandenburgische, schwedische Fürsten oder deren Gesandten vor und nach dem Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618 in Dresden die Klinke in die Hand gaben. [5] Etliche von ihnen hat Schütz bei der "Musicalischen Auffwarttung bey der Taffel" gewiß zu Gesicht bekommen. Auch Johann Georg I. mußte sich, derart diplomatisch umworben, auf der Höhe seiner Macht sehen.

Daß er der ihm zugedachten Rolle in der Reichspolitik durch die auch im hofinternen Bereich zu beobachtende Trägheit und Entschlußlosigkeit nicht gerecht wurde, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Das Hofjournal vermerkt am 19. November 1618:

"Seindt S. Churfl. Gnaden Streiffen geritten und haben S. Churfl. gnade einen Cometstern mit einem langen schwantz fast 5 ellen lang über sich gehendt zum 1. mal gesehen." [6] Den hatten auch alle anderen gesehen und mochten sich und die Astrologen nach der Bedeutung gefragt haben. War es die folgende? Am 10. März 1619 "Ist die Röm: Kay: Mait: Herr Matthias früe vmb 7 uhr zu Wien durch den zeitlichen todt von dieser welt nach Gottes willen abgefordert, vndt großer mühe vndt arbeit benommen worden." [7] (Die offizielle Mitteilung vom Tode des Kaisers traf erst nach neun Tagen in Dresden ein als Nachricht des kursächsischen Faktors Friedrich Lebzelter in Wien, mit dem auch Schütz noch öfter brieflich in Verbindung stand. Und Johann Georg war Reichsvikar! [8]) Für Schütz war Privates weit wichtiger: Am 1. Juni 1619 heiratete er Magdalena Wildeck. [9] Mit dem Datum seines Hochzeitstages versah er die Dedikationsvorrede an den Kurfürsten seines ersten großen Druckwerks mit deutschsprachiger geistlicher Musik, der "Psalmen Davids", die Schützens Umsetzung von ihn lebenslang prägender venezianischer Musikerfahrung in deutsche Musikpraxis markieren und seinen Ruhm vor allem in der Fachwelt begründeten. [10]

Am 13. Juni 1619 "hatt Graff Schlick audientz gehabt". Bei dieser Audienz bot Graf Joachim Andreas Schlick dem Kurfürsten im Namen der böhmischen Stände die Wenzelskrone an, die seit 1617 der Habsburger Ferdinand bei steigendem Unwillen der Stände trug. Wie Johann Georg später mit diesem böhmischen evangelischen Grafen verfuhr, der im Juni 1621 mit auf dem Altstädter Ring in Prag hingerichtet wurde, ist bekannt. [11] Diese wenigen Hinweise mögen andeuten, was ein Mann wie Heinrich Schütz am Dresdner Hof durch Augenschein und Hörensagen hat registrieren können vom sich anbahnenden und vollziehenden großen Weltgeschehen.

Ein Vorspiel zur Schlacht am Weißen Berge am 8. November 1620 war die kriegerische Expedition Johann Georgs in die Oberlausitz seit Ende August/Anfang September dieses Jahres, bei der Bautzen und Löbau, versehen mit einer Besatzung Friedrichs von der Pfalz, belagert, in Brand geschossen und eingenommen wurden. Nach der Rückkehr des Kurfürsten am 3. Dezember 1620 feierte man in der Dresdner Schloßkirche einen Dankgottesdienst "und weil dieselben nach wol verrichter sache glücklichen angelanget, wart das Te Deum laudamus gesungen und große stücke [abgefeuert]". [12] Die Predigt des auch politisch äußerst einflußreichen Oberhofpredigers D. Matthias Hoë von Hoënegg, eines Wieners, wird alle Hörer hinreichend über das Geschehene, den Lausitzfeldzug, die Schlacht am Weißen Berge sowie Niederlage und Flucht Friedrichs von der Pfalz aus seiner Sicht aufgeklärt haben. Schütz muß sie gehört haben. Alle, auch er, standen damals auf der Siegerseite. Das konnte er im folgenden Jahr in noch höherem Maße erleben, als er und die Hofkapelle die Reise des Kurfürsten nach Schlesien zwischen dem 5. Oktober und dem 21. November 1621 mitmachten, der in Breslau und Jauer als Vertreter des Kaisers die Huldigung der schlesischen Stände und Städte entgegennahm, die zuvor dem "Winterkönig" den Treueid geleistet hatten. Bei dieser Gelegenheit erklangen Schütz' "politische" Festmusiken "Syncharma musicum" mit dem Textbeginn "En novus Elysiis succedit sedibus hospes" (SWV 49) und "Teutoniam dudum belli atra pericla molestant" (SWV 338). Daß dieses "glückliche" Ende des Böhmischen Krieges, das in Breslau mit wechselseitigen, musik-erfordernden Fürsteneinladungen kräftig gefeiert wurde [13], nicht das Ende des Krieges überhaupt bedeutete, mußten alle Beteiligten danach bitter erfahren. Vorerst hatte Johann Georg für Schlesien eine dankbar aufgenommene Atempause "in statu confessionis" erwirkt.

Schütz wohnte zusammen mit seiner jungen Ehefrau höchstwahrscheinlich in der Frauengasse in einem Hause, das deren Verwandten gehörte, ehe er 1627 mit Hilfe der Kurfürstinwitwe Hedwig daneben ein eigenes Haus erwerben konnte. [14] Die Häuser um den Dresdner Neumarkt mit der alten Frauenkirche waren stattlich und bezeichneten eine "gehobene" Wohngegend. Hier hatte nach 1627 Graf Wilhelm Kinsky ein Wohnhaus gekauft. [15] Obwohl evangelischer "Aufrührer", konnte er sich nach dem Zusammenbruch der Anti-Habsburg-Rebellion der Hinrichtung in Prag entziehen, lebte in Dresden im Exil, den Hof mit Papier aus seiner Dittersbacher Papiermühle versorgend [16], und trieb hier fleißig Hintergrundspolitik, bis er als Parteigänger Albrecht von Wallensteins zusammen mit diesem am 25. Februar 1634 in Eger ermordet wurde. [17] Schütz wird ihm in der Stadt und bei Hof öfters begegnet sein. Vorerst machte sich der Krieg auf eine indirekte, aber schmerzhafte Weise bei der Hofdienerschaft bemerkbar. "Gutes" Geld wurde knapp, "schlechte" Münze kam in Umlauf, die Kaufkraft sank rapide. Am 14. Juli 1621 ermahnte der Kurfürst durch einen Befehl alle Hofangestellten, die ihre Quartalsbesoldung "noch nicht angenommen haben", auf bessere Münze hoffend, daß sie "ire besoldung an itziger müntze empfahen vnd inen selbst zum Schaden nicht lenger in der Cammer liegen laßen solten." [18] Die "Kipper- und Wipperzeit" war angebrochen und sollte sich in den folgenden Jahren verheerend auswirken, noch ehe der Krieg direkt in das Leben der Einwohner Kursachsens eingriff. Bereits 1624 setzten die ersten Gesuche von Hofangestellten um Auszahlung der seit anderthalb Jahren fälligen Besoldung ein. "Es ist aber menniglichen, mehr dann vnns lieb, kunnd vnnd offenbar, in was vberauß geschwinden, vnndt vnerhort teuren leufften wir arme diener [...] vnns befunden vnnd gelebt [...]", jetzt sei alles auf das Zwei-, Drei- und Vierfache gestiegen. [19] Noch litten vorerst nur die Hofangestellten selbst. Vieles, was mit Repräsentation nach außen zusammenhing, wurde ermöglicht: Samuel Scheidt erhielt für das eingeschickte Exemplar seiner "Tabulatura nova", Hamburg 1624, und andere Werke, entgegen Schützens noch weitergehendem Vorschlag [20], aus der Kammer 28 1/8 Reichstaler. [21] Noch erwarb der Kurfürst 1626 eine von zwei angebotenen italienischen Violinen für 20 Taler und 20 Groschen - ein hoher Betrag! - für die Kapelle, Instrumente, die, "als ich von dem Capellmeister verständiget bin, sehr gut und dergleichen itzo hierzulandt garnicht sein sollen", wie Kammerrat von Osterhausen an Johann Georg schrieb. [22]

1625 erschien im sächsischen Freiberg eine größere Sammlung lateinischer geistlicher Madrigale von Heinrich Schütz auf Texte, die den Psalmen und vor allem mittelalterlicher Gebetsliteratur entnommen sind: die "Cantiones sacrae", die der Komponist dem inzwischen zum Fürsten aufgestiegenen Hanns Ulrich von Eggenberg gewidmet hat, dem engen Vertrauten des Kaisers Ferdinand. [23] Dieses Werk mit hochpolitischem Hintergrund, wie neuestens herausgearbeitet wurde, hat der Forschung seit langem Rätsel aufgegeben. Daß der Kapellmeister des wichtigsten der evangelischen Kurfürstenhöfe dem mächtigen Minister des katholischen Kaisers ein solches Opus dedizierte, mußte Hintergründe haben, denen Jürgen Heidrich nachgegangen ist. [24] Heidrichs Zweifel, ob Eggenberg 1617 zusammen mit Kaiser Matthias nach Dresden gekommen war, scheint eine Passage der lateinischen Dedikation zu zerstreuen, wo es sinngemäß heißt, daß bei der Zusammenkunft der beiden Habsburger, Kaiser Matthias und Erzherzog Ferdinand, mit dem Kurfürsten von Sachsen, in zurückliegender Zeit, der "Chorus musicus" am sächsischen Hof "durch mich Unwürdigen geleitet" wurde und "die glorreichen Fürsten und Euer Gnaden sich durch unsere Harmonien gnädigst erfreuen ließen." [25] Sicher richtig ist der Gedanke Heidrichs, daß die Schütz-Kompositionen mehr den musikalischen Kaiser und weniger Eggenberg selbst zum eigentlichen Adressaten hatten. [26]

Das bestätigt ebenfalls die Vorrede: "[...] Aus welchen Gründen ich Euer Gnaden dieses musikalische Werk verehre und übergebe, mit schuldiger Untertänigkeit bittend, daß, wie ich dessen versichert bin, gegenwärtige Musik-Ausarbeitung bald der geheiligten Kaiserlichen Majestät, bald auch Ihnen selbst nicht mißfallen möge." [27] Fraglich bleibt freilich, ob solche indirekte Dedikation an den Kaiser auch nur die geringste Aussicht hatte, an dessen scharfem gegenreformatorischen Vorgehen in Böhmen auch gegen die durch den Majestätsbrief geschützten Lutheraner etwas zu ändern. [28] Mit seinen hochexpressiven "Cantiones sacrae" näherte sich Schütz zentralen Figuren des der Idee nach noch immer lebendigen Reichs. Das Dilemma der schwankenden sächsischen Politik, die an der "Zwei-Reiche-Lehre" Luthers orientiert war, hatte auch hier seine Ursache: Reichs- bzw. Kaisertreue war mit Bekenntnistreue kaum noch zu vereinen.

Wenn es schon am Gelde immer mehr mangelte, mußten dennoch repräsentative Hoffeste gefeiert werden, das verlangte die Staatsraison. In mehreren Monaten des Jahres 1626 spielte eine englische Komödiantentruppe unter John Green am Dresdner Hofe und bot ein immenses Repertoire von Stücken, deren Thematik wir z.T. aus der Shakespeareschen Dramatik kennen, darunter Hamlet, Julius Caesar, Romeo und Julia und Lear. Die "Comoedianten" spielten auch während der Hochzeit von Johann Georgs I. ältester Tochter Sophie Eleonore mit dem Landgrafen Georg II. von Hessen-Darmstadt, die im April 1627 auf Schloß Hartenfels in Torgau stattfand. [29] Danach wurden diese "Engelländer" bezahlt und abgefertigt - es waren Fremde! Im Mai 1627, nach der Hochzeit, machte Schütz seinen ersten Versuch, eine Reiseerlaubnis nach Italien zu bekommen, die am 30. Mai verweigert wurde. [30] Dabei konnte er auf beträchtliche Dienstleistungen am Hofe verweisen: die Gesamtregie über die Torgauer Hochzeitsmusik, zu der auch seine eigene Musik zu Martin Opitz" "Dafne" gehörte, die bisher fälschlich als "erste deutsche Oper" apostrophiert worden ist. [31]

Und der Kurfürstenkollegtag in Mühlhausen stand im Herbst bevor, für dessen Eröffnung am 8. Oktober Schütz eine weitere "politische Musik" komponiert hatte, das doppelchörige Konzert "Da pacem, Domine" (SWV 465). Darin trägt der erste Chor den fünfstimmig auskomponierten Antiphon-Text als Gebet vor, unterbrochen von einem vierstimmigen zweiten Chor, der mit Vivat-Rufen auf Kaiser und Kurfürsten diese als Fundamente und Schützer des Friedens feiert: "Vivat Moguntius, vivat Coloniensis, vivat Trevirensis, vivant tria fundamina pacis. Vivat Ferdinandus Caesar invictissimus. Vivat Saxo, vivat Brandenburgicus, vivat Bavarus, vivant tutamina pacis".

Dieser mit der Antiphon kombinierte Text, eine beeindruckende Zusammenstellung, ist höchstwahrscheinlich unter der Mitwirkung Hoë von Hoëneggs entstanden, handelte es sich doch um eine Staatsmusik erster Ordnung. Daß damit zugleich, vor dem Hintergrund der habsburgischen Politik, eine captatio benevolentiae beim Kaiser versucht wurde, deutlicher als bei den "Cantiones sacrae", liegt auf der Hand. Vermutlich erklang Schützens Werk nicht in einem der Gottesdienste, an denen die Katholiken ohnehin nicht teilnahmen, sondern zu Beginn der ersten Sitzung im Mühlhäuser Rathaus am 8. Oktober 1627, der weitere 26 Sessionen folgten. Allein, weder der Kaiser noch die Kurfürsten von Köln oder Trier waren in Person anwesend, sondern ließen sich durch Gesandte vertreten. [32]

Es mutet seltsam an, daß einerseits der Krieg 1626 in bedenkliche Nähe Kursachsens gekommen war - am 15. April schlug Wallenstein den Grafen Ernst von Mansfeld an der Dessauer Brücke -, andererseits am Dresdner Hofe geradezu hektisch gefeiert wurde, als ob es keine brennenden Probleme gäbe. Und auch Schütz konnte, abgesehen von der Geldmisere, die ihm als gutsituiertem Mann noch nicht bedrohlich wurde, komponieren, musizieren und sogar Werke drucken lassen: Schon 1623 war seine "Auferstehungshistorie" (SWV 50) herausgekommen, 1628 publizierte er bei Beuther in Freiberg "Psalmen Davids, Hiebevorn in Teutzsche Reimen gebracht durch D. Cornelium Beckern" (SWV 97a-256 a), eine Sammlung von Kantionalsätzen auf die Beckerschen Psalmbereimungen. Er schrieb sie sich selbst zum Trost nach dem 1625 erfolgten Tod seiner Frau. Schütz' zweiter, diesmal erfolgreicher Vorstoß beim Kurfürsten wegen einer Reiseerlaubnis nach Italien hatte zwei Motive. Zum einen war es ein rein künstlerisches. Er wollte die italienische "neue" Musik an Ort und Stelle kennenlernen. Zum andern aber verschlechterten sich die Lebensverhältnisse seiner Hofkapellmitglieder rapide. Er selbst konnte noch ertragen, daß ihm die "Kammer" für fünf Quartale 781 Gulden, 5 Groschen, 3 Pfennige bis Crucis 1629 schuldete, für andere jedoch bedeutete solcher Ausfall das Ende der Existenzmöglichkeit. [33]

In Italien machte Schütz sich in Florenz, Venedig, wahrscheinlich Cremona und anderen oberitalienischen Städten kundig, was sich auf den Gebieten der Oper bzw. Monodie, des solistischen vokalen und instrumentalen Konzertierens, der reinen Instrumentalmusik und des Instrumentenbaus seit seiner Abreise aus Venedig 1613 entwickelt hatte. Die unmittelbare Frucht dieser Eindrücke war seine 1629 in Venedig im Druck erschienene Sammlung von lateinischen geistlichen Konzerten "Symphoniae sacrae". [34] Und er kaufte Instrumente ein für seine Hofkapelle, die zunehmend in ihrer Existenz bedroht war - eine absurde Situation! Was erwartete ihn, als er 1629 heimkehrte! Eine Ahnung der herrschenden "Großwetterlage" mußte er bekommen, als er auf der Rückreise Station bei Philipp Hainhofer in Augsburg machte. Dieser Patrizier, der durch seine "Augsburger Kunstschränke" an vielen Höfen im Reich bekannt und geschätzt wurde, hatte bereits im Auftrag der Augsburger Bürgerschaft versucht, den sächsischen Kurfürsten als den Schirmherrn der Lutheraner zu einer Intervention beim Kaiser zu bewegen. Grund war die sich radikalisierende Gegenreformation in Augsburg. Hainhofer kam aus Dresden und dürfte Schütz und seine beiden Begleiter über die Augsburger Ereignisse wie auch die Audienzen bei Johann Georg informiert haben. [35] Welche Musik Schütz zum "Holsteinischen Beylager" der sächsischen Prinzessin Maria Elisabeth mit dem Herzog Friedrich von Holstein-Gottorp 1630 aufgeführt hat, ist nicht bekannt. Hier aber ergaben sich für ihn erste Kontakte zum dänischen Hof, die für ihn bedeutsam werden sollten. Das Jahr 1631 brachte für Heinrich Schütz zwei wichtige Aufgaben, die das vorläufige Ende einer Lebens- und Schaffensperiode bedeuteten, die 1615 bzw. 1617 so glanzvoll begonnen hatte. Es war das Jahr nach der Landung des Königs Gustav Adolf von Schweden in Pommern, aber auch das des Todes seines engen Freundes, des Leipziger Thomaskantors Johann Hermann Schein, dem er ein ergreifendes musikalisches Denkmal setzte. [36] Am 10. Februar wurde der "Leipziger Konvent" evangelischer Fürsten und Städte, der mit Wissen des Kaisers stattfand, aber gegen dessen Konfessionspolitik gerichtet war, mit einem Gottesdienst in der Thomaskirche eröffnet, in dem Schütz mit der Hofkapelle musizierte. [37] Was erklang, verraten die Hofakten nicht, aber daß im Vorfeld am 8. Februar ein uneingeladener kaiserlicher Kommissar in Leipzig ertappt und streng verhört wurde [38], das dürfte die Runde gemacht und für Aufregung gesorgt haben. Auf diesem Konvent kam es zum "Leipziger Schluß" mit der Absage an das Restitutionsedikt und damit zum (vorläufigen) Bruch mit dem Kaiser. Im Juni desselben Jahres 1631 wurde in Dresden ein Landtag einberufen, auf dem u.a. die Stände von der sächsischen Kehrtwendung erfuhren.

Einer der von Hoë von Hoënegg ausgesuchten Gebetstexte für den Eröffnungsgottesdienst war der 85. Psalm. Über diesen Text "Herr, der du bist vormals gnädig gewest" gibt es ein großangelegtes Psalmkonzert von Heinrich Schütz (SWV 461), dessen einzige (handschriftliche) Quelle in Kassel liegt. Am Leipziger Konvent hatte auch Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel, der Sohn und Nachfolger von Schützens einstigem Förderer Moritz von Hessen, teilgenommen, mit dem Schütz in wahrscheinlich hier erneuerter freundlicher Verbindung stand. Der 85. Psalm dürfte zu denjenigen eigenen Werken gehören, die Schütz auf die Bitte Wilhelms hin nach Kassel gesandt hat. In diesem Konzert finden sich die Textstellen "Tröste uns, Gott, unser Heiland [...]", "Ach, daß ich hören sollte, daß Gott, der Herr, redete, daß er Friede zusagte seinem Volk [...]" und "Doch ist ja" - es steht bei Schütz als "ja, ja, ja, ja, ja, ja" - "seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, daß in unserm Lande Ehre wohne, daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen" mit großer Eindringlichkeit vertont.

Sehr wahrscheinlich gehörte dieses große Konzert zu jenem Landtag [39] des Schicksalsjahres 1631, in dem Magdeburg durch Tilly zerstört und Leipzig durch die Kaiserlichen belagert wurde, die dann aber bei Breitenfeld eine Niederlage durch Gustav Adolf erlitten. Der Krieg war mit seiner ganzen Härte angekommen, was für Schütz, die Hofkapelle und mehr oder weniger den ganzen Hofstaat das Ende einer einigermaßen normalen Lebens- und Betätigungsmöglichkeit bedeutete.

Nach dem Tode seiner Frau blieb Schütz zeitlebens Witwer und hatte selbst für seine beiden Töchter zu sorgen. In den dreißiger Jahren trafen ihn zu aller äußerer Not schwere Schicksalsschläge. In dem "Lebenslauff", der der Leichenpredigt durch den Oberhofprediger Martin Geier 1672 angefügt ist, heißt es: "Der liebe GOTT aber hat ihm dieses sein Glücke und hohe Ehre allezeit bey seiner Zurückkunfft [aus Italien] mit Traurigkeit versaltzen, in dem ihm Anno 1632 sein Bruder M. Valerius Schütz, Anno 1635 seine liebste Frau Mutter, Anno 1636 seine Frau Schwiegermutter, Anno 1637 sein Herr Bruder D. George Schütze und Anno 1638 seine liebe Tochter Jungfer Anna Justina in Dreßden verstorben, und er dadurch in ein langwieriges Trauern und Betrübniß gesetzet worden ist." [40] Dieses Jahrzehnt vor allem machte Schütz in den Augen derer, die mit ihm zu tun hatten, zu einem Monument der Menschlichkeit im Blick auf die ihm anvertrauten Musiker und der Leidensfähigkeit und Durchhaltekraft im Blick auf ihn selbst. Seiner schon jetzt vor allem in den evangelischen Teilen des Reichs und in Skandinavien voll anerkannten musikalischen Autorität und Leitbildfunktion entsprach in hohem Maße seine menschliche Integrität. Beides fesselt an ihm noch heute!

Einige Passagen aus den zahlreich erhalten gebliebenen Schriftstücken Schütz' können seine eigene Lage, die der Musiker und seine Stellung dazu verdeutlichen: Als sich abzeichnete, daß die sächsische Prinzessin Magdalena Sibylle den Kronprinzen Christian von Dänemark heiraten würde, erreichte Schütz mit Hilfe des rührigen Faktors Friedrich Lebzelter, daß er von König Christian IV. und dem Bräutigam, der Schütz kennen- und schätzen gelernt hatte, eingeladen wurde, das große Fest musikalisch zu gestalten. Was die eigentliche Motivation seines Reisegesuchs war, bekannte er ganz offen in seinem "Memorial" vom 9. Februar 1633, einem der vielen Merkblätter mit den Anliegen Schützens für den Vortrag etwa durch den Geheimen Sekretär, den Hof- oder den Hausmarschall: "Das absehen dieser meiner Reise were nochmals einig dahin gerichtet, den Itzigen Kriegs vndt andern in vnserm lieben Vatterlande schwebenden, vndt mich auch mit betreffenden beschwerungen vndt hindernüssen in meinem Studio eine zeitlang zu entweichen, vndt dero örter in Niedersachsen, wo möglich, ohne perturbirung meines gemüths meine Profession mit allem fleis fortzustellen." Danach kommt er auf die bevorstehende Hochzeit und die Abforderung durch den Kronprinzen zu sprechen. In der Einleitung seines Memorials sagt er: "Das bey itzigen schwebenden Kriegsleufften, wegen der aufwartung Ich gar wol abkommen könte, weil die anstellung einer weitleufftigen Music, dero Zeit beschaffenheit nicht groß erfordern thete, auch ohne dieses die gesellschafft der Instrumentisten vndt Sänger an Itzo zimlichen schwach vndt geringert worden [...]". [41]

In seinem diesbezüglichen Schreiben an Lebzelter vom 6. Februar 1633 heißt es u.a. "[...] Wann aber der continuirende harte zustandt bey vns [...] vndt die Fortstellung des schweren Kriegswesens hinfuro noch so balde nicht mindern möchte, bey gefaster Resolution zu verbleiben mich stark antreibet, ja nohtdränget [...] weil in der Warheit ich doch anitzo weniger als nichts alhier nütze binn [...]". [42] Die Reise zur glanzvollen Kronprinzenhochzeit 1634, seine Anstellung als dänischer Hofkapellmeister erfolgte noch, dann aber lief seine Zeit ab. Als er 1635 heimkehrte, war sein Landesherr im engeren Sinn, Heinrich Posthumus Reuß, mit dem er über Jahre freundlichen Kontakt gehabt hatte, in Gera gestorben. Auf Bitte der Witwe schrieb Schütz die großartige, ergreifende Trauermusik "Musicalische Exequien", die er mit Geraer Kräften zur Beisetzung musizierte. Sie erschien 1636 in Dresden im Druck, wohl mitfinanziert durch den Reuß-Hof. Sein an den Verstorbenen gerichtetes Begleitgedicht beginnt mit diesen Worten:

Der Krieg mußte als Verhängnis, als Schicksal hingenommen und bewältigt werden, welche andere Wahl blieb sonst? Schütz kannte etliche der Großen und Mächtigen in diesem Spiel, ihnen aber die Katastrophen persönlich anzulasten, das kam ihm ebensowenig in den Sinn wie ungezählten anderen davon Betroffenen. Was sich nun aber mit zunehmender Deutlichkeit herauskristallisierte, war sein sich dagegen artikulierender Kunst-Wille. Seine eigene "Profession", seinen Auftrag, Kunst zu schaffen, galt es, unter welchen äußeren Umständen auch immer, zu verwirklichen.

Und wenn großbesetzte und großformatige Werke unter den herrschenden Verhältnissen weder zu musizieren noch gar zu drucken waren, dann kam er seiner Berufung mit kleinformatigen und kleinbesetzten Konzerten nach. In der Dedikationsvorrede des Ersten Teils der "Kleinen geistlichen Konzerte", Leipzig 1636, die an den Appellationsgerichts-Präsidenten Heinrich von Friesen auf Rötha gerichtet ist, schreibt Schütz: "Welcher gestalt vnter den andern freyen Künsten / auch die löbliche Music / von den noch anhaltenden gefährlichen Kriegs-Läufften in vnserm lieben Vater-Lande / Teutscher Nation / nicht allein in grosses Abnehmen gerathen / sondern an manchem Ort gantz niedergeleget worden / stehet neben andern allgemeinen Ruinen vnd eingerissenen Vnordnungen / so der vnselige Krieg mit sich zu bringen pfleget / vor männigliches augen [...]." [44]

Von den dänischen Hochzeitsmusiken Schützens - es müssen mehrere große lateinische geistliche Konzerte [45] und vielleicht Musik zu einem Ballett gewesen sein - ist außer der kleinen Kanzonette "O, der großen Wundertaten" (SWV 278) in gleicher Weise keine Note erhalten geblieben, wie von seinem großen Sing-Ballett "Orpheus und Euridice" auf einen Text von August Buchner, das zur Hochzeit des Kurprinzen Johann Georg II. 1638 unter katastrophalen Finanz- und Musikerverhältnissen aufgeführt worden ist. [46] Nachdem ihm 1637 eine zweite Reise nach Dänemark abgelehnt worden war, holte Schütz diese 1642-1644 nach, abermals den Dresdner Verhältnissen entfliehend. Die hier entstandenen deutschen geistlichen Konzerte des zweiten Teils der "Symphoniae sacrae" kamen 1647 im Druck heraus, der gewaltige dritte Teil, mit dem Schütz seine aktive Kapellmeisterzeit krönend beenden wollte, drei Jahre danach. Und mit seiner Motettensammlung "Geistliche Chormusik" schuf er eine geniale Synthese von polyphoner Motette "in stylo antico", deutschsprachigem Renaissance-Madrigal und konzertierender Satzweise. [47]



III. Heinrich Schütz und der Dreißigjährige Krieg

Hatten sich die Dresdner Verhältnisse in den vierziger Jahren soweit erholt, daß Schütz nun wieder "aus dem vollen" schöpfen konnte? Die benannten großen Werksammlungen allein legen diesen Gedanken nahe, abgesehen von vielen uns nicht bekannten weiteren Arbeiten. Nein - zahlreiche Notschreie der Musiker, Schützens Eintreten für sie und seine eigenen geduldigen Versuche, die Hofmusik wieder aufzubauen, besagen das genaue Gegenteil. [48] Die Misere hielt bis in die Mitte der fünfziger Jahre an - nun allerdings verschuldet durch den alternden Kurfürsten. Was aber war dann der Motor von Schützens neu auflebender Kreativität? Die Antwort liegt in des Sagittarius' Selbstverständnis, in dem, was er, wie erwähnt, seine "Profession" nannte. Sie allein war ihm wesentlich, er gehorchte der inneren Verpflichtung, "das Werk" vor Gott und den Menschen zu schaffen, "mit dem ihm anvertrauten Pfund zu wuchern." Die wenigen bisher erwähnten zeitgeschichtlichen und biographischen Daten weisen, lückenhaft wie sie sind, auf Äußeres, auf Schütz als einen in der politischen Öffentlichkeit wirkenden Künstler. Aber "Schütz und der Dreißigjährige Krieg" spricht das Verhältnis von äußerer Biographie zu seinem in einer tiefen christlichen Religiosität wurzelnden Kunstbewußtsein an. Er war ein "alter Meister", dessen Kunst einen klaren theologisch-kosmologischen Bezug hat, und zugleich ein Künstler der Neuzeit, dem seine Kunst zur Entfaltung zu bringen Lebensaufgabe bedeutete. Schütz' Geistesverwandtschaft mit seinem großen Zeitgenossen Rembrandt ist evident. [49] Günter Grass läßt in seiner Erzählung "Das Treffen in Telgte", die von dem fiktiven Dichtertreffen zwischen Münster und Osnabrück im Jahre 1647 handelt, Schütz unter den Poeten auftreten. "[...] doch das wußten alle: So unangefochten Schütz seinen Gott begriff und so ergeben er sich [...] seinem Fürsten bewiesen hatte, war er dennoch einzig dem eigenen Anspruch untertan geblieben." "Da keiner wie er aufs Wort setzte und seine Musik einzig dem Wort zu dienen hatte, es deuten, beleben, seine Gesten betonen und in jede Tiefe, Weite und Höhe versenken dehnen erhöhen wollte, war Schütz streng mit den Wörtern [...]."

"Dem Angebot der zeitgenössischen Dichter hatte er sich in seinem Hauptwerk, der geistlichen Musik [...] bisher versagt; die deutschen Poeten hatten ihm bisher nichts zu sagen gehabt [...]". [50]

Seiner "Profession" entsprach nicht, notvolle Zeitgeschichte im Werk zu reflektieren, so sehr ihm das etwa mit der Vertonung jener erschütternden Gryphius-Texte möglich gewesen wäre, die für uns heute ungemein sprechende Dokumente humaner Befindlichkeit im Grauen des Krieges sind. Man denke an die "Tränen des Vaterlandes, Anno 1636". [51] Schütz selbst hat sich ja im gleichen poetischen Tonfall in seinem "Exequien"-Gedicht von 1636 geäußert. Gewiß: Die erwähnten Werke mit der Bitte um Frieden (1627, 1631) und weitere, etwa "Verleih uns Frieden genädiglich" der Geistlichen Chormusik (SWV 372), reagieren mehr oder minder mit zeitlosen, überkommenen Texten auf die Gegenwart, ebenso die beiden Sammlungen der "Kleinen geistlichen Konzerte" (1636 und 1639) mit ihren geringbesetzten Stücken. Aber wie Günter Grass die deutschen Barockpoeten inmitten der Kriegsgreuel über Poetik, d.h. über Kunst streiten läßt, in dem Maße waren für Schütz, das verkörperte künstlerische Gewissen in Telgte, Kunst und Leben zweierlei. Er führte sein mühsames Leben im Krieg, und es wuchs sein musikalisches Werk in einander kaum tangierenden Bereichen.

In Kunst und Leben aber war er gleichermaßen das, was die Grabschrift von 1672 ausdrückt und wofür er auch bei seinen Zeitgenossen galt: ein "Lumen Germaniae".



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ANMERKUNGEN


1. Zur Schützliteratur bis 1980 vgl. Rifkin 1980; Gregor-Dellin 1984; Heinemann 1993 und 1994; Breig 1979ff.; Steude 1980 und 1995.

2. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStA), Hofjournale, Calender Churfürst Johann Georgens des Ersten, die Jahre 1611 bis 1620, Einträge zwischen 24.7. und 25.8. 1617; Möller 1987.

3. Textabdruck in Schütz 1976, Nr. 3 und 4.

4. Praetorius 1978, S. 199ff.

5. SHStA, Hofjournale (Anm. 2).

6. SHStA, Hofjournale (Anm. 2).

7. SHStA, Hofjournale (Anm. 2).

8. SHStA, Hofjournale (Anm. 2).

9. Mit Reskript vom 31. Mai 1619 verehrte der Kurfürst Schütz als Hochzeitsgeschenk einen Silberbecher im Wert von 37 Gulden, 17 Groschen. Vgl. SHStA, Cammersachen 1619, Loc. 7326, Bl. 160.

10. SWV 22-47.

11. Mann 1974, S. 211.

12. SHStA, Hofjournale (Anm. 2), Eintragungen zwischen 25. August und 3. Dezember 1620.

13. Ebd., Eintragungen zwischen 15. Januar und 19. Februar (mit dem "Schlesischen Accord") und 5. Oktober bis 27. November 1621 (Huldigungsreise).

14. Steude 1997.

15. Stadtarchiv Dresden, Historisches Häuserbuch der Stadt Dresden, III, 1. Halbbd., S. 20 (Sign.: A 235).

16. Rifkin 1987; Rifkin 1991, S. 187, Anm. 16.

17. Mann 1974, S. 1119ff.

18. SHStA, Cammersachen 1623 Loc. 7327, Bl. 186a.

19. Ebd., 1624, Loc. 7327, Bl. 244a-245b, Bittschrift vom 23.11. 1624.

20. Vgl. Schütz 1976, Nr. 14.

21. SHStA, Cammersachen 1625, Loc. 7328, ungez. Bl. nach Bl. 4.

22. Ebd., 1626, Loc. 7328, Bl. 377a, 378a-b.

23. SWV 53-93; möglicherweise hängt die Dedikation an Eggenberg mit dessen ebenfalls 1625 erfolgter Erhebung zum Herzog von Krumau zusammen.

24. Heidrich 1996.

25. Abdruck der Dedikationstexte in Schütz 1976, Nr. 15 und 16.

26. Heidrich 1996, S. 62, Anm. 48.

27. "Quibus de causis Celsituti Tuae [...]"; "Sibi" Druckfehler für "Tibi"?

28. Heidrich 1996, S. 62.

29. SHStA, Erstes und Zweites Buch Heyraths Acten 1625-1627, Loc. 8671; Calender 1626 "Der jungen Herrn", Eintragungen zwischen dem 31. Mai und 4. Dezember 1626; während der Torgauer Hochzeitswochen spielten sie vom 5. bis 9. April und am 24., 28., 30. April und 6. Mai 1627.

30. SHStA, Cammersachen 1627, Loc. 7329: Wortlaut des abschlägigen Bescheids vom 30. Mai 1627.

31. Steude 1991.

32. SHStA, Hofjournale, Calender 1627, Eintragungen vom 4. Oktober bis 5. November 1627.

33. SHStA, Cantorey-Ordnung so Churfürst Moritz [...] aufrichten laßen, Anno 1581-1707, Loc. 8687, Bl. 51a.

34. SWV 257-276, mit Widmung an den jungen Kurprinzen Johann Georg II.

35. Als 1632 die Augsburger während der schwedischen Besetzung von ihrem enormen Druck entlastet wurden, erwähnte dieses Hoë von Hoënegg in seiner Predigt am Sonntag Jubilate. Schütz nahm diese Predigtpassagen begeistert auf, denn er wußte aus eigener Anschauung, worum es ging. Vgl. Schütz 1976, Nr. 39.

36. "Das ist je gewißlich wahr", SWV 277; "Amicitiae ergo ex pio adfectu consecrata ab Henrico Sagittario [...]", wie es in der Widmung heißt.

37. SHStA, Reise Churfürstens zu Sachßen [...] nach Leipzig auf den Evangelischen Convent=Tag 1631, Oberhofmarschallamt I. Nr.7 Bl. 95b, 180a, 250b; Engelbrecht 1958, S. 28, 127.

38. Ebd., Bl. 30.

39. Druck der Landtagspredigt (18.6. 1631): Hoë von Hoënegg 1631 (Sächsische Landes- und Universitäts-Bibliothek Dresden, H. Sax. J 123, 5S); zu Landgraf Wilhelms V. von Hessen-Kassel Anwesenheit in Leipzig vgl. "Reise Churfürstens zu Sachßen [...]" (Anm. 37), Bl. 9.

40. Geier 1672; Anhang: "Kurze Beschreibung des [...] Herrn Heinrich Schützens [...] geführten müheseeligen Lebens-Lauff" [12 ungezählte Blätter] Sächsische Landes- und Universitäts-Bibliothek Dresden, MB 8o R 1228).

41. Schütz 1976, Nr. 40.

42. Schütz 1976, Nr. 41.

43. Schütz 1976, Nr. 43.

44. Schütz 1976, Nr. 44.

45. Steude 1989, S. 48ff.

46. Schütz hatte der Stadt Pirna ein Darlehen gewährt, das diese dem Kurprinzen für die Hochzeit zur Verfügung stellte. Vgl. Steude 1967, S. 64ff.

47. Symphoniae sacrae II, Dresden 1647: SWV 341-367; Symphoniae sacrae III, Dresden 1650: SWV 398-418; Geistliche Chormusik, Dresden 1648: SWV 369-397.

48. Schütz 1976, ab Nr. 56, besonders die Nummern 56 bis 58 (1645, 1646) und aus den Jahren 1651 und 1652 die Nummern 80 bis 84.

49. Beide sind sich, entgegen früheren Annahmen, nicht begegnet: Steude 1985.

50. Grass 1979, Zitate S. 55f.

51. U.a. in Haufe 1985, I, S. 280.



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