DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa | |
Textbände > Bd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft |
SIGRID JAHNS Die Reichsjustiz als Spiegel der Reichs- und Religionsverfassung |
Zu den Beschlüssen des
Westfälischen Friedenskongresses, die sich dem kollektiven Gedächtnis
der Nachwelt als historisch bedeutsam und daher erinnerungswürdig
einprägten, gehören sicherlich nicht diejenigen vertraglichen
Regelungen, die sich dem "Justizpunkt" widmeten, den obersten Gerichten im
Reich. [1] Auch für den Bauern auf dem Land, den Bürger in der
Stadt, der den langen Krieg erlitten und überlebt hatte, war das Schweigen
der Waffen zweifellos von existentiellerer Bedeutung als die dem Laien kaum
verständlichen und von ihm in ihrer Tragweite kaum zu ermessenden
Einzelbestimmungen des Friedensvertrags, die sich mit der Reichsjustiz
befaßten. Diese Materie war (und blieb) eine Sache der Spezialisten. Den
juristisch versierten Diplomaten auf dem Westfälischen
Friedenskongreß war allerdings die Relevanz des von ihnen ausgehandelten
"punctus justitiae" vollauf bewußt. Am 3. März 1648 wurde in
Osnabrück das Schlußdokument unterzeichnet, das den Justizpunkt
enthielt und dann Bestandteil des Friedensinstruments wurde. Bei der
Auslieferung dieses Vorvertrags "entstund eine solche Bewegung der Gemüther
unter denen Gesandtschaften, daß sie sich vor Freuden derer Thränen
nicht enthalten kunten und ihre sonderbahre Betrachtung darüber hatten,
daß eben der Punct der geheiligten Justiz, worauff die Grundfeste des
Staats beruhe, das erste Stück habe seyn müssen, darüber man
allerseits, nach vielen Kampff und Blut-Vergiessen, sich mit völliger
Zufriedenheit vereinigt habe, in der zuversichtlichen Hoffnung, die
Nachkommenschafft werde dieses Heiligthum nicht zerfallen lassen [...], sondern
dasselbige in solchem Stand Würde und Ansehen zu erhalten sich
bemühen, wie es die Ehre und Macht eines so grossen Staats und Reichs
erfordere". [2] Emotionen und Kommentar der Kongreßteilnehmer
bringen das Gewicht der gefundenen Lösung und die Härte des
vorausgegangenen Ringens weitaus besser zum Ausdruck, als es die nüchterne
Sprache der einschlägigen, jede Vorgeschichte ausblendenden
Vertragsparagraphen tut. Gewinne und Verluste der Kontrahenten auf diesem
speziellen Terrain entschieden über die Ausgestaltung der Reichsverfassung
als Ganzes. In dem fast dreijährigen Tauziehen um Anzahl,
Zuständigkeit und Besetzung der höchsten Reichsgerichte ging es
tiefgründig auch um die Position des Kaisers im Reich, um das
Verhältnis von Reichsoberhaupt und Ständen sowie der
Konfessionsparteien zueinander. Auf dem Höhepunkt der Kontroversen stand
zeitweise sogar die Einheit des Reiches auf dem Spiel: Diese Einheit des Reiches
als politisch-verfassungsrechtliches System galt es zu wahren, die Einheit des
Rechts, verlorengegangen in den Glaubenskämpfen des konfessionellen
Zeitalters, galt es wiederzugewinnen. Daß die Friedensverhandlungen
über den Justizpunkt mit einer solchen Bürde belastet waren, wird nur
durch die Tatsache verständlich, daß die unversöhnlichen
Streitigkeiten der Konfessionsparteien über Rechtsprechung, Besetzung und
Zuständigkeit der beiden obersten Reichsgerichte seit dem späten 16.
Jahrhundert im Zentrum jener tiefen Verfassungs- und Vertrauenskrise standen,
die zu den innerdeutschen Konfliktursachen des Dreißigjährigen
Krieges gehörte.
Diese Dimensionen des auf
dem Friedenskongreß so heftig umstrittenen Justizpunkts sind ohne einen
Blick weit zurück in das 16. Jahrhundert nicht zu verstehen. Auf dem
Wormser Reichstag von 1495, dem Höhepunkt der sogenannten Reichsreform,
hatten sich die Reichsstände von dem damaligen König
Maximilian I. mit dem Reichskammergericht (RKG) ein von seinem Hof
getrenntes, zentrales oberstes Gericht im Reich ertrotzt, welches das
verfassungspolitische Novum einer ständischen Teilhabe auf dem Gebiet der
obersten Gerichtsbarkeit verkörperte. Zwar blieb das Reichsoberhaupt
weiterhin unangefochten der oberste Gerichtsherr im Reich, aber typisch für
das bis 1555 voll ausgebildete RKG war doch seine Verquickung von monarchischen
und ständischen Strukturelementen, wobei letztere mehr und mehr
überwogen. Vor allem äußerte sich der verfassungsrechtliche
Dualismus von Kaiser und Reichsständen in der Besetzung des
Kameralkollegiums, des Gerichts im engeren Sinne. Der Kammerrichter, der an der
Urteilsfindung nicht beteiligte Gerichtsvorsitzende, verkörperte als
Repräsentant der kaiserlichen Gerichtshoheit am stärksten und
ausschließlichsten das monarchische Element. Für ihn und die zwei,
dann drei Präsidenten, Stellvertreter des Kammerrichters und wie er
Senatsvorsitzende, setzte sich nach einem längeren
Klärungsprozeß das kaiserliche Besetzungsrecht durch. Dagegen war die
Gesamtheit der Assessoren oder Beisitzer, der Richter im modernen Sinne, ein
Abbild des dualistischen Reichssystems, wie es die spätmittelalterliche
Verfassungsentwicklung unter dem Druck der partikularen Kräfte
hervorgebracht hatte. Wurden in den älteren Zentralgerichten die Urteiler
noch ganz allein vom Kaiser ernannt, triumphierten nach 1495 am RKG bei der
Richterbestellung die Stände. In dem zwischen 1507 und 1521
herausgebildeten Präsentationssystem, dem Modus zur Besetzung der
Assessorate, blieben nur wenige Stellen dem Vorschlagsrecht des Kaisers
überlassen. Alle übrigen Präsentationsberechtigungen wurden auf
die Kurfürsten und Reichskreise verteilt - Ausdruck und Sieg
ständischer Verfassungsbestrebungen.
Aber die
monarchische Reaktion blieb nicht aus. Auf Plänen Maximilians I.
fußend, schufen sich Kaiser Karl V. (sofern er im Reich weilte) sowie sein
Bruder und Statthalter im Reich König Ferdinand I. in Gestalt eines Hofrats
ein Organ, das ganz und gar Ausdruck ihrer ungeschmälerten Gerichtshoheit
war. Mit der Nachfolge Ferdinands I. im Kaisertum 1556 wurde sein bisher
königlicher Hofrat zum ständig tätigen kaiserlichen Hofrat. Er
übte von Anfang an ganz selbstverständlich eine mit dem RKG
konkurrierende Jurisdiktion in Justizangelegenheiten aus - wenn auch
zunächst in viel geringerem Umfang. Endgültig seit der von Ferdinand
I. 1559 ganz ohne Mitwirkung der Reichsstände erlassenen
Reichshofratsordnung gab es also neben dem von Kaiser und Ständen gemeinsam
getragenen RKG ein mit diesem konkurrierendes zweites oberstes Gericht im Reich.
Zu allen für das RKG konstitutiven Merkmalen stellte der Reichshofrat (RHR)
das monarchische Gegenstück dar. Dem Einfluß der Reichsstände
war er in jeder Hinsicht entzogen. Besetzung und Finanzierung lagen
ausschließlich beim Kaiser.
Die
politisch-verfassungsrechtlichen Strukturen des Reichsverbands hätten in
diesem dualen System zweier oberster Gerichte auf Dauer ihren adäquaten
Ausdruck finden können, wenn nicht in der Reformationszeit der neue
konfessionelle Dualismus der Glaubensparteien der Deckungsgleichheit von
Gerichtsverfassung und Reichsverfassung, kaum war sie hergestellt, auch schon
wieder ein Ende gemacht hätte. Der von der altgläubigen
Reichstagsmehrheit beschlossene Augsburger Reichsabschied von 1530 hatte jede
reformatorische Neuerung als Landfriedensbruch definiert, was für die
protestantischen Stände die gerichtliche Verfolgung bis hin zur
Verhängung der Reichsacht nach sich zog. Das RKG orientierte sich in diesen
Religionsprozessen konsequent am "katholischen Verständnis des Reichs und
Rechts". [3] Da neben der Rechtslage auch die strikt katholische
Besetzung des RKG eine Ursache für die Parteilichkeit des Gerichts in
diesem "rechtlichen Krieg" war, versuchten die protestantischen Stände
vergeblich, die Prozesse zum Stillstand zu bringen, und lehnten die
Zuständigkeit des Gerichts in Glaubenssachen ab. Spätestens seit 1540
forderten sie darüber hinaus, Juristen ihrer Religion zu Beisitzern am RKG
präsentieren zu dürfen. Jedoch führte erst der Augsburger
Religionsfrieden, der den Ständen der Augsburgischen Konfession nach zwei
Kriegen endlich die reichsrechtliche Anerkennung verschaffte, zum Ziel. Der
Augsburger Reichsabschied von 1555 verpflichtete das RKG auf das materielle
Recht des Religionsfriedens. Ferner wurde bestimmt, daß in Zukunft
Kammerrichter, Präsidenten und Beisitzer sowie alle andere Kameralpersonen
sowohl aus der alten Religion als auch aus der Augsburgischen Konfession
präsentiert und ernannt werden dürften. Dieses Zugeständnis
bedeutete keine numerische Konfessionsparität. Eine solche
zahlenmäßige Gleichheit war weder damals noch vorher von den
Protestanten gefordert worden. 1555 erreichten die Protestanten nichts anderes -
aber auch nicht weniger - als die gleichberechtigte Zulassung von Anhängern
der Augsburgischen Konfession zu - theoretisch - allen Kameralämtern.
Angesichts der konfessionellen Option des Kaisers und der Mehrheit der
Reichsstände zugunsten des katholischen Glaubens war aber 1555 in der
Praxis sichergestellt, daß die Ämter des Kammerrichters und der
Präsidenten sowie die Mehrheit der Assessorate weiterhin katholisch besetzt
sein würden, ebenso die in kurmainzischer Hand befindliche RKG-Kanzlei.
Wenige Jahre später errangen die Protestanten jedoch einen weiteren Erfolg:
Die RKG-Visitation von 1560 ordnete an, daß Senate, in denen durch den
Augsburger Religionsfrieden verursachte Streitsachen verhandelt werden
würden, möglichst mit Angehörigen beider Konfessionen in gleicher
Anzahl besetzt werden sollten. Für einen kleinen, jedoch politisch
bedeutsamen Bereich der Kameralverfassung war damit im Interesse unparteiischer
Justiz erstmals - und für lange Zeit auch noch singulär - das im
Augsburger Religionsfrieden angelegte Gleichheitsprinzip zur numerischen
Konfessionsparität gesteigert, um Majorisierungen in Religionssachen einen
Riegel vorzuschieben. Das Zukunftsträchtige dieser Lösung sollte sich
erst 1648 erweisen.
Daß 1555 als Konsequenz
aus dem Augsburger Religionsfrieden nur die Besetzung, innere Organisation und
Rechtsanwendung des Kammergerichts reichsgesetzlich neu geregelt wurde, ist
nicht verwunderlich. Denn nur dieses hatte sich in der Reformationszeit in
Religionsprozessen exponiert. Der Aufstieg des ferdinandeischen Hofrats zum
kaiserlichen Reichshofrat sollte erst nach 1556 erfolgen. Diesem
Entwicklungsstand entsprechend hatten die protestantischen Reichsstände zur
Zeit des Passauer Vertrags und des Augsburger Religionsfriedens nur das RKG im
Visier.
Dank der Regelungen von 1555 und 1560
schien das RKG bestens gerüstet, hinfort auch in Religionskonflikten
Unparteilichkeit zu üben und in seinen Entscheidungen von Rechtssuchenden
beider Konfessionsparteien akzeptiert zu werden. Daß das RKG dennoch
seiner Aufgabe trotz besten Willens auf Dauer nicht gerecht zu werden vermochte,
hing mit einer Grundproblematik des Augsburger Religionsfriedens zusammen. Als
Folge des Zwangs, trotz des ungelösten Glaubensdissenses zu einem
politischen Kompromiß, zu einem äußeren Frieden zu kommen, war
dieses Normenwerk in zentralen Bestimmungen lückenhaft, unklar und
mehrdeutig. Dieses "juristische Dissimulieren" um des Friedens willen hatte
seinen Preis. [4] Es belastete das Konfessionelle Zeitalter mit dem
Streit um das "richtige" Recht, um die "richtige" Auslegung des
Religionsfriedens, der nicht nur in seinen Einzelbestimmungen, sondern auch in
seinem Gesamtverständnis zwischen den Religionsparteien heftig
umkämpft war. Das RKG, mit der Streitschlichtung in Religionssachen auf der
Grundlage des Religionsfriedens beauftragt, war angesichts dieser Spaltung der
Rechtsanschauungen vor die Quadratur des Kreises gestellt. Die unterliegende
Prozeßpartei mußte die Entscheidung des RKG zwangsläufig als
parteiisch empfinden. Zwar konnte das RKG bei einigermaßen klarer
Rechtslage den Schwächeren schützen oder wenigstens Konflikte mildern.
Aber da auch die Assessoren trotz allen Bemühens um unparteiische Justiz im
Rechtsdenken ihrer jeweiligen Konfession gefangen waren, kam es in den
paritätisch besetzten Religionssenaten über Zweifelsfragen immer
wieder zur Selbstblockade durch Stimmengleichheit. Spätestens seit 1580
schlug die Eskalation der konfessionspolitischen Spannungen im Reich voll auf
das RKG durch. Vor allem politisch relevante Religionsprozesse wie der Streit um
das Reformationsrecht der Reichsstädte oder um die fortgesetzte Einziehung
landsässiger Klöster führten nun gehäuft zur Pattsituation
in den Religionssenaten. In der Wahrnehmung der Protestanten, die sich
angesichts der vordringenden Gegenreformation verstärkt in der Defensive
sahen, ging diese Entwicklung hauptsächlich zu ihren Lasten. Gegen Ende des
16. Jahrhunderts trieb die Justizkrise auf ihren Höhepunkt und führte
zu einer tiefgreifenden Krise der Reichsverfassung. Der Stillstand der als
Revisionsinstanz fungierenden ordentlichen RKG-Visitation (1588), die von vielen
Protestanten erbittert bekämpfte Rechtsprechung des RKG im sogenannten
"Vierklosterstreit", die von ihnen herbeigeführte Sprengung der
außerordentlichen Reichsdeputation (1601) und der weitere Anstieg
unerledigter Revisionsanträge gegen RKG-Urteile sind Etappen auf dem Weg in
diese Krise, die schließlich die Judikatur des RKG seit Beginn des 17.
Jahrhunderts in weiten Teilen lahmlegte.
Die
andere oberste Gerichtsinstanz, der kaiserliche Reichshofrat, hatte sich auf
kaiserliche Anordnung lange Zeit von Religionsprozessen zurückgehalten, um
Verwicklungen des Kaiserhofs mit den streitenden Konfessionsparteien zu
vermeiden. Aber infolge der zunehmenden Blockierung des RKG stieg seit den
späten achtziger Jahren die Anzahl der am RHR anhängig gemachten
Prozesse, gerade auch in wichtigen Materien wie Religionssachen. Diese
Entwicklung war primär zum Nachteil der Protestanten, denn in den Prozessen
um die Auslegung des Augsburger Religionsfriedens verfocht der
ausschließlich oder fast ganz mit Katholiken besetzte RHR eher die
entschieden katholische Interpretationslinie. Spektakuläre, das Reich
erschütternde Entscheidungen des RHR zugunsten der katholischen Seite, so
im Straßburger Kapitelstreit, im Fall der Reichsstadt Aachen und im Kampf
um Donauwörth, führten dazu, daß der RHR in der Wahrnehmung der
Protestanten als Instrument der Gegenreformation
agierte.
Je mehr sich die protestantischen
Stände von den Religionsprozessen der Reichsgerichte bedroht fühlten,
um so mehr verbanden sie ihre Angriffe und Beschwerden mit konkreten
Forderungen, um der - tatsächlichen oder vermeintlichen - Parteilichkeit
der Reichsjustiz ein Ende zu machen. In den Jahrzehnten vor dem
Dreißigjährigen Krieg war die protestantische Seite ebensowenig wie
Kaiser und Katholiken zu der Einsicht fähig, daß nur eine politische
Lösung, nämlich eine einvernehmlich durch Kaiser und sämtliche
Reichsstände vorgenommene authentische Klarstellung und Ergänzung des
umstrittenen Augsburger Religionsfriedens und folglich eine Beseitigung des
gespaltenen Rechtsdenkens, die Problematik der Religionsprozesse hätte
beseitigen können. Zu einer solchen Revision der materiellrechtlichen
Grundlagen sollte es nach Anläufen während des Krieges jedoch erst auf
dem Friedenskongreß kommen. Bis dahin konzentrierten sich die Protestanten
- immer im Kontext ihrer sonstigen Religionsgravamina - darauf, die
konfessionelle Besetzung der Reichsgerichte in ihrem Sinne zu verändern und
die mit dem RKG konkurrierende Jurisdiktion des RHR zu bekämpfen. Die
verfassungspolitische Sprengkraft der protestantischen Wünsche war
zunächst, als seit den späten siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts
die ersten Einzelforderungen erhoben wurden, noch kaum sichtbar und den
Protestanten zunächst wohl auch kaum bewußt. Erst als sich die
Einzelbeschwerden allmählich zu einem System mit klar erkennbaren
Grundprinzipien verdichteten, wurden die Konturen einer neuen, von katholischer
Seite nicht zu Unrecht als revolutionär empfundenen Verfassungskonzeption
sichtbar.
Als gemeinsamer Nenner der auf eine
veränderte Besetzung der obersten Gerichte zielenden Forderungen
schälte sich in den letzten zwei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ein
veränderter Begriff von "Gleichheit der Religion" heraus, und zwar im Sinne
von zahlenmäßiger Gleichheit, numerischer Parität. Das im
Augsburger Frieden bereits angelegte, aber noch nicht konsequent ausgestaltete
und zur programmatischen Grundnorm erhobene Prinzip der Religionsgleichheit
wurde in den nächsten neunzig Jahren weitergebildet, wenn auch aus
naheliegenden Gründen lange Zeit ausschließlich auf seiten der
Protestanten. Aus dem älteren, sehr allgemeinen und unpräzisen Begriff
von Gleichheit der Konfessionen im Sinne von Gleichrangigkeit, Gleichwertigkeit,
allgemeiner Billigkeit und Gerechtigkeit wurde bis zur Mitte des 17.
Jahrhunderts in letzter Zuspitzung "eine auf strenger Gegenseitigkeit beruhende
Gleichberechtigung selbst in nebensächlichen Dingen." [5] In diesem
Denkprozeß nahm die Reichsjustiz eine wichtige Rolle als Vorreiter und
Experimentierfeld ein.
Die protestantischen
Paritätswünsche konzentrierten sich im späten 16. Jahrhundert
zuerst auf das RKG. Zum einen war es schon viel eher ins Kreuzfeuer
protestantischer Kritik geraten als der RHR, zum anderen sahen die Stände
in ihm primär "ihr" Gericht, die Konkretisierung ständischer
Verfassungsvorstellungen. Dabei richtete sich die Forderung nach
zahlenmäßiger Gleichheit zunächst nicht auf die Assessoren (die
Parität in den Religionssenaten gab es ja schon), sondern auf diejenigen
Ämter und Großgruppen des RKG, die - von wenigen Ausnahmen abgesehen
- bisher durchweg mit Katholiken besetzt worden waren: Kammerrichter,
Präsidenten und Kanzlei. Die seit 1576 geäußerte, auf den
Augsburger Reichsabschied von 1555 gestützte Bitte, auch Protestanten
für diese Posten zu ernennen, spitzte sich unter kurpfälzischer
Federführung seit den frühen achtziger Jahren zur Forderung nach
strikter Konfessionsparität zu. Kaiser und katholische Stände wiesen
diese Forderungen von Anfang an entschieden zurück. Begründet wurde
die Ablehnung zum einen mit den kaiserlichen iura maiestatis, zum anderen
ganz legalistisch mit der Kammergerichtsordnung von 1555, wonach die Ernennung
von Kammerrichter und Präsidenten allein dem Kaiser zustand, die Besetzung
der Kanzlei allein dem Reichserzkanzler. Weder dem einen noch dem anderen
dürfe man deshalb Vorschriften bezüglich der
Religionszugehörigkeit der ernannten Personen machen. Auch aus dem
Augsburger Reichsabschied von 1555 könne man keinen derartigen Zwang
ableiten. Vor allem verbarg sich in der Forderung, das Kammerrichteramt auf dem
Wege der Alternation konfessionsparitätisch zu besetzen, eine Zumutung an
das kaiserliche Selbstverständnis. Denn der Kammerrichter
repräsentierte dort den Kaiser, hatte den Gerichtsvorsitz an seiner Statt.
Die abwechselnde Bestellung von evangelischen und katholischen Kammerrichtern
hätte aber dem Kaiser eine konfessionsneutrale, überparteiliche Rolle
zugeteilt mit unvorhersehbaren und aus katholischer Sicht präjudizierenden
Konsequenzen für die Interpretation des kaiserlichen Amtes und
überhaupt der ganzen Reichsverfassung.
Bei
der Forderung nach konfessionsparitätischer Besetzung der Direktorial- und
Kanzleipersonen ging es den Protestanten nicht nur um die Durchsetzung eines
abstrakten Gleichheitsprinzips, sondern dahinter stand auch der Verdacht, diese
Funktionsträger, obwohl mit der Rechtsprechung nicht befaßt,
trügen im Rahmen ihrer Amtspflichten dennoch zur Parteilichkeit des
Gerichts in Religionsprozessen bei. Sicherheitsbedürfnis und
Verfassungsanspruch gingen also Hand in Hand.
Die
Forderung durchgehender Religionsparität wurde dann 1612 und 1613 auch auf
die gesamte Assessorengruppe ausgedehnt. Auf dem Rothenburger Unionstag von 1613
stellten die von Kurpfalz angeführten Mitglieder der Union bereits
umständliche Überlegungen an, wie die zahlenmäßige
Religionsgleichheit sämtlicher RKG-Beisitzer in der Praxis hergestellt
werden könne, da das seit 1521 gültige Präsentationssystem
angesichts der Mehrheitsverhältnisse unter den Reichsständen immer
auch eine katholische Mehrheit der Beisitzer produzierte. Als eine
Möglichkeit, zum erwünschten Ziel zu kommen, wurde ins Auge
gefaßt, daß für eine gewisse Zeit bei allen eintretenden
Vakanzen immer nur protestantische Juristen zu Assessoren präsentiert
werden sollten. Die Präsentation "papistischer" Beisitzer dagegen sollte so
lange eingestellt werden, bis im Kameralkollegium Religionsgleichheit erreicht
sei. Danach war dann bei Erledigung eines Assessorats immer nur ein Kandidat
jener Religion zu benennen, die der verstorbene Beisitzer gehabt
hatte. [6] Dieses Projekt mutete den katholischen Ständen zu, je
nach Bedarf auch evangelische Juristen zu präsentieren. Tatsächlich
sollten die Protestanten diese "Lösung" 1634/35 bei den Pirnaer und Prager
Friedensverhandlungen offiziell vorschlagen - ohne jeden
Erfolg.
Im Streit um die durchgängige
Religionsparität des Kameralpersonals trafen schon vor dem
Dreißigjährigen Krieg die katholische und die protestantische
Konzeption vom Charakter der Reichsverfassung unversöhnlich aufeinander.
Die Protestanten empfanden 1613 die Ablehnung ihrer Paritätsforderungen und
das Festhalten der katholischen Stände am Mehrheitsprinzip als ein
unerträgliches Joch. Die Gegenseite wiederum sah damals "der catholischen
religion das messer an die gurgel gesezt, weil die protestirnde sambtlich und
entlich entschlossen, den religionfriden auf ir weis zu erweitern [...], am
cammergericht und reichstägen paritatem votorum neben der freistellung mit
gewalt und aufs eusserist
hindurchzutringen." [7]
Mit derselben
Unversöhnlichkeit und Verbitterung wurde am Vorabend des
Dreißigjährigen Krieges um das andere oberste Gericht im Reich, den
kaiserlichen Reichshofrat, gerungen, dessen Religionsprozesse den Protestanten
zunehmend gefährlich wurden. Neben seiner katholischen Besetzung und seiner
Einbindung in das politische System des kaiserlichen Hofes beklagten die
Protestanten vor allem, daß der RHR in Streitsachen prozessierte, für
die nach den Reichsgesetzen und vor allem der Kammergerichtsordnung nur das RKG
zuständig war, und dazu gehörten nach protestantischem
Verständnis gerade auch die Religionssachen. Tatsächlich war ja die
Zuständigkeit des RHR bisher nirgendwo fixiert. Aus dem ganzen
Beschwerdekomplex schälten sich in den Jahren vor und nach 1600 parallel
zur allgemeinen Verhärtung der Fronten zwei Hauptforderungen der
protestantischen Stände heraus: stärkere Berücksichtigung von
Protestanten bei der Besetzung des RHR und Beseitigung seiner Jurisdiktion,
soweit diese mit dem RKG konkurrierte. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert trat
die von Kurpfalz angeführte protestantische Aktionspartei immer deutlicher
mit einer These hervor, die sie dann auf dem Regensburger Reichstag 1613 mit
aller Schärfe vortrug: Das RKG sei das einzige höchste Gericht im
Reich, dem RHR komme eine gleiche Position nicht zu. Dabei betonten die
protestantischen Stände, daß sie mit ihrem Einspruch keineswegs die
kaiserliche Jurisdiktion an sich bezweifeln wollten, denn diese werde -
abgesehen von gewissen, dem RHR reservierten Fällen - am RKG unter Namen
und Siegel des Kaisers ausgeübt. All diese Thesen drängten den RHR an
den Rand der Reichsjustiz. Im Kampf gegen die religionsrechtliche Judikatur des
RHR versuchte die protestantische Aktionspartei, eine Verfassungsentwicklung
rückgängig zu machen, von der der Kaiser die Stände ganz
bewußt ausgeschlossen hatte: die Errichtung des rein monarchisch
geprägten RHR als Gegengewicht gegen das überwiegend ständische
RKG. Der Geist der Reichsreformzeit wird wieder
spürbar.
Seit dem ersten Jahrzehnt des 17.
Jahrhunderts wurde von den Protagonisten im protestantischen Lager auch die
paritätische Besetzung des RHR anvisiert. Auf dem erwähnten
Rothenburger Unionstag machten sich sämtliche Mitglieder der Union diese
Forderung zu eigen. Ein Justizausschuß schlug sogar vor, auch für den
RHR die reichsständische Präsentation anzustreben. Das hieß, die
dualistische Verfassungskonstruktion des RKG auf den RHR zu übertragen,
diese Bastion monarchischer Gewalt. Der Pfälzer Kurfürst verband den
Plan zur paritätischen Besetzung des RHR-Kollegiums schon 1608 und nochmals
1611 mit noch radikaleren Zielen: Nicht nur der RHR, auch der kaiserliche
Geheime Rat sollte paritätisch besetzt werden. Die protestantische
Verfassungskonzeption von der strikten Gleichberechtigung der beiden
Konfessionen im Reich wäre damit in die Schaltzentrale kaiserlicher Macht
hineingetragen worden. Auf dem Regensburger Reichstag wurde die Forderung nach
Religionsgleichheit im RHR dann aber doch wieder zurückgezogen, um
wenigstens andere Ziele wie die durchgängige Parität des RKG zu
erreichen. So sehr die protestantische Aktionspartei die paritätische
Besetzung des RHR auch wünschte - anders als im Fall des ohnehin stark
ständisch geprägten RKG bestanden damals noch gewisse Hemmungen, beim
Kaiser auf Religionsgleichheit im RHR und sogar auf ständische
Präsentationsberechtigung zu dringen, "da der Hofrat für des Kaisers
und nicht des Reiches Rat gehalten
wird." [8]
So wie die Protestanten einen
mit lauter katholischen Zeloten besetzten RHR fürchteten, pflegten die
katholischen Stände ihre nicht minder wahnhafte Sorge vor einem
paritätisch besetzten RHR. Schon die damalige Minderheit von Protestanten
im RHR wurde 1613 als Unheil angesehen. In einem Gutachten für den Kaiser
vom Frühjahr 1614 hielt der bayerische Rat Wilhelm Jocher die damaligen
Forderungen der protestantischen Aktionspartei für "also qualificiert, das
nicht allein die catho [lischen] dardurch gahr extirpiert, sonder alle vorgehende
reichssatzung, ja des röm. kaysers ambt und hochait in effectu aufgehebt
wurde. Dann wann der röm. kayser ausserhalb aines oder andern fahl khain
jurisdiction, authoritet oder macht hat [...], so werden sie in effectu baldt
die oberhandt im Röm. Reich und mehr gwalt als der kaiser selbst bekhommen;
das Reich und gericht irem gefallen nach dirigiern; und wan sie die übrigen
geistliche güeter alle an sich gezogen, die catho. allenthalben
rechtloß gelassen und undertruckht sein, alsdan wol einen erwinschten
fridt erlangen." [9] Gegensätzlicher konnten die Konzeptionen von
einer friedenstiftenden oder aber kriegverursachenden Reichs- und
Religionsverfassung nicht sein. Erst wenn man bedenkt, mit welcher Erbitterung
am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges in dieser gravierenden
Verfassungs- und Vertrauenskrise die eigenen Positionen verteidigt, die
gegnerischen verteufelt wurden, kann man die Lösungen würdigen, die
der Westfälische Friedenskongreß schließlich für diese
Verfassungsproblematik fand.
In den ersten beiden
Phasen des Dreißigjährigen Krieges brachten die Siege der
kaiserlich-ligistischen Heere alle protestantischen Forderungen nach einer
Umgestaltung der Reichs- und Religionsverfassung und damit auch der Reichsjustiz
zum Schweigen. Erst der Siegeszug Schwedens ermöglichte es den
evangelischen Reichsständen in den frühen dreißiger Jahren,
wieder auf ihre alten Konzepte zurückzugreifen. Die seit 1631 von
Hessen-Kassel projektierte Verfassungskonzeption atmete sogar noch einen weitaus
radikaleren Geist. Sie sah unter anderem vor: Wahl des Kaisers nur durch
evangelische Stände; Einstellung der gesamten Prozeßtätigkeit
des RHR; Reichsstände dürften nur noch vor das RKG gezogen werden;
"umb mehrer versicherung willen" sollte das RKG durchweg mit "evangelischen
hauptern und beisitzern" besetzt werden, wobei den
präsentationsberechtigten katholischen Reichsständen auferlegt werden
sollte, nur Protestanten zu Beisitzern vorzuschlagen; Streitfälle, die
bisher in die ausschließliche Zuständigkeit des kaiserlichen Hofes
gefallen seien (Lehenssachen etc.), sollten zukünftig nicht mehr allein vor
den Kaiser, sondern zugleich vor sämtliche Reichsstände gehören
und dort erörtert werden. [10] In letzter Konsequenz lief dieses
Programm, welches das von den Protestanten so heftig bekämpfte Prinzip der
Ungleichheit unter umgekehrtem Vorzeichen zementierte, auf eine protestantisch
geprägte Reichsjustiz in einem protestantisch dominierten Reich hinaus.
Aber die verheerende Niederlage der Schweden in der Schlacht bei Nördlingen
(September 1634) und die Rückeroberung ganz Süddeutschlands durch den
Kaiser führten dazu, daß bei den Pirnaer und Prager
Friedensverhandlungen 1634/35 selbst vergleichsweise maßvolle Forderungen
- Kursachsen verlangte paritätische Besetzung von RKG und RHR und brachte
das Problem der RHR-Jurisdiktion zur Sprache - kein Gehör fanden. Zu einer
grundlegenden Neugestaltung der Gerichts- und überhaupt der Reichs- und
Religionsverfassung auf der Basis der Gleichberechtigung beider Konfessionen war
zur Zeit des Prager Friedens trotz mancher Annäherungen die Zeit noch nicht
reif. Noch unmittelbar vor der Eröffnung des Friedenskongresses, auf dem
Frankfurter Deputationstag
1643 bis 1645, der
eigens für die Abstellung von Mängeln im Justizwesen einberufen worden
war, gelang es den protestantischen Deputierten nicht, eine Bresche in die
Abwehrfront der katholischen Mehrheit zu schlagen. Die Unbeweglichkeit beider
Seiten zeigte vielmehr, daß die Fragen der Religionsgleichheit in den
Reichsgerichten, der religionsrechtlichen Judikatur des RHR und andere
verfassungspolitische Aspekte der Reichsjustiz nur im Rahmen einer umfassenden
Revision der Reichs- und Religionsverfassung zu lösen waren - sowie nur
unter dem Druck der kriegsbeteiligten europäischen
Mächte.
Auf dem Westfälischen
Friedenskongreß in Münster und Osnabrück bildete der Justizpunkt
zweieinhalb Jahre lang ein heiß umstrittenes Thema. In ihren im Dezember
1645 vorgelegten "Gravamina Evangelicorum" wiesen die Protestanten - die
machtpolitisch-europäischen Kriegsgründe aus taktischen Gründen
ganz ausblendend - nochmals darauf hin, daß die von ihnen schon so lange
vorgebrachten und bisher unerledigt gebliebenen Justizbeschwerden eine
Hauptursache für Zerrüttung und Krieg im Reich und ein Haupthindernis
für den Frieden gewesen seien. Dann traten die evangelischen Stände
mit einem Programm zur Reform der Reichsjustiz hervor, das an Radikalität
alle früheren Projekte weit übertraf. Neben dem RKG und dem RHR
sollten zwei weitere oberste Reichsgerichte eingesetzt werden. Die Vermehrung
wurde ganz praktisch und scheinbar harmlos begründet: mit der Entlastung
der beiden bisherigen höchsten Gerichte, mit der Verkürzung der
Reisewege und Senkung der Reisekosten für Prozeßparteien und
Kammerboten. Der verfassungs- und religionspolitische Sprengstoff war jedoch
unübersehbar: Die nunmehr vier Gerichte sollten "als kayserliche und des
Reichs [!] höchste Gerichte und Universalia dicasteria" [11] an
Jurisdiktion, Macht und Würde völlig gleichrangig sein. Jedem von
ihnen wurde ein Gerichtssprengel zugewiesen, in dem es konkurrenzlos
zuständig war. Und zwar wurde der RHR auf den Österreichischen und den
Bayerischen Kreis, das RKG auf die beiden Rheinischen Kreise sowie den
Burgundischen Kreis beschränkt. Von den beiden neuzuschaffenden Gerichten
wurden dem einen die beiden Sächsischen Kreise sowie der Westfälische
Kreis, dem anderen der Fränkische und der Schwäbische Kreis
zugeordnet. Gesetzliche Grundlage aller vier Gerichte sollte die
Kammergerichtsordnung samt ihren Ergänzungsgesetzen sein. Die eigentlichen
Richter sollten aus den Reichskreisen rekrutiert und von den Reichsständen
dieser Kreise präsentiert und besoldet werden. An allen vier Gerichten
waren sämtliche Ämter mit Evangelischen und Katholiken in gleicher
Anzahl zu besetzen. In Zweifelsfällen oder bei Stimmengleichheit zwischen
den Richtern beider Religionsteile sollte die Sache zur gütlichen
Vergleichung auf den Reichstag verwiesen werden. Zur Begründung dieser
durchgängigen Religionsgleichheit fanden die protestantischen Stände
programmatische Worte mit Grundrechtscharakter: Sie sei der höchsten Not,
der Vernunft, der natürlichen Billigkeit und dem Völkerrecht
gemäß, sei stabilisierender Zusammenhalt in einer freien
"Respublica". Die Evangelischen partizipieren mit gleichem Recht wie die
Katholiken an den Rechten des Staatswesens, sie seien alle, die Höchsten
wie die Niedrigsten, gleichberechtigte Mitglieder des einen Reiches ("aequalia
membra unius Imperii"). Diese "aequitas" erfordere, daß die Evangelischen
wie die Katholiken gleichberechtigt zu den Ämtern des Staatswesens
zugelassen würden. [12] Das waren Prinzipien, die der bisherigen
katholischen Interpretation vom Wesen des Reiches diametral entgegenstanden. Vor
allem aber wurde durch dieses Projekt die Position des Kaisers und mit ihr die
des RHR schwer getroffen. Zwar sollten an den nunmehr vier höchsten und
gleichen Gerichten alle Zitationen, Mandate und Dekrete im Namen und unter dem
Siegel des Kaisers ausgehen (so wie bisher schon an RKG und RHR). Aber trotz
solcher Reservate wurde der Kaiser aus dieser neuen Gerichtsverfassung doch
weitgehend verdrängt. Vor allem wurde der RHR seines bisherigen Charakters
als Bollwerk ausschließlich monarchischer Rechte entkleidet und statt
dessen den ständischen Prinzipien der Reichsreformzeit unterworfen.
Zugleich war durch seine Beschränkung auf einen rein katholischen
Gerichtssprengel im Südosten des Reiches das Problem der bisher den
protestantischen Ständen so gefährlichen, weil im ganzen Reich mit dem
RKG konkurrierenden religionsrechtlichen Jurisdiktion des RHR mit einem Schlag
behoben. Es war ganz wesentlich ein konfessionsparitätisches,
ständisch-aristokratisches, dezentrales Reich mit schwacher kaiserlicher
Gewalt, das sich in diesem protestantischen Projekt einer Justizreform
spiegelte. Die Handschrift Hessen-Kassels und Braunschweig-Lüneburgs -
Protagonisten einer einschneidenden Verfassungsrevision - ist unverkennbar.
Angesichts der geschlossenen Abwehrfront der kaiserlichen und katholischen
Kongreßgesandten nahm die evangelische Seite zwar im Juni 1646 an ihrem
von Schweden und Frankreich unterstützten Justizreformprojekt eine
Reduktion vor. Nunmehr sollte nur noch ein weiteres Reichsgericht aufgerichtet
werden, und zwar für die beiden Sächsischen Kreise und den
Westfälischen Kreis. Im übrigen galten aber alle Prinzipien des
älteren viergliedrigen Modells. Der Widerstand der Gegenseite blieb denn
auch ungebrochen. Aus kaiserlicher Sicht lief der neue ebenso wie der
ursprüngliche Entwurf zwangsläufig auf einen Umsturz der gesamten
Reichsverfassung ("ad eversionem formae totius Reipublicae")
hinaus. [13] Aber im evangelischen Lager bröckelte seit dem Sommer
1646 die Front, vor allem kaisertreue Stände distanzierten sich zunehmend
von dem Projekt, allen voran Kursachsen. Auch Kurbrandenburg, das sich durch die
schwedischen Territorialansprüche um die pommersche Erbschaft gebracht sah
und auf dem Weg über schwedische Präsentationsrechte (wegen Pommern,
Bremen, Verden) die Übermacht Schwedens in dem geplanten dritten Gericht
fürchtete, verhielt sich ablehnend. Dem kurbrandenburgischen Gesandten in
Osnabrück schien es gar, "als gehe man damit um, das Reich in drei Theile
zu theilen, als ein Theil dem Römischen Kaiser mit dem Reichshofrath und
anhängenden Kreisen, den anderen Theil aber des Kammergerichts zu Speyer
den Franzosen, und das dritte ihnen selbst, der Kron Schweden,
zuzueignen." [14]
Angesichts all dieser
Widerstände auch im eigenen Lager und auf Grund schwedischer
Sonderinteressen ließen die Protestanten um die Jahreswende 1646/47 ihr
Projekt einer dreigeteilten Reichsjustiz fallen und operierten von nun an wieder
im Rahmen der herkömmlichen zweigliedrigen Gerichtsverfassung. Diese
Kehrtwende vollzogen sie jedoch nur unter bestimmten Bedingungen: Diese liefen
für das RKG zur Verbesserung seiner Funktionsfähigkeit auf die
Vermehrung der Assessorate hinaus, die - ebenso wie die Kanzlei - strikt
religionsparitätisch besetzt werden sollten. Die Präsidenten ernannte
weiterhin der Kaiser, aber ebenfalls in gleicher Anzahl aus beiden Religionen.
Die Abschaffung des Kammerrichteramts wurde nahegelegt, später aber wieder
fallengelassen zugunsten der Alternation. Dem RHR sollte nach dem Willen der
Protestanten die Zuständigkeit in Religionssachen genommen werden, im
übrigen blieb ihm die Konkurrenz mit dem RKG. Der RHR war ebenfalls
religionsparitätisch zu besetzen, und zwar durch Präsentation von und
aus den Reichskreisen. Auch für den RHR wurde eine (mehrheitlich
ständische) ordentliche Visitation und Revision verordnet, wie sie am RKG
eingeführt war. Zweifelsfälle sollten von beiden Gerichten an den
Reichstag verwiesen werden. Diese auf ältere Konzepte
zurückgreifenden, von Schweden unterstützten Forderungen waren,
gemessen an der damaligen kaiserlich-katholischen Position, immer noch radikal
genug, vor allem im Hinblick auf den RHR, der nach diesen Plänen zu einem
ständischen Gericht gemacht worden
wäre.
Von nun an wurde unter diesen neuen
Prämissen bis zum Frühjahr 1648 über ein Jahr lang zäh um
den Justizpunkt gerungen, vor allem um das RKG. Das Ergebnis dieses Tauziehens
war schließlich ein Kompromiß, der allerdings für RKG und RHR
sehr unterschiedlich ausfiel. Auf dem Friedenskongreß hatte der
evangelische Religionsteil schließlich erreicht, daß das so lange
umstrittene Prinzip der "aequalitas exacta mutuaque" (IPO V,
§ 1), der
genauen und gegenseitigen Gleichheit zwischen beiden Konfessionen, nunmehr zum
konstitutiven Bauelement der Reichsverfassung wurde. Nach langem Kampf um
Quotenanteile konnten die Protestanten durchsetzen, daß dieses Prinzip
auch dem Präsentationssystem zur Besetzung der - auf 50 erhöhten -
RKG-Assessorate zugrunde gelegt wurde, jedoch mit einer bezeichnenden Ausnahme.
In der Schlußphase der Verhandlungen mußte die protestantische Seite
schließlich dem Kaiser zu Ehren und zur Bezeugung ihres Friedenswillens
konzedieren, daß die beiden kaiserlichen Assessorate von der
Paritätsregelung ausgenommen wurden. Der Grundsatz der numerischen
Parität sollte nur für diejenigen 48 RKG-Beisitzer (24:24) gelten, die
von den Reichsständen präsentiert wurden. Zur Verwirklichung dieser
Vorgaben fanden die Friedensunterhändler schließlich eine
Lösung, die nach den vorausgegangenen Irrwegen geradezu genial erscheint.
Durchaus in Analogie zu der Aufgliederung des Reichstags in ein Corpus
Catholicorum und ein Corpus Evangelicorum traten nun anstelle des
bisherigen einen Präsentationsschemas zwei nach Konfessionen getrennte
Schemata. Entsprechend ihrem damaligen Konfessionsstand wurden Kurfürsten
und Reichskreise (für die gemischten Reichskreise fand man eine
komplizierte Lösung) dem einen oder anderen Schema zugewiesen. Der
Konfessionscharakter der einzelnen Assessorate wurde dadurch reichsgesetzlich
genau festgelegt. Die beiden kaiserlichen Vorschlagsrechte waren in das
katholische Präsentationsschema integriert und gaben diesem mit zwei
Assessoraten ein leichtes Übergewicht gegenüber dem evangelischen
(26:24). Die innere Ausgestaltung der beiden Präsentationsschemata wurde
den Konfessionsparteien als interne Angelegenheit überlassen. Dabei
mußten sich die Protestanten einiger Kunstgriffe bedienen, damit sie ihre
24 Präsentationsberechtigungen zusammenbekamen. Mit dieser konsequenten
Anwendung des Grundsatzes strikter Gleichbehandlung und Trennung sowie
gegenseitiger Nichteinmischung leistete der Friedenskongreß in einem nur
scheinbar zweitrangigen Bereich einen bedeutsamen Beitrag zur Konfliktregelung.
Die Friedensunterhändler maßen ihm denn auch, wie die eingangs
zitierten Lobesworte zeigen, allergrößte Bedeutung bei. Fast
unnötig zu sagen, daß das Westfälische Friedensinstrument auch
nähere Bestimmungen traf für diejenigen Fälle, in denen die
Senate des RKG paritätisch besetzt werden sollten. Das RKG ging in der
Folge noch darüber hinaus und achtete in allen Rechtsfällen
durchgängig auf Religionsgleichheit der Senate und Referenten. Einen
ähnlichen Ausgleich zwischen kaiserlichen Sonderrechten und
protestantisch-ständischen Positionsgewinnen fand man 1648 für die
Direktorialämter des RKG. Die nunmehr vier Präsidentenstellen, die
weiterhin der Kaiser besetzte, wurden ebenfalls der Paritätsarithmetik
(2:2) unterworfen. Aber das für den Kaiser aus verfassungspolitischen
Gründen weitaus bedeutsamere Amt des Kammerrichters blieb dem Zugriff der
protestantischen Stände ebenso entzogen wie die kaiserlichen Assessorate,
denn - so der im Februar 1648 von den kaiserlichen Gesandten gegenüber den
schwedischen Unterhändlern aufgestellte Grundsatz: "cujus Religionis sit
Imperator, ejus et debeat esse Judex" - der Kammerrichter als Inkarnation
kaiserlicher Autorität und Gerichtshoheit am RKG müsse derselben
Religion angehören wie der Kaiser. [15] Wie sich auf dem
nächsten Reichstag zeigte, ließ sich auch Kurmainz in die Besetzung
der RKG-Kanzlei nicht hineinreden.
Das Gericht im
engeren Sinne jedoch, das Kameralkollegium des RKG mit Kammerrichter,
Präsidenten und Assessoren, war seit dem Westfälischen Frieden sowohl
durch seine Öffnung für die neue Grundnorm der aequalitas exacta
mutuaque als auch durch die Respektierung des kaiserlichen
Selbstverständnisses aufs neue ein Spiegel des modifizierten Reichssystems.
Der ältere politisch-verfassungsrechtliche Dualismus von Kaiser und
Reichsständen und der jüngere Dualismus der Konfessionen wurden seit
1648 im Kameralkollegium auf geradezu idealtypische Weise ausbalanciert und
abgebildet. Reichsverfassung, Religionsverfassung und Gerichtsverfassung waren
hier endlich wieder zur Deckung gelangt.
Für
den RHR konnten die protestantischen Stände dagegen die ebenfalls seit
langem geforderte Religionsgleichheit sämtlicher Reichshofräte nicht
durchsetzen und schon gar nicht die Besetzung des RHR auf dem Wege
reichsständischer Präsentation. Der Kaiser versprach zwar, einige
evangelische Juristen für den RHR zu rekrutieren, ließ sich aber auf
eine genaue Zahl nicht festlegen (die neue RHR-Ordnung, die von 18
Reichshofräten sechs evangelische vorsah, erließ der Kaiser 1654 aus
eigener Machtvollkommenheit). Immerhin sollten die wenigen evangelischen
Reichshofräte garantieren, daß bei der Erörterung und
Entscheidung von geistlichen und weltlichen Rechtssachen, die zwischen Parteien
verschiedener Konfession strittig waren, eine paritätische Anzahl von
Reichshofräten aus beiden Bekenntnissen herangezogen werden konnte. Auch im
Ringen um die mit dem RKG konkurrierende Jurisdiktion des RHR, die die
Protestanten vor allem in Religionssachen sechs Jahrzehnte lang bekämpft
hatten, blieb der Kaiser auf dem Friedenskongreß Sieger. Dabei konnten die
Protestanten diesen Sieg allerdings angesichts der erwähnten
verfahrensparitätischen Regelungen für alle irgendwie
konfessionsrelevanten RHR-Prozesse
hinnehmen.
Insgesamt war dieses ganze Regelwerk,
auf das sich die Unterhändler als Teil des Friedensinstruments (IPO V,
§§ 53-57) am
3. März 1648 endlich einigten, von dem geradezu revolutionären Projekt
einer Reichsjustizreform, wie es die Protestanten in der ersten
Kongreßphase vorgelegt hatten, meilenweit entfernt. Der "punctus
iustitiae" bewahrte - wie der gesamte Westfälische Frieden überhaupt -
die politisch-verfassungsrechtlichen Grundstrukturen des Reiches und der darauf
aufbauenden Gerichtsverfassung, wie sie sich als Ergebnis der
spätmittelalterlichen Verfassungsentwicklung seit etwa 1500 herausgebildet
und im 16. Jahrhundert stabilisiert hatten. Aber innerhalb dieser traditionellen
Strukturen zogen die Gerichtsreformen die Konsequenzen aus der konfessionell
bedingten Zerrüttung der Reichsjustiz, die die Krise der Reichs- und
Religionsverfassung am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges ganz
wesentlich mitverursacht hatte. Die Friedensunterhändler in Münster
und Osnabrück vollbrachten mit der Regelung des Justizpunkts im Rahmen des
Möglichen eine bemerkenswerte Anpassungsleistung. Für sich allein
genommen hätten gerichtsorganisatorische Neuerungen wie paritätische
Besetzung oder zumindest paritätische Abstimmungsverfahren allerdings
schwerlich pazifizierend wirken und das Vertrauen in die konfessionelle
Unparteilichkeit der Reichsjustiz nicht wiederherstellen können. So wichtig
sie für die Protestanten als Ausdruck ihrer Verfassungsdeutung und als
vertrauensbildende Maßnahme waren, sie konnten nur greifen im Verein mit
einer gleichzeitigen Reform der materiellen Rechtsgrundlagen für
künftige Religionsprozesse. Indem Kaiser und Reichsstände auf dem
Westfälischen Friedenskongreß die Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten
des Augsburger Religionsfriedens beseitigten und die verbleibenden Lücken
auf der Basis einer genauen und gegenseitigen Gleichheit zwischen den
Religionsparteien schlossen, überwanden sie die konfessionell bedingte
Spaltung des Rechts und beseitigten damit die tiefere Ursache für die durch
Glaubensspaltung und Konfessionalisierung ausgelöste Vertrauenskrise der
Reichsjustiz. Die beiden obersten Gerichte im Reich und vor allem das RKG waren
auch nach dem großen Friedensschluß mit zum Teil schwerwiegenden
Problemen beladen. Aber es waren nicht mehr die friedensbedrohenden Konflikte
des konfessionellen
Zeitalters.