Forschungsstelle "Westfälischer Friede": Dokumentation

DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa

Textbände > Bd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft

SIGRID JAHNS
Die Reichsjustiz als Spiegel der Reichs- und Religionsverfassung

Zu den Beschlüssen des Westfälischen Friedenskongresses, die sich dem kollektiven Gedächtnis der Nachwelt als historisch bedeutsam und daher erinnerungswürdig einprägten, gehören sicherlich nicht diejenigen vertraglichen Regelungen, die sich dem "Justizpunkt" widmeten, den obersten Gerichten im Reich. [1] Auch für den Bauern auf dem Land, den Bürger in der Stadt, der den langen Krieg erlitten und überlebt hatte, war das Schweigen der Waffen zweifellos von existentiellerer Bedeutung als die dem Laien kaum verständlichen und von ihm in ihrer Tragweite kaum zu ermessenden Einzelbestimmungen des Friedensvertrags, die sich mit der Reichsjustiz befaßten. Diese Materie war (und blieb) eine Sache der Spezialisten. Den juristisch versierten Diplomaten auf dem Westfälischen Friedenskongreß war allerdings die Relevanz des von ihnen ausgehandelten "punctus justitiae" vollauf bewußt. Am 3. März 1648 wurde in Osnabrück das Schlußdokument unterzeichnet, das den Justizpunkt enthielt und dann Bestandteil des Friedensinstruments wurde. Bei der Auslieferung dieses Vorvertrags "entstund eine solche Bewegung der Gemüther unter denen Gesandtschaften, daß sie sich vor Freuden derer Thränen nicht enthalten kunten und ihre sonderbahre Betrachtung darüber hatten, daß eben der Punct der geheiligten Justiz, worauff die Grundfeste des Staats beruhe, das erste Stück habe seyn müssen, darüber man allerseits, nach vielen Kampff und Blut-Vergiessen, sich mit völliger Zufriedenheit vereinigt habe, in der zuversichtlichen Hoffnung, die Nachkommenschafft werde dieses Heiligthum nicht zerfallen lassen [...], sondern dasselbige in solchem Stand Würde und Ansehen zu erhalten sich bemühen, wie es die Ehre und Macht eines so grossen Staats und Reichs erfordere". [2] Emotionen und Kommentar der Kongreßteilnehmer bringen das Gewicht der gefundenen Lösung und die Härte des vorausgegangenen Ringens weitaus besser zum Ausdruck, als es die nüchterne Sprache der einschlägigen, jede Vorgeschichte ausblendenden Vertragsparagraphen tut. Gewinne und Verluste der Kontrahenten auf diesem speziellen Terrain entschieden über die Ausgestaltung der Reichsverfassung als Ganzes. In dem fast dreijährigen Tauziehen um Anzahl, Zuständigkeit und Besetzung der höchsten Reichsgerichte ging es tiefgründig auch um die Position des Kaisers im Reich, um das Verhältnis von Reichsoberhaupt und Ständen sowie der Konfessionsparteien zueinander. Auf dem Höhepunkt der Kontroversen stand zeitweise sogar die Einheit des Reiches auf dem Spiel: Diese Einheit des Reiches als politisch-verfassungsrechtliches System galt es zu wahren, die Einheit des Rechts, verlorengegangen in den Glaubenskämpfen des konfessionellen Zeitalters, galt es wiederzugewinnen. Daß die Friedensverhandlungen über den Justizpunkt mit einer solchen Bürde belastet waren, wird nur durch die Tatsache verständlich, daß die unversöhnlichen Streitigkeiten der Konfessionsparteien über Rechtsprechung, Besetzung und Zuständigkeit der beiden obersten Reichsgerichte seit dem späten 16. Jahrhundert im Zentrum jener tiefen Verfassungs- und Vertrauenskrise standen, die zu den innerdeutschen Konfliktursachen des Dreißigjährigen Krieges gehörte.

Diese Dimensionen des auf dem Friedenskongreß so heftig umstrittenen Justizpunkts sind ohne einen Blick weit zurück in das 16. Jahrhundert nicht zu verstehen. Auf dem Wormser Reichstag von 1495, dem Höhepunkt der sogenannten Reichsreform, hatten sich die Reichsstände von dem damaligen König Maximilian I. mit dem Reichskammergericht (RKG) ein von seinem Hof getrenntes, zentrales oberstes Gericht im Reich ertrotzt, welches das verfassungspolitische Novum einer ständischen Teilhabe auf dem Gebiet der obersten Gerichtsbarkeit verkörperte. Zwar blieb das Reichsoberhaupt weiterhin unangefochten der oberste Gerichtsherr im Reich, aber typisch für das bis 1555 voll ausgebildete RKG war doch seine Verquickung von monarchischen und ständischen Strukturelementen, wobei letztere mehr und mehr überwogen. Vor allem äußerte sich der verfassungsrechtliche Dualismus von Kaiser und Reichsständen in der Besetzung des Kameralkollegiums, des Gerichts im engeren Sinne. Der Kammerrichter, der an der Urteilsfindung nicht beteiligte Gerichtsvorsitzende, verkörperte als Repräsentant der kaiserlichen Gerichtshoheit am stärksten und ausschließlichsten das monarchische Element. Für ihn und die zwei, dann drei Präsidenten, Stellvertreter des Kammerrichters und wie er Senatsvorsitzende, setzte sich nach einem längeren Klärungsprozeß das kaiserliche Besetzungsrecht durch. Dagegen war die Gesamtheit der Assessoren oder Beisitzer, der Richter im modernen Sinne, ein Abbild des dualistischen Reichssystems, wie es die spätmittelalterliche Verfassungsentwicklung unter dem Druck der partikularen Kräfte hervorgebracht hatte. Wurden in den älteren Zentralgerichten die Urteiler noch ganz allein vom Kaiser ernannt, triumphierten nach 1495 am RKG bei der Richterbestellung die Stände. In dem zwischen 1507 und 1521 herausgebildeten Präsentationssystem, dem Modus zur Besetzung der Assessorate, blieben nur wenige Stellen dem Vorschlagsrecht des Kaisers überlassen. Alle übrigen Präsentationsberechtigungen wurden auf die Kurfürsten und Reichskreise verteilt - Ausdruck und Sieg ständischer Verfassungsbestrebungen.

Aber die monarchische Reaktion blieb nicht aus. Auf Plänen Maximilians I. fußend, schufen sich Kaiser Karl V. (sofern er im Reich weilte) sowie sein Bruder und Statthalter im Reich König Ferdinand I. in Gestalt eines Hofrats ein Organ, das ganz und gar Ausdruck ihrer ungeschmälerten Gerichtshoheit war. Mit der Nachfolge Ferdinands I. im Kaisertum 1556 wurde sein bisher königlicher Hofrat zum ständig tätigen kaiserlichen Hofrat. Er übte von Anfang an ganz selbstverständlich eine mit dem RKG konkurrierende Jurisdiktion in Justizangelegenheiten aus - wenn auch zunächst in viel geringerem Umfang. Endgültig seit der von Ferdinand I. 1559 ganz ohne Mitwirkung der Reichsstände erlassenen Reichshofratsordnung gab es also neben dem von Kaiser und Ständen gemeinsam getragenen RKG ein mit diesem konkurrierendes zweites oberstes Gericht im Reich. Zu allen für das RKG konstitutiven Merkmalen stellte der Reichshofrat (RHR) das monarchische Gegenstück dar. Dem Einfluß der Reichsstände war er in jeder Hinsicht entzogen. Besetzung und Finanzierung lagen ausschließlich beim Kaiser.

Die politisch-verfassungsrechtlichen Strukturen des Reichsverbands hätten in diesem dualen System zweier oberster Gerichte auf Dauer ihren adäquaten Ausdruck finden können, wenn nicht in der Reformationszeit der neue konfessionelle Dualismus der Glaubensparteien der Deckungsgleichheit von Gerichtsverfassung und Reichsverfassung, kaum war sie hergestellt, auch schon wieder ein Ende gemacht hätte. Der von der altgläubigen Reichstagsmehrheit beschlossene Augsburger Reichsabschied von 1530 hatte jede reformatorische Neuerung als Landfriedensbruch definiert, was für die protestantischen Stände die gerichtliche Verfolgung bis hin zur Verhängung der Reichsacht nach sich zog. Das RKG orientierte sich in diesen Religionsprozessen konsequent am "katholischen Verständnis des Reichs und Rechts". [3] Da neben der Rechtslage auch die strikt katholische Besetzung des RKG eine Ursache für die Parteilichkeit des Gerichts in diesem "rechtlichen Krieg" war, versuchten die protestantischen Stände vergeblich, die Prozesse zum Stillstand zu bringen, und lehnten die Zuständigkeit des Gerichts in Glaubenssachen ab. Spätestens seit 1540 forderten sie darüber hinaus, Juristen ihrer Religion zu Beisitzern am RKG präsentieren zu dürfen. Jedoch führte erst der Augsburger Religionsfrieden, der den Ständen der Augsburgischen Konfession nach zwei Kriegen endlich die reichsrechtliche Anerkennung verschaffte, zum Ziel. Der Augsburger Reichsabschied von 1555 verpflichtete das RKG auf das materielle Recht des Religionsfriedens. Ferner wurde bestimmt, daß in Zukunft Kammerrichter, Präsidenten und Beisitzer sowie alle andere Kameralpersonen sowohl aus der alten Religion als auch aus der Augsburgischen Konfession präsentiert und ernannt werden dürften. Dieses Zugeständnis bedeutete keine numerische Konfessionsparität. Eine solche zahlenmäßige Gleichheit war weder damals noch vorher von den Protestanten gefordert worden. 1555 erreichten die Protestanten nichts anderes - aber auch nicht weniger - als die gleichberechtigte Zulassung von Anhängern der Augsburgischen Konfession zu - theoretisch - allen Kameralämtern. Angesichts der konfessionellen Option des Kaisers und der Mehrheit der Reichsstände zugunsten des katholischen Glaubens war aber 1555 in der Praxis sichergestellt, daß die Ämter des Kammerrichters und der Präsidenten sowie die Mehrheit der Assessorate weiterhin katholisch besetzt sein würden, ebenso die in kurmainzischer Hand befindliche RKG-Kanzlei. Wenige Jahre später errangen die Protestanten jedoch einen weiteren Erfolg: Die RKG-Visitation von 1560 ordnete an, daß Senate, in denen durch den Augsburger Religionsfrieden verursachte Streitsachen verhandelt werden würden, möglichst mit Angehörigen beider Konfessionen in gleicher Anzahl besetzt werden sollten. Für einen kleinen, jedoch politisch bedeutsamen Bereich der Kameralverfassung war damit im Interesse unparteiischer Justiz erstmals - und für lange Zeit auch noch singulär - das im Augsburger Religionsfrieden angelegte Gleichheitsprinzip zur numerischen Konfessionsparität gesteigert, um Majorisierungen in Religionssachen einen Riegel vorzuschieben. Das Zukunftsträchtige dieser Lösung sollte sich erst 1648 erweisen.

Daß 1555 als Konsequenz aus dem Augsburger Religionsfrieden nur die Besetzung, innere Organisation und Rechtsanwendung des Kammergerichts reichsgesetzlich neu geregelt wurde, ist nicht verwunderlich. Denn nur dieses hatte sich in der Reformationszeit in Religionsprozessen exponiert. Der Aufstieg des ferdinandeischen Hofrats zum kaiserlichen Reichshofrat sollte erst nach 1556 erfolgen. Diesem Entwicklungsstand entsprechend hatten die protestantischen Reichsstände zur Zeit des Passauer Vertrags und des Augsburger Religionsfriedens nur das RKG im Visier.

Dank der Regelungen von 1555 und 1560 schien das RKG bestens gerüstet, hinfort auch in Religionskonflikten Unparteilichkeit zu üben und in seinen Entscheidungen von Rechtssuchenden beider Konfessionsparteien akzeptiert zu werden. Daß das RKG dennoch seiner Aufgabe trotz besten Willens auf Dauer nicht gerecht zu werden vermochte, hing mit einer Grundproblematik des Augsburger Religionsfriedens zusammen. Als Folge des Zwangs, trotz des ungelösten Glaubensdissenses zu einem politischen Kompromiß, zu einem äußeren Frieden zu kommen, war dieses Normenwerk in zentralen Bestimmungen lückenhaft, unklar und mehrdeutig. Dieses "juristische Dissimulieren" um des Friedens willen hatte seinen Preis. [4] Es belastete das Konfessionelle Zeitalter mit dem Streit um das "richtige" Recht, um die "richtige" Auslegung des Religionsfriedens, der nicht nur in seinen Einzelbestimmungen, sondern auch in seinem Gesamtverständnis zwischen den Religionsparteien heftig umkämpft war. Das RKG, mit der Streitschlichtung in Religionssachen auf der Grundlage des Religionsfriedens beauftragt, war angesichts dieser Spaltung der Rechtsanschauungen vor die Quadratur des Kreises gestellt. Die unterliegende Prozeßpartei mußte die Entscheidung des RKG zwangsläufig als parteiisch empfinden. Zwar konnte das RKG bei einigermaßen klarer Rechtslage den Schwächeren schützen oder wenigstens Konflikte mildern. Aber da auch die Assessoren trotz allen Bemühens um unparteiische Justiz im Rechtsdenken ihrer jeweiligen Konfession gefangen waren, kam es in den paritätisch besetzten Religionssenaten über Zweifelsfragen immer wieder zur Selbstblockade durch Stimmengleichheit. Spätestens seit 1580 schlug die Eskalation der konfessionspolitischen Spannungen im Reich voll auf das RKG durch. Vor allem politisch relevante Religionsprozesse wie der Streit um das Reformationsrecht der Reichsstädte oder um die fortgesetzte Einziehung landsässiger Klöster führten nun gehäuft zur Pattsituation in den Religionssenaten. In der Wahrnehmung der Protestanten, die sich angesichts der vordringenden Gegenreformation verstärkt in der Defensive sahen, ging diese Entwicklung hauptsächlich zu ihren Lasten. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts trieb die Justizkrise auf ihren Höhepunkt und führte zu einer tiefgreifenden Krise der Reichsverfassung. Der Stillstand der als Revisionsinstanz fungierenden ordentlichen RKG-Visitation (1588), die von vielen Protestanten erbittert bekämpfte Rechtsprechung des RKG im sogenannten "Vierklosterstreit", die von ihnen herbeigeführte Sprengung der außerordentlichen Reichsdeputation (1601) und der weitere Anstieg unerledigter Revisionsanträge gegen RKG-Urteile sind Etappen auf dem Weg in diese Krise, die schließlich die Judikatur des RKG seit Beginn des 17. Jahrhunderts in weiten Teilen lahmlegte.

Die andere oberste Gerichtsinstanz, der kaiserliche Reichshofrat, hatte sich auf kaiserliche Anordnung lange Zeit von Religionsprozessen zurückgehalten, um Verwicklungen des Kaiserhofs mit den streitenden Konfessionsparteien zu vermeiden. Aber infolge der zunehmenden Blockierung des RKG stieg seit den späten achtziger Jahren die Anzahl der am RHR anhängig gemachten Prozesse, gerade auch in wichtigen Materien wie Religionssachen. Diese Entwicklung war primär zum Nachteil der Protestanten, denn in den Prozessen um die Auslegung des Augsburger Religionsfriedens verfocht der ausschließlich oder fast ganz mit Katholiken besetzte RHR eher die entschieden katholische Interpretationslinie. Spektakuläre, das Reich erschütternde Entscheidungen des RHR zugunsten der katholischen Seite, so im Straßburger Kapitelstreit, im Fall der Reichsstadt Aachen und im Kampf um Donauwörth, führten dazu, daß der RHR in der Wahrnehmung der Protestanten als Instrument der Gegenreformation agierte.

Je mehr sich die protestantischen Stände von den Religionsprozessen der Reichsgerichte bedroht fühlten, um so mehr verbanden sie ihre Angriffe und Beschwerden mit konkreten Forderungen, um der - tatsächlichen oder vermeintlichen - Parteilichkeit der Reichsjustiz ein Ende zu machen. In den Jahrzehnten vor dem Dreißigjährigen Krieg war die protestantische Seite ebensowenig wie Kaiser und Katholiken zu der Einsicht fähig, daß nur eine politische Lösung, nämlich eine einvernehmlich durch Kaiser und sämtliche Reichsstände vorgenommene authentische Klarstellung und Ergänzung des umstrittenen Augsburger Religionsfriedens und folglich eine Beseitigung des gespaltenen Rechtsdenkens, die Problematik der Religionsprozesse hätte beseitigen können. Zu einer solchen Revision der materiellrechtlichen Grundlagen sollte es nach Anläufen während des Krieges jedoch erst auf dem Friedenskongreß kommen. Bis dahin konzentrierten sich die Protestanten - immer im Kontext ihrer sonstigen Religionsgravamina - darauf, die konfessionelle Besetzung der Reichsgerichte in ihrem Sinne zu verändern und die mit dem RKG konkurrierende Jurisdiktion des RHR zu bekämpfen. Die verfassungspolitische Sprengkraft der protestantischen Wünsche war zunächst, als seit den späten siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts die ersten Einzelforderungen erhoben wurden, noch kaum sichtbar und den Protestanten zunächst wohl auch kaum bewußt. Erst als sich die Einzelbeschwerden allmählich zu einem System mit klar erkennbaren Grundprinzipien verdichteten, wurden die Konturen einer neuen, von katholischer Seite nicht zu Unrecht als revolutionär empfundenen Verfassungskonzeption sichtbar.

Als gemeinsamer Nenner der auf eine veränderte Besetzung der obersten Gerichte zielenden Forderungen schälte sich in den letzten zwei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ein veränderter Begriff von "Gleichheit der Religion" heraus, und zwar im Sinne von zahlenmäßiger Gleichheit, numerischer Parität. Das im Augsburger Frieden bereits angelegte, aber noch nicht konsequent ausgestaltete und zur programmatischen Grundnorm erhobene Prinzip der Religionsgleichheit wurde in den nächsten neunzig Jahren weitergebildet, wenn auch aus naheliegenden Gründen lange Zeit ausschließlich auf seiten der Protestanten. Aus dem älteren, sehr allgemeinen und unpräzisen Begriff von Gleichheit der Konfessionen im Sinne von Gleichrangigkeit, Gleichwertigkeit, allgemeiner Billigkeit und Gerechtigkeit wurde bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts in letzter Zuspitzung "eine auf strenger Gegenseitigkeit beruhende Gleichberechtigung selbst in nebensächlichen Dingen." [5] In diesem Denkprozeß nahm die Reichsjustiz eine wichtige Rolle als Vorreiter und Experimentierfeld ein.

Die protestantischen Paritätswünsche konzentrierten sich im späten 16. Jahrhundert zuerst auf das RKG. Zum einen war es schon viel eher ins Kreuzfeuer protestantischer Kritik geraten als der RHR, zum anderen sahen die Stände in ihm primär "ihr" Gericht, die Konkretisierung ständischer Verfassungsvorstellungen. Dabei richtete sich die Forderung nach zahlenmäßiger Gleichheit zunächst nicht auf die Assessoren (die Parität in den Religionssenaten gab es ja schon), sondern auf diejenigen Ämter und Großgruppen des RKG, die - von wenigen Ausnahmen abgesehen - bisher durchweg mit Katholiken besetzt worden waren: Kammerrichter, Präsidenten und Kanzlei. Die seit 1576 geäußerte, auf den Augsburger Reichsabschied von 1555 gestützte Bitte, auch Protestanten für diese Posten zu ernennen, spitzte sich unter kurpfälzischer Federführung seit den frühen achtziger Jahren zur Forderung nach strikter Konfessionsparität zu. Kaiser und katholische Stände wiesen diese Forderungen von Anfang an entschieden zurück. Begründet wurde die Ablehnung zum einen mit den kaiserlichen iura maiestatis, zum anderen ganz legalistisch mit der Kammergerichtsordnung von 1555, wonach die Ernennung von Kammerrichter und Präsidenten allein dem Kaiser zustand, die Besetzung der Kanzlei allein dem Reichserzkanzler. Weder dem einen noch dem anderen dürfe man deshalb Vorschriften bezüglich der Religionszugehörigkeit der ernannten Personen machen. Auch aus dem Augsburger Reichsabschied von 1555 könne man keinen derartigen Zwang ableiten. Vor allem verbarg sich in der Forderung, das Kammerrichteramt auf dem Wege der Alternation konfessionsparitätisch zu besetzen, eine Zumutung an das kaiserliche Selbstverständnis. Denn der Kammerrichter repräsentierte dort den Kaiser, hatte den Gerichtsvorsitz an seiner Statt. Die abwechselnde Bestellung von evangelischen und katholischen Kammerrichtern hätte aber dem Kaiser eine konfessionsneutrale, überparteiliche Rolle zugeteilt mit unvorhersehbaren und aus katholischer Sicht präjudizierenden Konsequenzen für die Interpretation des kaiserlichen Amtes und überhaupt der ganzen Reichsverfassung.

Bei der Forderung nach konfessionsparitätischer Besetzung der Direktorial- und Kanzleipersonen ging es den Protestanten nicht nur um die Durchsetzung eines abstrakten Gleichheitsprinzips, sondern dahinter stand auch der Verdacht, diese Funktionsträger, obwohl mit der Rechtsprechung nicht befaßt, trügen im Rahmen ihrer Amtspflichten dennoch zur Parteilichkeit des Gerichts in Religionsprozessen bei. Sicherheitsbedürfnis und Verfassungsanspruch gingen also Hand in Hand.

Die Forderung durchgehender Religionsparität wurde dann 1612 und 1613 auch auf die gesamte Assessorengruppe ausgedehnt. Auf dem Rothenburger Unionstag von 1613 stellten die von Kurpfalz angeführten Mitglieder der Union bereits umständliche Überlegungen an, wie die zahlenmäßige Religionsgleichheit sämtlicher RKG-Beisitzer in der Praxis hergestellt werden könne, da das seit 1521 gültige Präsentationssystem angesichts der Mehrheitsverhältnisse unter den Reichsständen immer auch eine katholische Mehrheit der Beisitzer produzierte. Als eine Möglichkeit, zum erwünschten Ziel zu kommen, wurde ins Auge gefaßt, daß für eine gewisse Zeit bei allen eintretenden Vakanzen immer nur protestantische Juristen zu Assessoren präsentiert werden sollten. Die Präsentation "papistischer" Beisitzer dagegen sollte so lange eingestellt werden, bis im Kameralkollegium Religionsgleichheit erreicht sei. Danach war dann bei Erledigung eines Assessorats immer nur ein Kandidat jener Religion zu benennen, die der verstorbene Beisitzer gehabt hatte. [6] Dieses Projekt mutete den katholischen Ständen zu, je nach Bedarf auch evangelische Juristen zu präsentieren. Tatsächlich sollten die Protestanten diese "Lösung" 1634/35 bei den Pirnaer und Prager Friedensverhandlungen offiziell vorschlagen - ohne jeden Erfolg.

Im Streit um die durchgängige Religionsparität des Kameralpersonals trafen schon vor dem Dreißigjährigen Krieg die katholische und die protestantische Konzeption vom Charakter der Reichsverfassung unversöhnlich aufeinander. Die Protestanten empfanden 1613 die Ablehnung ihrer Paritätsforderungen und das Festhalten der katholischen Stände am Mehrheitsprinzip als ein unerträgliches Joch. Die Gegenseite wiederum sah damals "der catholischen religion das messer an die gurgel gesezt, weil die protestirnde sambtlich und entlich entschlossen, den religionfriden auf ir weis zu erweitern [...], am cammergericht und reichstägen paritatem votorum neben der freistellung mit gewalt und aufs eusserist hindurchzutringen." [7]

Mit derselben Unversöhnlichkeit und Verbitterung wurde am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges um das andere oberste Gericht im Reich, den kaiserlichen Reichshofrat, gerungen, dessen Religionsprozesse den Protestanten zunehmend gefährlich wurden. Neben seiner katholischen Besetzung und seiner Einbindung in das politische System des kaiserlichen Hofes beklagten die Protestanten vor allem, daß der RHR in Streitsachen prozessierte, für die nach den Reichsgesetzen und vor allem der Kammergerichtsordnung nur das RKG zuständig war, und dazu gehörten nach protestantischem Verständnis gerade auch die Religionssachen. Tatsächlich war ja die Zuständigkeit des RHR bisher nirgendwo fixiert. Aus dem ganzen Beschwerdekomplex schälten sich in den Jahren vor und nach 1600 parallel zur allgemeinen Verhärtung der Fronten zwei Hauptforderungen der protestantischen Stände heraus: stärkere Berücksichtigung von Protestanten bei der Besetzung des RHR und Beseitigung seiner Jurisdiktion, soweit diese mit dem RKG konkurrierte. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert trat die von Kurpfalz angeführte protestantische Aktionspartei immer deutlicher mit einer These hervor, die sie dann auf dem Regensburger Reichstag 1613 mit aller Schärfe vortrug: Das RKG sei das einzige höchste Gericht im Reich, dem RHR komme eine gleiche Position nicht zu. Dabei betonten die protestantischen Stände, daß sie mit ihrem Einspruch keineswegs die kaiserliche Jurisdiktion an sich bezweifeln wollten, denn diese werde - abgesehen von gewissen, dem RHR reservierten Fällen - am RKG unter Namen und Siegel des Kaisers ausgeübt. All diese Thesen drängten den RHR an den Rand der Reichsjustiz. Im Kampf gegen die religionsrechtliche Judikatur des RHR versuchte die protestantische Aktionspartei, eine Verfassungsentwicklung rückgängig zu machen, von der der Kaiser die Stände ganz bewußt ausgeschlossen hatte: die Errichtung des rein monarchisch geprägten RHR als Gegengewicht gegen das überwiegend ständische RKG. Der Geist der Reichsreformzeit wird wieder spürbar.

Seit dem ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts wurde von den Protagonisten im protestantischen Lager auch die paritätische Besetzung des RHR anvisiert. Auf dem erwähnten Rothenburger Unionstag machten sich sämtliche Mitglieder der Union diese Forderung zu eigen. Ein Justizausschuß schlug sogar vor, auch für den RHR die reichsständische Präsentation anzustreben. Das hieß, die dualistische Verfassungskonstruktion des RKG auf den RHR zu übertragen, diese Bastion monarchischer Gewalt. Der Pfälzer Kurfürst verband den Plan zur paritätischen Besetzung des RHR-Kollegiums schon 1608 und nochmals 1611 mit noch radikaleren Zielen: Nicht nur der RHR, auch der kaiserliche Geheime Rat sollte paritätisch besetzt werden. Die protestantische Verfassungskonzeption von der strikten Gleichberechtigung der beiden Konfessionen im Reich wäre damit in die Schaltzentrale kaiserlicher Macht hineingetragen worden. Auf dem Regensburger Reichstag wurde die Forderung nach Religionsgleichheit im RHR dann aber doch wieder zurückgezogen, um wenigstens andere Ziele wie die durchgängige Parität des RKG zu erreichen. So sehr die protestantische Aktionspartei die paritätische Besetzung des RHR auch wünschte - anders als im Fall des ohnehin stark ständisch geprägten RKG bestanden damals noch gewisse Hemmungen, beim Kaiser auf Religionsgleichheit im RHR und sogar auf ständische Präsentationsberechtigung zu dringen, "da der Hofrat für des Kaisers und nicht des Reiches Rat gehalten wird." [8]

So wie die Protestanten einen mit lauter katholischen Zeloten besetzten RHR fürchteten, pflegten die katholischen Stände ihre nicht minder wahnhafte Sorge vor einem paritätisch besetzten RHR. Schon die damalige Minderheit von Protestanten im RHR wurde 1613 als Unheil angesehen. In einem Gutachten für den Kaiser vom Frühjahr 1614 hielt der bayerische Rat Wilhelm Jocher die damaligen Forderungen der protestantischen Aktionspartei für "also qualificiert, das nicht allein die catho [lischen] dardurch gahr extirpiert, sonder alle vorgehende reichssatzung, ja des röm. kaysers ambt und hochait in effectu aufgehebt wurde. Dann wann der röm. kayser ausserhalb aines oder andern fahl khain jurisdiction, authoritet oder macht hat [...], so werden sie in effectu baldt die oberhandt im Röm. Reich und mehr gwalt als der kaiser selbst bekhommen; das Reich und gericht irem gefallen nach dirigiern; und wan sie die übrigen geistliche güeter alle an sich gezogen, die catho. allenthalben rechtloß gelassen und undertruckht sein, alsdan wol einen erwinschten fridt erlangen." [9] Gegensätzlicher konnten die Konzeptionen von einer friedenstiftenden oder aber kriegverursachenden Reichs- und Religionsverfassung nicht sein. Erst wenn man bedenkt, mit welcher Erbitterung am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges in dieser gravierenden Verfassungs- und Vertrauenskrise die eigenen Positionen verteidigt, die gegnerischen verteufelt wurden, kann man die Lösungen würdigen, die der Westfälische Friedenskongreß schließlich für diese Verfassungsproblematik fand.

In den ersten beiden Phasen des Dreißigjährigen Krieges brachten die Siege der kaiserlich-ligistischen Heere alle protestantischen Forderungen nach einer Umgestaltung der Reichs- und Religionsverfassung und damit auch der Reichsjustiz zum Schweigen. Erst der Siegeszug Schwedens ermöglichte es den evangelischen Reichsständen in den frühen dreißiger Jahren, wieder auf ihre alten Konzepte zurückzugreifen. Die seit 1631 von Hessen-Kassel projektierte Verfassungskonzeption atmete sogar noch einen weitaus radikaleren Geist. Sie sah unter anderem vor: Wahl des Kaisers nur durch evangelische Stände; Einstellung der gesamten Prozeßtätigkeit des RHR; Reichsstände dürften nur noch vor das RKG gezogen werden; "umb mehrer versicherung willen" sollte das RKG durchweg mit "evangelischen hauptern und beisitzern" besetzt werden, wobei den präsentationsberechtigten katholischen Reichsständen auferlegt werden sollte, nur Protestanten zu Beisitzern vorzuschlagen; Streitfälle, die bisher in die ausschließliche Zuständigkeit des kaiserlichen Hofes gefallen seien (Lehenssachen etc.), sollten zukünftig nicht mehr allein vor den Kaiser, sondern zugleich vor sämtliche Reichsstände gehören und dort erörtert werden. [10] In letzter Konsequenz lief dieses Programm, welches das von den Protestanten so heftig bekämpfte Prinzip der Ungleichheit unter umgekehrtem Vorzeichen zementierte, auf eine protestantisch geprägte Reichsjustiz in einem protestantisch dominierten Reich hinaus. Aber die verheerende Niederlage der Schweden in der Schlacht bei Nördlingen (September 1634) und die Rückeroberung ganz Süddeutschlands durch den Kaiser führten dazu, daß bei den Pirnaer und Prager Friedensverhandlungen 1634/35 selbst vergleichsweise maßvolle Forderungen - Kursachsen verlangte paritätische Besetzung von RKG und RHR und brachte das Problem der RHR-Jurisdiktion zur Sprache - kein Gehör fanden. Zu einer grundlegenden Neugestaltung der Gerichts- und überhaupt der Reichs- und Religionsverfassung auf der Basis der Gleichberechtigung beider Konfessionen war zur Zeit des Prager Friedens trotz mancher Annäherungen die Zeit noch nicht reif. Noch unmittelbar vor der Eröffnung des Friedenskongresses, auf dem Frankfurter Deputationstag 1643 bis 1645, der eigens für die Abstellung von Mängeln im Justizwesen einberufen worden war, gelang es den protestantischen Deputierten nicht, eine Bresche in die Abwehrfront der katholischen Mehrheit zu schlagen. Die Unbeweglichkeit beider Seiten zeigte vielmehr, daß die Fragen der Religionsgleichheit in den Reichsgerichten, der religionsrechtlichen Judikatur des RHR und andere verfassungspolitische Aspekte der Reichsjustiz nur im Rahmen einer umfassenden Revision der Reichs- und Religionsverfassung zu lösen waren - sowie nur unter dem Druck der kriegsbeteiligten europäischen Mächte.

Auf dem Westfälischen Friedenskongreß in Münster und Osnabrück bildete der Justizpunkt zweieinhalb Jahre lang ein heiß umstrittenes Thema. In ihren im Dezember 1645 vorgelegten "Gravamina Evangelicorum" wiesen die Protestanten - die machtpolitisch-europäischen Kriegsgründe aus taktischen Gründen ganz ausblendend - nochmals darauf hin, daß die von ihnen schon so lange vorgebrachten und bisher unerledigt gebliebenen Justizbeschwerden eine Hauptursache für Zerrüttung und Krieg im Reich und ein Haupthindernis für den Frieden gewesen seien. Dann traten die evangelischen Stände mit einem Programm zur Reform der Reichsjustiz hervor, das an Radikalität alle früheren Projekte weit übertraf. Neben dem RKG und dem RHR sollten zwei weitere oberste Reichsgerichte eingesetzt werden. Die Vermehrung wurde ganz praktisch und scheinbar harmlos begründet: mit der Entlastung der beiden bisherigen höchsten Gerichte, mit der Verkürzung der Reisewege und Senkung der Reisekosten für Prozeßparteien und Kammerboten. Der verfassungs- und religionspolitische Sprengstoff war jedoch unübersehbar: Die nunmehr vier Gerichte sollten "als kayserliche und des Reichs [!] höchste Gerichte und Universalia dicasteria" [11] an Jurisdiktion, Macht und Würde völlig gleichrangig sein. Jedem von ihnen wurde ein Gerichtssprengel zugewiesen, in dem es konkurrenzlos zuständig war. Und zwar wurde der RHR auf den Österreichischen und den Bayerischen Kreis, das RKG auf die beiden Rheinischen Kreise sowie den Burgundischen Kreis beschränkt. Von den beiden neuzuschaffenden Gerichten wurden dem einen die beiden Sächsischen Kreise sowie der Westfälische Kreis, dem anderen der Fränkische und der Schwäbische Kreis zugeordnet. Gesetzliche Grundlage aller vier Gerichte sollte die Kammergerichtsordnung samt ihren Ergänzungsgesetzen sein. Die eigentlichen Richter sollten aus den Reichskreisen rekrutiert und von den Reichsständen dieser Kreise präsentiert und besoldet werden. An allen vier Gerichten waren sämtliche Ämter mit Evangelischen und Katholiken in gleicher Anzahl zu besetzen. In Zweifelsfällen oder bei Stimmengleichheit zwischen den Richtern beider Religionsteile sollte die Sache zur gütlichen Vergleichung auf den Reichstag verwiesen werden. Zur Begründung dieser durchgängigen Religionsgleichheit fanden die protestantischen Stände programmatische Worte mit Grundrechtscharakter: Sie sei der höchsten Not, der Vernunft, der natürlichen Billigkeit und dem Völkerrecht gemäß, sei stabilisierender Zusammenhalt in einer freien "Respublica". Die Evangelischen partizipieren mit gleichem Recht wie die Katholiken an den Rechten des Staatswesens, sie seien alle, die Höchsten wie die Niedrigsten, gleichberechtigte Mitglieder des einen Reiches ("aequalia membra unius Imperii"). Diese "aequitas" erfordere, daß die Evangelischen wie die Katholiken gleichberechtigt zu den Ämtern des Staatswesens zugelassen würden. [12] Das waren Prinzipien, die der bisherigen katholischen Interpretation vom Wesen des Reiches diametral entgegenstanden. Vor allem aber wurde durch dieses Projekt die Position des Kaisers und mit ihr die des RHR schwer getroffen. Zwar sollten an den nunmehr vier höchsten und gleichen Gerichten alle Zitationen, Mandate und Dekrete im Namen und unter dem Siegel des Kaisers ausgehen (so wie bisher schon an RKG und RHR). Aber trotz solcher Reservate wurde der Kaiser aus dieser neuen Gerichtsverfassung doch weitgehend verdrängt. Vor allem wurde der RHR seines bisherigen Charakters als Bollwerk ausschließlich monarchischer Rechte entkleidet und statt dessen den ständischen Prinzipien der Reichsreformzeit unterworfen. Zugleich war durch seine Beschränkung auf einen rein katholischen Gerichtssprengel im Südosten des Reiches das Problem der bisher den protestantischen Ständen so gefährlichen, weil im ganzen Reich mit dem RKG konkurrierenden religionsrechtlichen Jurisdiktion des RHR mit einem Schlag behoben. Es war ganz wesentlich ein konfessionsparitätisches, ständisch-aristokratisches, dezentrales Reich mit schwacher kaiserlicher Gewalt, das sich in diesem protestantischen Projekt einer Justizreform spiegelte. Die Handschrift Hessen-Kassels und Braunschweig-Lüneburgs - Protagonisten einer einschneidenden Verfassungsrevision - ist unverkennbar. Angesichts der geschlossenen Abwehrfront der kaiserlichen und katholischen Kongreßgesandten nahm die evangelische Seite zwar im Juni 1646 an ihrem von Schweden und Frankreich unterstützten Justizreformprojekt eine Reduktion vor. Nunmehr sollte nur noch ein weiteres Reichsgericht aufgerichtet werden, und zwar für die beiden Sächsischen Kreise und den Westfälischen Kreis. Im übrigen galten aber alle Prinzipien des älteren viergliedrigen Modells. Der Widerstand der Gegenseite blieb denn auch ungebrochen. Aus kaiserlicher Sicht lief der neue ebenso wie der ursprüngliche Entwurf zwangsläufig auf einen Umsturz der gesamten Reichsverfassung ("ad eversionem formae totius Reipublicae") hinaus. [13] Aber im evangelischen Lager bröckelte seit dem Sommer 1646 die Front, vor allem kaisertreue Stände distanzierten sich zunehmend von dem Projekt, allen voran Kursachsen. Auch Kurbrandenburg, das sich durch die schwedischen Territorialansprüche um die pommersche Erbschaft gebracht sah und auf dem Weg über schwedische Präsentationsrechte (wegen Pommern, Bremen, Verden) die Übermacht Schwedens in dem geplanten dritten Gericht fürchtete, verhielt sich ablehnend. Dem kurbrandenburgischen Gesandten in Osnabrück schien es gar, "als gehe man damit um, das Reich in drei Theile zu theilen, als ein Theil dem Römischen Kaiser mit dem Reichshofrath und anhängenden Kreisen, den anderen Theil aber des Kammergerichts zu Speyer den Franzosen, und das dritte ihnen selbst, der Kron Schweden, zuzueignen." [14]

Angesichts all dieser Widerstände auch im eigenen Lager und auf Grund schwedischer Sonderinteressen ließen die Protestanten um die Jahreswende 1646/47 ihr Projekt einer dreigeteilten Reichsjustiz fallen und operierten von nun an wieder im Rahmen der herkömmlichen zweigliedrigen Gerichtsverfassung. Diese Kehrtwende vollzogen sie jedoch nur unter bestimmten Bedingungen: Diese liefen für das RKG zur Verbesserung seiner Funktionsfähigkeit auf die Vermehrung der Assessorate hinaus, die - ebenso wie die Kanzlei - strikt religionsparitätisch besetzt werden sollten. Die Präsidenten ernannte weiterhin der Kaiser, aber ebenfalls in gleicher Anzahl aus beiden Religionen. Die Abschaffung des Kammerrichteramts wurde nahegelegt, später aber wieder fallengelassen zugunsten der Alternation. Dem RHR sollte nach dem Willen der Protestanten die Zuständigkeit in Religionssachen genommen werden, im übrigen blieb ihm die Konkurrenz mit dem RKG. Der RHR war ebenfalls religionsparitätisch zu besetzen, und zwar durch Präsentation von und aus den Reichskreisen. Auch für den RHR wurde eine (mehrheitlich ständische) ordentliche Visitation und Revision verordnet, wie sie am RKG eingeführt war. Zweifelsfälle sollten von beiden Gerichten an den Reichstag verwiesen werden. Diese auf ältere Konzepte zurückgreifenden, von Schweden unterstützten Forderungen waren, gemessen an der damaligen kaiserlich-katholischen Position, immer noch radikal genug, vor allem im Hinblick auf den RHR, der nach diesen Plänen zu einem ständischen Gericht gemacht worden wäre.

Von nun an wurde unter diesen neuen Prämissen bis zum Frühjahr 1648 über ein Jahr lang zäh um den Justizpunkt gerungen, vor allem um das RKG. Das Ergebnis dieses Tauziehens war schließlich ein Kompromiß, der allerdings für RKG und RHR sehr unterschiedlich ausfiel. Auf dem Friedenskongreß hatte der evangelische Religionsteil schließlich erreicht, daß das so lange umstrittene Prinzip der "aequalitas exacta mutuaque" (IPO V, § 1), der genauen und gegenseitigen Gleichheit zwischen beiden Konfessionen, nunmehr zum konstitutiven Bauelement der Reichsverfassung wurde. Nach langem Kampf um Quotenanteile konnten die Protestanten durchsetzen, daß dieses Prinzip auch dem Präsentationssystem zur Besetzung der - auf 50 erhöhten - RKG-Assessorate zugrunde gelegt wurde, jedoch mit einer bezeichnenden Ausnahme. In der Schlußphase der Verhandlungen mußte die protestantische Seite schließlich dem Kaiser zu Ehren und zur Bezeugung ihres Friedenswillens konzedieren, daß die beiden kaiserlichen Assessorate von der Paritätsregelung ausgenommen wurden. Der Grundsatz der numerischen Parität sollte nur für diejenigen 48 RKG-Beisitzer (24:24) gelten, die von den Reichsständen präsentiert wurden. Zur Verwirklichung dieser Vorgaben fanden die Friedensunterhändler schließlich eine Lösung, die nach den vorausgegangenen Irrwegen geradezu genial erscheint. Durchaus in Analogie zu der Aufgliederung des Reichstags in ein Corpus Catholicorum und ein Corpus Evangelicorum traten nun anstelle des bisherigen einen Präsentationsschemas zwei nach Konfessionen getrennte Schemata. Entsprechend ihrem damaligen Konfessionsstand wurden Kurfürsten und Reichskreise (für die gemischten Reichskreise fand man eine komplizierte Lösung) dem einen oder anderen Schema zugewiesen. Der Konfessionscharakter der einzelnen Assessorate wurde dadurch reichsgesetzlich genau festgelegt. Die beiden kaiserlichen Vorschlagsrechte waren in das katholische Präsentationsschema integriert und gaben diesem mit zwei Assessoraten ein leichtes Übergewicht gegenüber dem evangelischen (26:24). Die innere Ausgestaltung der beiden Präsentationsschemata wurde den Konfessionsparteien als interne Angelegenheit überlassen. Dabei mußten sich die Protestanten einiger Kunstgriffe bedienen, damit sie ihre 24 Präsentationsberechtigungen zusammenbekamen. Mit dieser konsequenten Anwendung des Grundsatzes strikter Gleichbehandlung und Trennung sowie gegenseitiger Nichteinmischung leistete der Friedenskongreß in einem nur scheinbar zweitrangigen Bereich einen bedeutsamen Beitrag zur Konfliktregelung. Die Friedensunterhändler maßen ihm denn auch, wie die eingangs zitierten Lobesworte zeigen, allergrößte Bedeutung bei. Fast unnötig zu sagen, daß das Westfälische Friedensinstrument auch nähere Bestimmungen traf für diejenigen Fälle, in denen die Senate des RKG paritätisch besetzt werden sollten. Das RKG ging in der Folge noch darüber hinaus und achtete in allen Rechtsfällen durchgängig auf Religionsgleichheit der Senate und Referenten. Einen ähnlichen Ausgleich zwischen kaiserlichen Sonderrechten und protestantisch-ständischen Positionsgewinnen fand man 1648 für die Direktorialämter des RKG. Die nunmehr vier Präsidentenstellen, die weiterhin der Kaiser besetzte, wurden ebenfalls der Paritätsarithmetik (2:2) unterworfen. Aber das für den Kaiser aus verfassungspolitischen Gründen weitaus bedeutsamere Amt des Kammerrichters blieb dem Zugriff der protestantischen Stände ebenso entzogen wie die kaiserlichen Assessorate, denn - so der im Februar 1648 von den kaiserlichen Gesandten gegenüber den schwedischen Unterhändlern aufgestellte Grundsatz: "cujus Religionis sit Imperator, ejus et debeat esse Judex" - der Kammerrichter als Inkarnation kaiserlicher Autorität und Gerichtshoheit am RKG müsse derselben Religion angehören wie der Kaiser. [15] Wie sich auf dem nächsten Reichstag zeigte, ließ sich auch Kurmainz in die Besetzung der RKG-Kanzlei nicht hineinreden.

Das Gericht im engeren Sinne jedoch, das Kameralkollegium des RKG mit Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren, war seit dem Westfälischen Frieden sowohl durch seine Öffnung für die neue Grundnorm der aequalitas exacta mutuaque als auch durch die Respektierung des kaiserlichen Selbstverständnisses aufs neue ein Spiegel des modifizierten Reichssystems. Der ältere politisch-verfassungsrechtliche Dualismus von Kaiser und Reichsständen und der jüngere Dualismus der Konfessionen wurden seit 1648 im Kameralkollegium auf geradezu idealtypische Weise ausbalanciert und abgebildet. Reichsverfassung, Religionsverfassung und Gerichtsverfassung waren hier endlich wieder zur Deckung gelangt.

Für den RHR konnten die protestantischen Stände dagegen die ebenfalls seit langem geforderte Religionsgleichheit sämtlicher Reichshofräte nicht durchsetzen und schon gar nicht die Besetzung des RHR auf dem Wege reichsständischer Präsentation. Der Kaiser versprach zwar, einige evangelische Juristen für den RHR zu rekrutieren, ließ sich aber auf eine genaue Zahl nicht festlegen (die neue RHR-Ordnung, die von 18 Reichshofräten sechs evangelische vorsah, erließ der Kaiser 1654 aus eigener Machtvollkommenheit). Immerhin sollten die wenigen evangelischen Reichshofräte garantieren, daß bei der Erörterung und Entscheidung von geistlichen und weltlichen Rechtssachen, die zwischen Parteien verschiedener Konfession strittig waren, eine paritätische Anzahl von Reichshofräten aus beiden Bekenntnissen herangezogen werden konnte. Auch im Ringen um die mit dem RKG konkurrierende Jurisdiktion des RHR, die die Protestanten vor allem in Religionssachen sechs Jahrzehnte lang bekämpft hatten, blieb der Kaiser auf dem Friedenskongreß Sieger. Dabei konnten die Protestanten diesen Sieg allerdings angesichts der erwähnten verfahrensparitätischen Regelungen für alle irgendwie konfessionsrelevanten RHR-Prozesse hinnehmen.

Insgesamt war dieses ganze Regelwerk, auf das sich die Unterhändler als Teil des Friedensinstruments (IPO V, §§ 53-57) am 3. März 1648 endlich einigten, von dem geradezu revolutionären Projekt einer Reichsjustizreform, wie es die Protestanten in der ersten Kongreßphase vorgelegt hatten, meilenweit entfernt. Der "punctus iustitiae" bewahrte - wie der gesamte Westfälische Frieden überhaupt - die politisch-verfassungsrechtlichen Grundstrukturen des Reiches und der darauf aufbauenden Gerichtsverfassung, wie sie sich als Ergebnis der spätmittelalterlichen Verfassungsentwicklung seit etwa 1500 herausgebildet und im 16. Jahrhundert stabilisiert hatten. Aber innerhalb dieser traditionellen Strukturen zogen die Gerichtsreformen die Konsequenzen aus der konfessionell bedingten Zerrüttung der Reichsjustiz, die die Krise der Reichs- und Religionsverfassung am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges ganz wesentlich mitverursacht hatte. Die Friedensunterhändler in Münster und Osnabrück vollbrachten mit der Regelung des Justizpunkts im Rahmen des Möglichen eine bemerkenswerte Anpassungsleistung. Für sich allein genommen hätten gerichtsorganisatorische Neuerungen wie paritätische Besetzung oder zumindest paritätische Abstimmungsverfahren allerdings schwerlich pazifizierend wirken und das Vertrauen in die konfessionelle Unparteilichkeit der Reichsjustiz nicht wiederherstellen können. So wichtig sie für die Protestanten als Ausdruck ihrer Verfassungsdeutung und als vertrauensbildende Maßnahme waren, sie konnten nur greifen im Verein mit einer gleichzeitigen Reform der materiellen Rechtsgrundlagen für künftige Religionsprozesse. Indem Kaiser und Reichsstände auf dem Westfälischen Friedenskongreß die Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten des Augsburger Religionsfriedens beseitigten und die verbleibenden Lücken auf der Basis einer genauen und gegenseitigen Gleichheit zwischen den Religionsparteien schlossen, überwanden sie die konfessionell bedingte Spaltung des Rechts und beseitigten damit die tiefere Ursache für die durch Glaubensspaltung und Konfessionalisierung ausgelöste Vertrauenskrise der Reichsjustiz. Die beiden obersten Gerichte im Reich und vor allem das RKG waren auch nach dem großen Friedensschluß mit zum Teil schwerwiegenden Problemen beladen. Aber es waren nicht mehr die friedensbedrohenden Konflikte des konfessionellen Zeitalters.



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ANMERKUNGEN


1. Aus Platzgründen werden nur wörtliche Zitate belegt. Dem Aufsatz liegen vor allem folgende Quelleneditionen und Darstellungen zugrunde:

APW; Ritter 1870ff., Tl. II, VIII; Bezold 1882ff.; Lehmann 1707; Londorp 1668, I; Meiern 1734ff.; Meiern 1738ff; Schmauß/Senckenberg 1967; Sellert 1980ff.; Dickmann 1992 und 1977; Duchhardt 1978; Gschließer 1970; Heckel 1983, 1989 und 1991; Jahns 1999; Ritter 1880; Rabe 1976; Ruppert 1979; Ruthmann 1996; Smend 1965; Stolleis 1988; Weber 1961.

2. Meiern 1734ff., V, S. 498.

3. Heckel 1991, S. 290.

4. Heckel 1991, S. 314; vgl. auch Heckel 1983, S. 44.

5. Dickmann 1977, S. 231.

6. Ritter 1870ff., XI, 1909, S. 323ff., bes. S. 325.

7. Ritter 1870ff., XI, 1909, S. 21.

8. Ritter 1870ff., XI, 1909, S. 320.

9. Ritter 1870ff., XII, 1978, S. 386.

10. Irmer 1888, I, S. 125ff., bes. S. 129.

11. Meiern 1734ff., II, S. 534.

12. Meiern 1734ff., II, S. 535.

13. Meiern 1734ff., III, S. 713.

14. Erdmannsdörffer 1867, II, S. 454f.

15. Meiern 1734ff., V, S. 482.



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