Forschungsstelle "Westfälischer Friede": Dokumentation

DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa

Textbände > Bd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft

VOLKER GERHARDT
Zur historischen Bedeutung des Westfälischen Friedens - Zwölf Thesen

Der folgende Text ist aus einem Diskussionsbeitrag auf der Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats der Ausstellung 350 Jahre Westfälischer Friede am 10. Oktober 1995 in Osnabrück hervorgegangen. Da die zwölf Thesen der Verständigung über die Zielsetzung der Ausstellung gedient haben, kommen sie hier - durch einige sachliche Belege ergänzt - zum Abdruck. Auch die Maximen für die Konzeption der Ausstellung wurden nicht gestrichen. Sie können eine kritische Auseinandersetzung mit der Präsentation in Münster und Osnabrück erleichtern.



I.

Das Jahr 1648 markiert einen historischen Wendepunkt von zivilisationsgeschichtlichem Rang, denn im politischen Bewußtsein vollzieht sich der Übergang vom Krieg zum Frieden. Wenn es in der politischen Theorie der Gegenwart heißt, der Frieden sei der Grund, das Merkmal und die Norm des Politischen [1], dann gilt das für die Theorie der Politik zwar schon von Platon an und wird an der Schwelle zur Neuzeit im Defensor pacis des Marsilius von Padua (1324) wieder bewußt gemacht. Auch durch die Friedensrufe des Erasmus von Rotterdam und des Sebastian Franck, des Herzogs von Sully und eines Émeric Crucé und später durch die Friedensbotschaften William Penns bekommt die politische Friedenserwartung darüber hinaus neue Impulse, in die moralische und religiöse Erwartungen eingehen.

Aber in der öffentlichen Anerkennung des die Politik tragenden Friedenswillens durch die politischen Mächte Europas wird mit dem Abschluß des Friedensvertrages von 1648 ein neues Datum gesetzt. Auch wenn die Machthaber es mit ihren Deklarationen gar nicht ernst gemeint haben sollten: In den Abschlußdokumenten von Osnabrück und Münster wird der politische Primat des Friedens erklärt. Er ist damit zum Bestandteil der praktischen Politik geworden und wird erstmals von den Machthabern selbst - auch angesichts fortbestehender Konflikte - vor einer großen Öffentlichkeit propagiert.

Dahinter konnte und kann man nur noch auf die Gefahr eines Selbstwiderspruchs zurück; heute jedenfalls gibt es niemanden mehr, der sich öffentlich gegen den Frieden erklären und trotzdem politisch ernstgenommen werden könnte. Politiktheoretisch ist der Friede zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Der Bellizismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist demgegenüber ein Rückfall, den man wohl nur erklären kann, wenn man die Französische Revolution in Verbindung mit ihrem napoleonischen Nachspiel zu verstehen sucht.



II.

Die Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück sind durch ihr Verfahren wie durch ihr Ergebnis die erste große politische Konferenz der europäischen Mächte. Hier fand eben kein Konzil und auch kein Reichstag mehr statt, sondern eine Zusammenkunft selbständiger territorialer politischer Einheiten, erstmals auch unter Einbeziehung der relevanten Bündnisse. Der Hl. Stuhl war nur noch als Beobachter beteiligt. Der Primat säkularer Politik bahnt sich an. Auch wenn dies gewiß noch nicht in der Absicht der beteiligten Mächte und Machthaber liegt, so schaffen sie doch die Voraussetzungen für eine neue Form politischer Verständigung. Durch den Friedensvertrag vom 24. Oktober 1648 wird ein übergeordnetes Recht geschaffen, dem sich, wie der § 113 feststellt, alle bestehenden "kanonischen und weltlichen Rechte, allgemeine oder besondere Konzilsbeschlüsse, Privilegien, Bewilligungen, Verordnungen, Beauftragungen, Untersagungen, Befehle, Beschlüsse, Verfügungen" bis hin zu den "Konkordaten mit den Päpsten, das Interim vom Jahre 1548 oder weltliche oder kirchliche Ordnungen" zu fügen haben. [2] Erst eine solche Aufzählung macht bewußt, wie weit die normierende Kraft des Vertrags reichen soll und welcher alle bisherigen Regelungen übergreifende Machtanspruch mit dem Verhandlungsergebnis verbunden ist.

Die Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück werden so zum exemplarischen Fall zwischenstaatlicher Konfliktbewältigung und erscheinen rückblickend wie ein Modell für alle nachfolgenden überregionalen Konferenzen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die Korrespondenz von Staatsgründung und Friedensschluß, die bislang auf einzelne Territorien beschränkt war, tritt erstmals, wenn auch nur in der Tendenz, in ihrer staatenübergreifenden Logik hervor. Pax et pactum convertuntur. [3]



III.

Der Westfälische Frieden ist ein Ereignis in einer von Glaubenskämpfen zerrissenen christlichen Welt. Hier werden die Einflußsphären der Konfessionen abgegrenzt und mit neuen juristischen Mitteln festgelegt. Aber eben damit kommen sich die Konfessionen näher. Unter dem prozeduralen Zwang von Verfahren und Schiedssprüchen gehen die Kirchen politisch aufeinander zu. In einer immer wirksamer werdenden humanistisch-irenischen Atmosphäre entspannt sich der theologische Gegensatz zwischen den christlichen Bekenntnissen. Wie bei den politischen Entwicklungen gilt auch hier, daß sich Annäherung und Verständigung oft gegen den Willen der Akteure vollziehen. Dies wird um so deutlicher, wenn man die steigende Inbrunst der jeweils praktizierten Konfession dagegen hält. Nach innerer und äußerer Anteilnahme hat es selten eine Zeit gegeben, in der Politik und Religion so nachdrücklich aufeinander bezogen waren. Die Säkularisierung der politischen Sphäre geht mit einem Crescendo des Glaubens einher, der einen aufrichtigen Ausdruck in der Fürbitte des Friedens findet. Die eindringlichen Friedensgebete und Friedenslieder des 17. Jahrhunderts lassen sich heute durchaus auch als eine Selbsteinstimmung der Kirchen auf die bürgerliche Lebenswelt deuten.



IV.

Das historisch Neue in der Beendigung des Dreißigjährigen Krieges tritt primär in den juridischen und diplomatischen Verfahren sowie in den legitimatorischen Ansprüchen hervor; es braucht daher nicht zu wundern, daß es den Beteiligten in seiner Dynamik nicht bewußt ist. Die Not des Krieges wirkte weit über das individuelle Bewußtsein hinaus. Das im Münsteraner Vertragstext zum Ausdruck gebrachte Verlangen nach "immerwährendem Vergessen und Vergebung [perpetua oblivio et amnistia] all dessen, was seit Beginn dieser Auseinandersetzungen an irgendeinem Ort oder auf irgendeine Weise von der einen oder der anderen Seite, hinüber oder herüber, feindlich geschehen ist" [4], läßt den politischen Willen erkennen, die erfahrene Not politisch zu überwinden. Nur der gemeinsam erlebte Schrecken macht den Wunsch nach "vollständiger Tilgung" und "immerwährendem Vergessen" verständlich: Es sollen, so heißt es in § 2, "alle und die einzelnen bis heute und vor dem Krieg in Worten, Schrift und Taten zugefügten Rechtsverletzungen, Gewalttaten, Kriegshandlungen, Schäden und Kosten ohne jede Rücksichtnahme auf Personen oder Sachverhalte so vollständig getilgt sein [penitus abolitae sint], daß das, was auch immer unter Berufung auf eine solche Sache einer gegen den anderen vorbringen könnte, in immerwährendem Vergessen begraben sein soll [perpetua sit oblivione sepultum]." [5]

Erst heute, nachdem zwei Weltkriege uns die Leiden des Dreißigjährigen Krieges wieder nahegebracht haben, können wir auch die epochalen Folgen überblicken. Die politischen Nah- und Fernwirkungen des Westfälischen Friedens können daher nicht überzeugend dargestellt werden, wenn nicht auch das Elend des Krieges - Verwüstung, Vertreibung, Verletzung, Vergewaltigung, Verachtung, Vernichtung, Pest und Tod - anschaulich wird. Die Zerstörung unwiederbringlicher kultureller Güter, die jähe Aufwertung und Abwertung einzelner Schicksale, die Raserei des Zufalls unter dem Kalkül des Krieges - von alledem muß in der Ausstellung etwas sichtbar werden.



V.

Der Westfälische Frieden ist ein europäisches Ereignis auch durch eine in diesem Ausmaß zuvor nie dagewesene Anteilnahme der Öffentlichkeit. Das Vertragswerk selbst wird in verschiedenen Editionen publiziert. Schon dies ist ein Novum. Darüber hinaus lassen Zeitungen, Flugblätter und eine Flut von Münzen und Bildern die unerhörte und in diesem Ausmaß historisch wirklich neue Beteiligung der Menschen erkennen. Das gemeinsame, vor keiner Grenze haltmachende Leid und der ausgreifende, man möchte fast sagen: der totale Charakter der Kriegshandlungen, die ja nicht nur politische und religiöse Motive hatten, sondern oft nur aus persönlicher Machtgier und purer Raub- und Mordlust angetrieben wurden, schufen eine Aufmerksamkeit, die alle Stände und Regionen einbezog. Und erstmals gab es auch die Verkehrs- und Publikationsmittel, die schnell genug waren, das Informationsbedürfnis zu befriedigen. Bei den "Landeskindern" und "Untertanen" regt sich erstmals auch in größeren Flächenstaaten ein Interesse an staatsbürgerlicher Selbständigkeit. Wir beobachten hier die Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit, ohne die sich Politik heute gar nicht mehr denken, geschweige denn rechtfertigen läßt.



VI.

Auch wenn Karl Marx das Gegenteil behauptet hat: Die Philosophen haben die Welt höchst selten nur einfach interpretiert; sie haben sie immer auch verändert. Dafür liefert der Westfälische Frieden ein die Nachwelt eminent betreffendes Beispiel: Die Theorie des Völkerrechts - im Konziliarismus des 15. Jahrhunderts geboren, im Spanien des frühen 16. Jahrhunderts entwickelt und eng mit der Ausweitung europäischer Ansprüche durch Kolonisierung und Missionierung verbunden - wird in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges systematisiert. Das ist die Leistung des Hugo Grotius. [6] Mit Berufung auf die antike Rechtstradition verteidigt er den Begriff des "öffentlichen" und "formellen" Krieges, der in Anlaß, Führung und Abschluß ganz und gar dem Recht unterworfen ist. Eine zivile Institution wird dadurch zum absoluten Herrn des Krieges.

Durch die theoretische Leistung des Hugo Grotius wird das Ius publicum Europaeum ins öffentliche Bewußtsein gerückt, und es wird in den Verhandlungen, vor allem aber im Vertragswerk selbst, zu einem praktischen Element der Politik. Darüber hinaus kommt es in den Nachwirkungen des Friedenswerks zu Effekten in Völkerrecht, Staatstheorie und politischer Publizistik, die in ihrer grundlegenden Bedeutung heute noch nicht genügend aufgearbeitet sind. So hat man viel zu wenig darauf geachtet, daß die bedeutendste Staatstheorie dieser Epoche, die während des Dreißigjährigen Krieges entstandene politische Lehre des Thomas Hobbes [7], ein erstes Naturgesetz aller Politik postuliert, das auf nichts anderes zielt als auf den Frieden. In der ersten englischen Fassung lautete dieses First and Fundamentall Naturall Law aller Politik: "That every man, ought to endeavour Peace, as farre as he has hope of obtaining it." [8] Die politische Theorie nimmt hier offenkundig die politischen Erfahrungen ihres Zeitalters auf und wirkt langfristig auf die politischen Verhältnisse zurück; Locke, Montesquieu, Rousseau und Kant, um nur die herausragenden Köpfe zu nennen, nehmen das Friedensgebot des Natur- und Vernunftrechts auf und wirken über die Verfassungsdebatten in England, Amerika und im revolutionären Frankreich bis in die Gegenwart. Die internationalen Bündnisse, Sicherheitskonferenzen und Sicherheitsorganisationen sowie Völkerbund und Vereinte Nationen lassen sich ohne diese durch die politische Theorie nachhaltig verstärkten Impulse nicht verstehen.

Ihren Erfahrungshintergrund haben die politischen und philosophischen Theorien der Moderne immer auch in der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges; und ihre Hoffnungen schöpfen sie nicht unwesentlich aus der Tatsache, daß es gelungen ist, diesen Krieg in der beispiellosen diplomatischen Anstrengung der westfälischen Friedensverhandlungen zu beenden. Die Ausstellung in Münster und Osnabrück sollte daher zumindest eine Idee von diesen sich hier über 350 Jahre hinweg vollziehenden Übergängen zwischen Theorie und Praxis vermitteln.



VII.

In den Verhandlungen kommt ein neuer Begriff von Staatlichkeit zum Ausdruck. Die Bedingungen für die Teilnahme sind nicht mehr allein an die territoriale Repräsentanz gebunden, sondern mit der Rechtsförmigkeit des politischen Zusammenhangs verknüpft. Der Friedensschluß belehrt darüber, daß wir die übergreifenden politischen Einheiten nicht zureichend erfassen, wenn wir allein von Max Webers Anstaltsmodell ausgehen, das allein durch einen machthabenden Willen organisiert ist; "Staat" ist vielmehr das Gebilde, in dem sich einheitliche Rechtsverhältnisse ausgebildet haben, die sich an einem (natur-, vernunft- oder menschenrechtlichen) Prinzip messen lassen. Somit wird bereits 1648 ein Staatsbegriff sichtbar, der moderner ist, als es der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts suggeriert. Es sind nicht zuletzt die aufwendigen Prozeduren des Friedensvertrages und seiner Absicherung innerhalb wie außerhalb der Staaten, die den Wert des Rechts auch für die internationale Politik ins Bewußtsein rücken. In der öffentlichen Selbstdarstellung der Politik treten der Jurist und der Diplomat immer stärker hervor. Die barocke Kriegspose, in der sich die europäischen Herrscher noch über hundert Jahre lang gefallen, hat bereits alle Merkmale einer historisierenden Präsentation.



VIII.

Die Anteilnahme der Öffentlichkeit - und damit die neue Qualität von Politik - kommt auch darin zum Ausdruck, daß sich die kulturelle Produktivität in einer vorher nicht bekannten Weise auf Krieg und Frieden und Politik bezieht. Die thematische Entfaltung einer alle Menschen berührenden, direkt mit einem absichtlichen gesellschaftlichen Verhalten verknüpften Erfahrung führt zu einer ebenfalls in diesem Ausmaß zuvor nicht dagewesenen Popularisierung der sich immer reicher differenzierenden Künste. Die Kunst des Barock, die in den Kriegsjahren zur ersten Blüte kommt und sich in der Zeit nach dem Friedensschluß in triumphaler Weise entfaltet, führt zu einer alle Lebensbereiche erfassenden theatralisch-rhetorischen Selbstdarstellung der Kultur. Der lange Krieg wird in aufwendiger Prachtentfaltung kompensiert; vor allem aber genießt man in der Kunst die neuen technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten, die nicht nur alles nach Europa schaffen können, was andere Erdteile bieten, sondern eine perfektionierte Künstlichkeit erlauben, die es so vorher nicht gegeben hat. Diese immense menschliche und mechanische Kräfte, verschiedene Kulturen und Epochen kontrahierenden Potenzen schaffen völlig neue Räume der Illusion. Überdies läßt sich an den Gegenständen des täglichen Gebrauchs sinnfällig machen, daß die heute für das späte zwanzigste Jahrhundert reklamierte "Ästhetisierung des Alltagslebens" schon im 17. Jahrhundert Wirklichkeit ist.



IX.

Der Krieg und der Frieden fallen in eine Zeit, in der sich Technik und Wissenschaft in ungeahnter Weise entfalten. Von der Kriegstechnik über die Verkehrs- und Mitteilungsmittel bis hin zu den neuen Darstellungsformen der Kunst kommt hier eine neue Produktivität der menschlichen Kultur als ganzer zum Ausdruck. Wissenschaft und Technik treten aber nicht nur in den praktischen Leistungen der Naturbeherrschung, in der Erleichterung von Arbeit und Verkehr oder in der entsetzlichen Effektivierung der Waffen hervor: Sie kommen vor allem auch in der sinnfälligen Lust an den neuen Chancen zum Ausdruck. Es ist ein Überschuß an Kraft, der das 17. Jahrhundert in Krieg und Frieden - in schrecklicher und prächtig-luxurierender Weise - prägt. Dabei ist der Krieg keine einfach zugrundeliegende "sozio-ökonomische" Bedingung; er ist vielmehr selbst immer auch Ausdruck der Extreme, die das 17. Jahrhundert zerreißen - und die gleichwohl kulturell produktiv gemacht und künstlerisch zur Darstellung gebracht werden können. Von alledem gilt es, in der Ausstellung wenigstens etwas wirklich sichtbar zu machen.



X.

Die historische Vergegenwärtigung des Dreißigjährigen Krieges und des Friedensschlusses von 1648 ist durch die reiche künstlerische, politische und publizistische Überlieferung besonders begünstigt. Die Ausstellung kann daher zu einer exemplarischen Darstellung eines historischen Raumes mit allen seinen alltäglichen, festlichen, künstlerischen, religiösen, ökonomischen und politischen Elementen genutzt werden. Dazu gehört, daß Krieg und Frieden in diesem Fall schon von den Zeitgenossen, aber dann auch von den nachfolgenden Generationen in ihrer exemplarischen Bedeutung begriffen und pädagogisch genutzt worden sind. Die Chance, dabei auch die Ambivalenz der historischen Rückbesinnung zum Ausdruck zu bringen, sollte genutzt werden. Das heißt: Es ist nicht nur nach populär-kommerzieller und szientifischer Rezeption zu unterscheiden, sondern auch zu bedenken, daß der Westfälische Frieden fast 150 Jahre lang als ein Datum galt, das angeblich stärker für den Krieg als für den Frieden sprach. Gerade heute, nachdem die Friedensidee zu den Selbstverständlichkeiten politischer Diskurse zählt, der Krieg aber gleichwohl eine unleugbare Realität darstellt, sollten die extremen Bewertungsschwankungen in der Rezeption des Westfälischen Friedens nicht vergessen werden. Vielleicht läßt sich so - auch ohne expliziten friedenspädagogischen Anspruch - deutlich machen, daß die Tatsache eines politischen Friedens nicht zu den Gegebenheiten der Natur, auch nicht zu den Gnadenakten der Geschichte gehört. Der Friede muß vielmehr aktiv gewollt, institutionell hergestellt und vertraglich in einem komplexen Interessenfeld gesichert werden. Dazu bedarf es eines festen Willens, der sich seiner Sache sicher ist, der aber auch Kompromisse nicht scheut. Nicht selten verlangt der Frieden sogar kuriose Anstrengungen, für die der Verhandlungsalltag in Osnabrück und Münster anschauliche Beispiele liefert.

Vor allem aber sollte man sich den Ernst und Nachdruck vor Augen führen, mit dem 1648 der endlich ausgehandelte Frieden in die Tat umgesetzt werden sollte. Die "Strafe des Friedensbruchs" (poena fractae pacis) sollte jeden treffen, der den Bestimmungen des Vertrag zuwiderhandelte (§ 114). [9] Da aber auch 1648 bekannt war, daß ein Friedensschluß als politischer Akt nicht die Gegensätze selbst aus der Welt schaffen kann, wird ein Vorschlag zur friedlichen Beilegung der fortbestehenden wie der neuen Konflikte gemacht: "Der geschlossene Friede aber soll ungemindert in seiner Kraft verbleiben, und alle Beteiligten dieses Vertrages sollen gehalten sein, alle und die einzelnen Vorschriften dieses Friedens gegen einen jeden ohne eine Unterscheidung nach dem Glauben zu schützen und zu verteidigen, und wenn es geschehen sein sollte, daß etwas davon durch wen auch immer verletzt worden ist, soll der Verletzte den Verletzenden zuerst zwar vom Weg der Tätlichkeit abmahnen, der Fall selbst ist aber einer freundschaftlichen Beilegung oder einer Rechtsverhandlung unterworfen." (§ 115). [10] So macht der Vertrag auch schon erste Vorschläge zur friedlichen Beilegung von Konflikten überhaupt.



XI.

Der Friedensvertrag von 1648 rückt eine Region mit zwei benachbarten Städten ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Darin liegt eine beachtliche Chance, die im Interesse der beiden Städte - aber auch in der Absicht einer Versinnlichung historischer Erfahrung - genutzt werden sollte. Angesichts der nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wieder wachgewordenen Bedenken gegen die politische Rolle Deutschlands in Mitteleuropa sollte aber nicht nur auf regionale Bezüge geachtet werden. Der Westfälische Frieden bietet die geradezu natürliche Chance, den historischen Beitrag der deutschen Länder zur Integration Europas zu exponieren.

Dabei hat man daran zu erinnern, daß schon der Vertrag vom 24. Oktober 1648 "Vorsorge" (provisium) dafür treffen will, "daß künftig in der politischen Ordnung [in statu politico] keine Streitigkeiten entstehen" (§ 62). [11] Aus den zur Durchsetzung dieser Absicht vorgeschlagenen Maßnahmen geht hervor, daß die politische Ordnung (in statu politico), von der hier die Rede ist, nicht ein territoriales Staatsgebiet, sondern den gemeinschaftlichen Herrschaftsraum aller Vertragspartner meint. Nimmt man das zur Begründung der Friedenspolitik herangezogene Prinzip der "allgemeinen Nützlichkeit und Notwendigkeit" (publica utilitas aut necessitas) (§ 64) hinzu [12], bedenkt man ferner die Erwartung, daß "nach dem Friedensschluß der Handel [commercium] wieder aufblüht" (§ 67) [13], dann ist offenkundig, daß sich das Friedensgebot nicht auf einen eng umgrenzten territorialen Raum beschränkt. Es liegt vielmehr in der Logik schon des Westfälischen Friedens, eine Friedensordnung für ganz Europa zu wollen.



XII.

Bei alledem darf nicht vergessen werden, daß Geschichte nun einmal Geschichte und damit etwas unwiederbringlich Vergangenes ist. Als Geschichte bedarf sie stets einer bewußten Aneignung. Sie muß erinnert werden, um überhaupt erfahren zu werden. Anders ließe sie sich auch gar nicht ertragen. Wir bleiben notwendig in einer benötigten Distanz zu ihr. Es ist somit gar nicht möglich, Geschichte "anzufassen" oder zu "betreten". Deshalb sollte man auch der - im medialen Zeitalter natürlich naheliegenden - Versuchung widerstehen, sie so aufzubereiten, daß man sich "auf" oder "in" ihr ergehen kann. Eine Ausstellung darf dem Besucher nicht die eigene geistige Anstrengung abnehmen wollen. Allerdings sollte sie ihm das beste ästhetische und intellektuelle Angebot machen, damit er spürt, was ihm selber fehlt, wenn er sich nicht erinnert.



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ANMERKUNGEN


1. Sternberger 1980, S. 305.

2. Duchhardt/Jakobi, II, S. 87.

3. Nach dem scholastischen Lehrsatz "Ens et unum convertuntur" (Das Sein und das Eine entsprechen sich), sinngemäß: Friede und Vertrag gehören notwendig zusammen. Siehe dazu Gerhardt 1995, S. 26ff.

4. Duchhardt/Jakobi, II, 49 (§ 2).

5. Duchhardt/Jakobi, II, S. 50.

6. De jure belli ac pacis libri tres (1625). Das Werk, sieben Jahre nach dem Beginn des Krieges in Paris erschienen, fand sogleich größte Aufmerksamkeit bei den am Krieg beteiligten Fürsten. Ludwig XIII., der Grotius bereits eine Pension zahlte, erneuerte sein Angebot, ihn in französische Dienste zu übernehmen. Wallenstein schickte Emissäre, um ihn als Botschafter zu gewinnen. Der aus Holland vertriebene Protestant entschied sich jedoch für das Angebot Gustav Adolfs, das protestantische Schweden als Botschafter in Paris zu vertreten. Von Gustav Adolf heißt es, er habe De jure belli ac pacis libri tres auf seinem Feldzug in Deutschland stets mit in seinem Zelt gehabt. Hugo Grotius starb 1645, drei Jahre vor Abschluß des Westfälischen Friedens, in Rostock. Über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren hielt er alle Fäden der schwedisch-französischen Politik in der Hand. Somit hatte er auch selbst einen praktischen Anteil an der Anbahnung des Friedens.

7. Thomas Hobbes' Elements of law natural and political zirkulierte bereits 1640 unter den Teilnehmern an der Parlamentsdebatte über die Befugnisse der Königs. De Cive erschien 1642 und der Leviathan 1651 (!).

8. "Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht." (Hobbes 1968, I, S. 14; S. 190) In der Reprise faßt Hobbes die Aussage des ersten Naturgesetzes der Politik in die Formel zusammen: "nämlich: suche Frieden und halte ihn ein" (which is, to seek Peace, and follow it; Hobbes 1968, I, S. 14; S. 190).

9. Duchhardt/Jakobi, II, S. 88.

10. Duchhardt/Jakobi, II, S. 88.

11. Duchhardt/Jakobi, II, S. 67.

12. Duchhardt/Jakobi, II, S. 68.

13. Duchhardt/Jakobi, II, S. 70.



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© 2001 Forschungsstelle "Westfälischer Friede", Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Domplatz 10, 48143 Münster, Deutschland/Germany. - Stand dieser Seite: 2. Mai 2002