Forschungsstelle "Westfälischer Friede": Dokumentation

DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa

Textbände > Bd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft

GEORG SCHMIDT
Der Westfälische Friede als Grundgesetz des komplementären Reichsstaats

Der Westfälische Friedenskongreß in Münster und Osnabrück gehört zu den Ereignissen, denen das kulturelle Gedächtnis einen eher bescheidenen Platz auf der imaginären Skala deutscher Erinnerungsorte einräumt. Der Öffentlichkeit gilt er noch immer als Symbol machtpolitischer Schwäche und Zersplitterung, nicht als das hoffnungsverheißende Ende eines langen und zerstörerischen Krieges [1] und schon gar nicht als ein zäh verteidigtes Grundgesetz, das die deutsche Staatlichkeit weit länger als alle nachfolgenden Verfassungsordnungen geprägt hat. Das negative Image des Westfälischen Friedens entspringt den Vorstellungswelten des souveränen nationalen Machtstaats - mithin dem 19. Jahrhundert. Die Zeit scheint reif, diese Einschätzungen im Lichte offenerer Integrationsmodelle zu prüfen. Gefragt wird deswegen nach den Inhalten eines Vertrages, dessen Entstehen zwar Diplomaten fast aller europäischen Länder miterlebten, dessen Regelungen sich jedoch weit überwiegend auf Deutschland bezogen.

Der Friede war inständig herbeigesehnt worden, und er wurde gefeiert - ad hoc, auf landesherrliche Verordnung, jährlich wiederkehrend. [2] Der Vertrag mit seinen Bestimmungen über Amnestie und Entschädigungen, Verfassungsstrukturen und Konfessionsverhältnisse schrieb eine für das Reich dauerhaft geltende Ordnung fest. [3] Er wurde Teil des folgenden Reichsabschieds und der Wahlkapitulationen. [4] Der Friede galt überall dort als Grundgesetz ("perpetua lex et pragmatica imperii sanctio" [5]), wo der Kaiser mit seinen Vorrechten und als Symbol der Reichseinheit anerkannt wurde, wo die Reichsgerichte wirkten und wo die Reichsstände ihre Zugehörigkeit dadurch dokumentierten, daß sie sich an Reichs- und Kreistagen wie an den Reichssteuern beteiligten. Dieses engere, politisch zusammenarbeitende Reich ist deutlich kleiner als der fortbestehende Lehnsverband des mittelalterlichen Reiches. Es ähnelt in seinen Konturen dem heutigen Deutschland. Oberitalien, die Eidgenossen, die Niederlande und weite Teil des burgundischen Reichskreises zählten nicht zu dieser formierten Handlungseinheit, die erst mit der Konfessionalisierung Niederdeutschland flächendeckend integriert hatte. [6] Böhmen und seine Nebenländer standen eher am Rande, auch wenn sie über die Habsburger mit der Reichspolitik eng verflochten waren. [7]

Um das engere "deutsche" Reich als ein konzentriertes Verfassungsgefüge mit dem Reichstag als Zentrum vom locker geknüpften Lehnsverband "Reich" abzusetzen, um komplizierte Umschreibungen zu vermeiden und um dessen föderal organisierte Gesamtstaatlichkeit anzudeuten, wird hier der Begriff "komplementärer Reichs-Staat" eingeführt. Er kennzeichnet in gewisser Weise den gleichen Sachverhalt wie Peter Moraws "Reichstags-Deutschland", bringt aber stärker den neuzeitlichen Aspekt staatlicher Formierung und Konzentration zum Ausdruck. Im Unterschied zu allen Anspruchs- und Expansionsvorstellungen, die in der gängigen Bezeichnung "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" oder dem auch in den Quellen nach 1648 immer häufiger anzutreffenden "Deutschen Reich" mitschwingen, werden derartige ungewollte Assoziationen mit dem Terminus "Reichs-Staat" vermieden. Der Zusatz "komplementär" verdeutlicht, daß es sich dabei um ein System gestufter, sich ergänzender Staatlichkeit handelt - auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Reichweiten. Kaiser, Reichsstände, Korporationen, Kreise und Bündnisse konnten und haben sich zu zielgerichteter Handlungsfähigkeit ergänzt. Es ist die wechselseitige Abhängigkeit von Haupt und Gliedern, die verfassungsmäßig geregelte Staatlichkeit, die als "komplementärer Reichs-Staat" neu akzentuiert werden soll.

Der Westfälische Frieden hat dieses engere Reich nicht zertrümmert, sondern seine föderale Einheit neu bestätigt. [8] Deutsche und ausländische Zeitgenossen haben diese auf Verfassung und nicht auf Macht basierende Staatlichkeit selten generell in Frage gestellt. Sie versuchten, ihre Besonderheiten zu begreifen - auch bereits mit dem in Analogie zum Fürstenstaat gebildeten Terminus "Reichs-Staat". "Reichs-Staat oder Reichs-Staats-Verfassung, Status Imperii Romano-Germanici Publicus, ist eigentlich nichts anders, als die Verhältniß des darzu gehörigen Ober-Haupts und Glieder, das ist, Sr. Kayserlichen Majestät und sämtlichen Churfürsten, Fürsten und Stände, gegen und unter einander [...]" [9] Freilich war diese Staatlichkeit weder exklusiv noch allumfassend, sondern bezog sich nur auf Belange, die von Kaiser und Reich einvernehmlich geregelt werden mußten: Fragen des Rechts, des inneren Friedens und der Außenverteidigung.

Das Grundgesetz Westfälischer Friede bot dafür eine neue Verankerung. Es regelte die Beziehungen zwischen Kaiser und Reichsständen, Amnestie und Entschädigungen sowie den Umgang mit den drei reichsrechtlich legitimierten Konfessionen. Vor 1800 gehörte der Friede als Fundament deutscher Staatlichkeit zum Zentralbestand des kulturellen Gedächtnisses - auch wenn er nur in den evangelischen Gebieten mit Friedensfesten gewürdigt wurde. Johann Gottfried von Meiern, der zwischen 1734 und 1736 die Kongreßakten herausgab, urteilte: "So große Ursachen nun das gesamte Deutsche Reich und Vaterland hat, diesen Frieden-Schluß, wordurch die Religion und der Staat in demselben, zu einer beständigen Ordnung, Sicherheit und Ruhe ist erhaben worden, als ein Göttliches Gnaden-Geschenck zu verehren, auch selbigen als das heiligste Gesetz und Grund-Veste seiner äusserlichen Glückseeligkeit anzusehen, so gegründet ist auch die Pflicht und Schuldigkeit eines jeden patriotisch gesinneten Deutschen, den Zweck seiner Wünsche darinnen bestehen zu lassen, daß nie ein Tüttel oder Buchstabe von diesem herrlichen Gesetz vergehen [...]" möge. [10] Für Johann Jacob Schmauß war der Friede "das Band, wodurch die Ruhe des teutschen Reichs und die Freundschaft zwischen Catholischen und Protestanten aufrecht erhalten wird." [11]

Bei den Beratungen über die kaiserlichen Wahlkapitulationen oder den Verhandlungen in den einzelnen Kurien des Regensburger Reichstags bildete das Reichsgrundgesetz Westfälischer Friede die alles entscheidende Richtschnur. Ein anonymer deutscher Patriot, der 1789 die "deutsche Freiheit" mit der "ganze(n) deutsche(n) Nation" mit "alle(n) Theile(n), Glieder(n) und Stände(n)" identifizierte, urteilte allerdings zu euphorisch: "Seit jener glücklichen Epoche des Westphälischen Friedens, wo dieses heilsame, halb monarchische und halb aristokratische Regierungssystem gegründet wurde, haben die blutigen Auftritte unter Deutschlands Kaisern und Fürsten aufgehört; von jener Zeit an herrscht allgemeine Sicherheit, Ruhe und Frieden im Vaterlande: und die gedeihlichsten Folgen davon, als Bevölkerung, Industrie, Kultur, Aufklärung etc. sind aller Orten sichtbar." [12] Friedrich Schiller hielt den Frieden von 1648 für "das interessanteste und charaktervollste Werk der menschlichen Weisheit und Leidenschaft [...]". [13] So wie diese Autoren empfanden Literaten, Akademiker und Fürsten, denen das deutsche Verfassungsgefüge trotz seiner offensichtlichen Mängel als eine im großen und ganzen glückliche, harmonische, angemessene und verteidigungswerte Grundordnung galt. [14] Sie sahen in dem scheinbaren Chaos von Neben-, Unter- und Überordnung staatlicher und staatsähnlicher Gewalten ein System gegenseitiger Machtkontrolle, einen wirksamen Schutz vor Willkürherrschaft und einen Garanten für Frieden, Recht und gesetzmäßige Freiheit: Reichspatriotismus ist Verfassungspatriotismus.

Dem Ende des Alten Reiches folgte ein radikaler Meinungsumschwung. Unter dem Eindruck nationalstaatlicher Zielsetzungen geriet im 19. Jahrhundert das Reich - und damit auch der Westfälische Frieden - zum Dekadenzmodell [15]: vom (deutschen) Staat des hohen Mittelalters zur machtlosen Kleinstaaterei der Frühen Neuzeit. Die denunziatorische Abwertung sollte jedes Wiederanknüpfen an diese Form des Nicht-Machtstaates ausschließen. Die vorgebliche Mission Preußens zur Schaffung eines deutschen Nationalstaates wurde hier vorbereitet und später legitimiert. "Aus dem Durcheinander verrotteter Reichsformen und unfertiger Territorien hob sich der junge preußische Staat empor. Von ihm ging fortan das politische Leben Deutschlands aus." Heinrich von Treitschke war lediglich der wortgewaltigste Interpret einer in preußischer Perspektive wahrgenommenen deutschen Geschichte. Die Reichsverfassung erschien ihm rückblickend "wie ein wohldurchdachtes System, ersonnen, um die gewaltigen Kräfte des waffenfrohesten der Völker künstlich niederzudrücken." [16] Der Westfälische Frieden wurde nun als ein von fremden Mächten diktierter Vertrag wahrgenommen, der Deutschland nicht nur Gebietsverluste gebracht, sondern auch seine Entwicklung zum Nationalstaat blockiert hatte.

Besonders die Garantiemächte - Frankreich und Schweden - waren den auf nationalstaatliche Souveränität fixierten Historikern des 19. Jahrhunderts suspekt. Die wie vieles andere wenig eindeutig formulierten Vertragsklauseln [17] sprechen jedoch lediglich unter bestimmten Bedingungen von einer Schutz- und Beistandspflicht der vertragschließenden Parteien ("omnes huius transactionis consortes") gegenüber jedem, der in seinen aus dem Friedensvertrag herrührenden Rechten beeinträchtigt wird. Letztlich erlaubte diese Formel, auch alle Reichsstände - wie von Schweden gewünscht - oder überhaupt alle Beteiligten - wie von Frankreich gefordert - als Garantiemächte zu verstehen. Der Kaiser hatte dem allerdings stets vehement widersprochen, und Artikel XVII, Paragraph 6 (IPO) gibt ihm insofern recht, als die Gerichtsrechte und die jedem Stand zustehende richterliche Gewalt ausdrücklich ausgenommen werden. [18]

Die Garantie führte nicht zum Eingreifen fremder Mächte in die inneren Angelegenheiten des Reiches. Obwohl Ludwig XIV. von Frankreich diese Klausel im diplomatischen Verkehr hochspielte und als Druckmittel nutzte, hat er sie nie angewandt. Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg ließ 1673 auf dem Regensburger Reichstag die französische Interpretation entschieden zurückweisen, daß der Westfälische Friede es den Reichsständen verbiete, einem Feind der Krone Frankreichs beizustehen. Er appellierte an den als "Vater des Vatterlandes" bezeichneten Kaiser und an das Reich, endlich entschiedener gegen den französischen Aggressor vorzugehen. [19] Ludwig XIV. hätte sich zudem bei einem Rückgriff auf die Garantieklausel mit Schweden, aber auch mit dem Kaiser, der meist vergessenen dritten Garantiemacht, verständigen müssen: für seine Eroberungsfeldzüge wie für die Reunionspolitik eine denkbar schlechte Voraussetzung. Französische Juristen fanden andere Begründungen. Frankreich beteiligte sich beispielsweise am ersten Rheinbund, um größeren Einfluß in Deutschland zu gewinnen, als ihm die Garantieklausel gewährte. [20] Welche Rückwirkungen diese dennoch auf die Verhaltensdispositionen von Kaiser und Reichsständen besessen hat, müßte näher untersucht werden.

Wie langlebig Vorstellungen von auswärtigem Interventionsdruck und staatlicher Zersplitterung gewesen sind, zeigen noch die Arbeiten Fritz Dickmanns. Trotz leidvoller Erfahrungen mit der spezifisch deutschen Variante des nationalen Machtstaates war er 1959 der Ansicht: "Der Frieden bedeutete für unser Volk ein nationales Unglück und für das Heilige Römische Reich, in dem es bis dahin seine staatliche Form gefunden hatte, den Anfang der tödlichen Krankheit, der es schließlich erlag." [21] An anderer Stelle notierte er 1965: "Was dem Reich an Hoheitsrechten und politischer Macht verloren ging, fiel den Einzelstaaten zu, sie allein hatten noch eine Zukunft, das Reich war zum Absterben verurteilt; das Reich hörte auf, Staat zu sein, alle politischen Energien sammelten sich in den Territorien, insbesondere in den größeren unter ihnen, die von nun an allein noch den Namen "Staat" verdienen." [22]

Wenn Dickmanns Einschätzung richtig ist, wenn der Friede den Fürsten tatsächlich die "Souveränität" gewährte [23] und er für das Reich "mehr zerstörend als aufbauend" wirkte [24], wäre verständlich, warum ihm die Nation kein Denkmal gesetzt hat. Münster und Osnabrück sind erst anläßlich der Jubiläen im ausgehenden 19. Jahrhundert zu Erinnerungsorten gemacht worden. Man feierte dort eher abstrakt einen Frieden und nicht die Verfassung des vormodernen deutschen Staats. 1998 steht das Gedenken im Zeichen Europas. Damit scheinen die Schwierigkeiten der Deutschen mit ihrem Frieden umgangen, und es wird eine zukunftsträchtige integrierende Perspektive gewonnen: vom Diktat fremder Mächte zur europäischen Friedensordnung. Als europäische Erinnerungsorte können Münster und Osnabrück aber nur bestehen, wenn die konkreten Ergebnisse weniger als die Verfahren und die sie tragenden Wertvorstellungen in den Mittelpunkt gerückt werden. Nicht das Friedensgebiet, sondern die Friedensfindung war europäisch. Sie wies die Richtung für ein künftiges europäisches Staatensystem auf der Basis von Souveränität und diplomatischer Gleichrangigkeit. [25] Die deutschen Stände oder Frankreich wollten jedoch die Kriege des spanischen Königs nicht in die Verhandlungen einbezogen sehen [26], und der Münsteraner Friede zwischen Spanien und der Republik der Niederlande läßt sich auch als ein eher zufälliges Ergebnis bestimmter Verhandlungskonstellationen verstehen. [27] Die Regelungen für Oberitalien, Savoyen und den burgundischen Reichskreis [28] waren lediglich so etwas wie Optionen auf Frieden, denn der Krieg zwischen Frankreich und Spanien ging ungehindert weiter.

Der Westfälische Friede ist eine Friedensordnung für den Reichs-Staat unter Einschluß Böhmens sowie für die Niederlande und die Eidgenossenschaft, die als souverän anerkannt werden. Er gab dem Reich deutscher Nation eine neue, wenn auch wenig veränderte Verfassungsordnung. Ferdinand III. hatte sich dagegen gewehrt, daß die Osnabrücker Verhandlungen zum Verfassungskongreß mutierten. Die auswärtigen Kronen sollten nicht über die Reichsangelegenheiten mitentscheiden, die er statt dessen auf dem Frankfurter Deputations- oder einem neuen Reichstag behandelt sehen wollte. Doch mit der Zulassung der Reichsstände waren die Würfel gefallen. In den am 11. Juni 1645 übergebenen Friedensbedingungen der beiden Kronen bildete die Ausgestaltung der Reichsverfassung einen zentralen Bereich. "Teutsche libertät", ständische Eigenstaatlichkeit und Garantien gegen ein künftiges "kaiserliches dominat" lauteten ihre Hauptforderungen. Die kaiserliche Politik sollte an die Zustimmung der Reichsstände gebunden werden. [29] Während Ferdinand III. sich weiterhin sperrte, verdeutlichten die Schweden im Januar 1646, daß es ohne bindende Übereinkunft zur Reichsverfassung keinen Frieden geben werde. "So hätten die Nachbarn, als welche ihres Staats Sicherheit, auf des Römischen Reichs unperturbirten Staat und dessen Aequilibrium fundireten, nicht minder als die Deutschen selbst, große Ursachen darüber zu arbeiten, und es dahin zu verhelffen, daß der Staat des Römischen Reichs gegründet und auf die Constitutiones des Reichs reduciret, auch zu vorigem Herkommen hinwieder gebracht werden möcht." [30]

Die Kongreßteilnehmer kannten die Auffassungen eines Bogislaw Philipp von Chemnitz, der unter dem Pseudonym Hippolithus a Lapide 1640 die Staatsräson des Reiches an die Bewahrung seiner Verfassung geknüpft hatte. Da die übermächtig gewordene Habsburger Kaiserdynastie gegen Räson und Verfassung des Reiches permanent verstoße, müsse sie aus dem Reich verbannt werden. Nur so sei Despotismus zu vermeiden und ein stabiles Gleichgewicht auf der Grundlage der deutschen Freiheit zu erreichen. In Anlehnung an Bodin sah Chemnitz das Reich als reine Aristokratie: Nicht der an die Reichsgrundgesetze gebundene Kaiser, sondern die auf dem Reichstag versammelten Reichsstände stehen über dem positiven Recht: Sie sind der Reichsgesetzgeber. Der Kaiser ist nur primus inter pares. [31]

Chemnitz argumentierte noch ganz unter dem Eindruck des Prager Friedens von 1635. [32] Sein Verfassungspatriotismus stand nicht - wie ihm häufig vorgeworfen wird - im Dienste fremder Mächte, sondern entsprang radikalen reichsständischen Positionen, wie sie schon im Vorfeld der Schmalkaldischen Bundesgründung [33] und immer dann geäußert worden waren, wenn ein monarchisches System drohte. Zwar wollte der Friedenskongreß die Habsburger nicht verbannen, wohl aber ihre Kompetenzen festlegen. In diesem Sinne hat die anonyme Schrift ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Friedensvertrag stellte die Territorialstaaten auf eine gesicherte Rechtsbasis und gilt als "Magna Charta der deutschen Landesfürsten". [34] Er hat jedoch weder die staatliche Zersplitterung noch den fürstlichen Absolutismus hervorgebracht. Beides basiert auf älteren Entwicklungen. Die in Artikel VIII des Osnabrücker Vertrags zusammengefaßten Bestimmungen zum Verhältnis von Kaiser und Ständen schrieben in erster Linie die Ordnungen fest, die sich im 16. Jahrhundert eingespielt und im großen und ganzen auch bewährt hatten. Unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus der Verfassungskrise um 1600 und dem kaiserlichen Übergewicht, das sich besonders im Restitutionsedikt von 1629 und im Prager Frieden zeigte [35], wurde das Reich auf der Basis von Bewährtem und Machbarem pragmatisch neu geordnet.

Damit über die Verfassung ("in statu politico") kein Streit entstehe, erhielten alle Kurfürsten, Fürsten und Stände die Landeshoheit ("ius territoriale" bzw. "ius territorii et superioritatis" [36] ) sowie das Bündnisrecht verbrieft. Daß damit gerade nicht Souveränität als höchste Gewalt im Sinne Bodins gemeint war, ergibt sich aus dem Kontext. Das zusammenfassende "ius territoriale" [37] steht im Friedensvertrag mitten in einer Aufzählung von Ansprüchen, die die Reichsstände auch schon im 16. Jahrhundert wahrnahmen, und die ihnen nun bestätigt wurden: alte Rechte, Prärogativen, Freiheiten, Privilegien, Botmäßigkeiten und Regalien. Der Kaiser hatte dies schnell akzeptiert - im Gegensatz zum stets zurückgewiesenen Souveränitätsbegriff. [38] Reichsrittern sowie den Freien und Reichsstädten wurden ähnliche Rechte garantiert. [39] Da die Reichsstände nur über die Landeshoheit verfügten, wurden die Konsequenzen des Bündnisrechts weit überschätzt. [40]

Der Friede machte aus den deutschen Ständen keine Völkerrechtssubjekte, die als souveräne Staaten im europäischen Mächtekonzert agieren konnten. Dies gelang nur Österreich und Brandenburg-Preußen. Den Reichsständen räumte der Vertrag lediglich ein Bündnisrecht unter sich und mit Auswärtigen zu ihrem eigenen Schutz und ihrer Sicherheit ein. Die Verbindung durfte sich aber nicht gegen Kaiser und Reich, den diesen geleisteten Treueeid, den Landfrieden oder den Westfälischen Frieden richten. Reichsfreundliches Verhalten blieb verfassungsrechtlich vorgeschrieben. Bündnisse waren - wie selbst der Reichshofrat meinte - Reichsherkommen, ihre ausdrückliche Erlaubnis 1648 nur die Revision ihres Verbotes im Prager Frieden. Einungen und Korporationen hatten seit dem Spätmittelalter geholfen, die staatlichen Defizite des Reichs auszugleichen und die innere Sicherheit durchzusetzen. "Der wesentlichste Unterschied zwischen der höchsten Gewalt einer unabhängigen Macht und der Landeshoheit eines Teutschen Reichsstandes bestehet unstreitig darin, daß sie noch einer höhern Gewalt, wie sie theils vom Kaiser alleine, theils von Kaiser und Reich ausgeübet wird, untergeordnet ist, jene hingegen gar keine menschliche höhere Gewalt über sich erkennet." [41]

Der Reichstag blieb Koordinationsforum der Reichspolitik. Die hier versammelten Stände der deutschen Nation mußten dem Erlaß oder der Auslegung von Gesetzen, Werbungen sowie Entscheidungen über Krieg und Frieden, Einquartierungen und Abgaben zustimmen. Daß die Rechte der deutschen Stände von anderer Qualität waren als diejenigen der französischen Parlamente, hatte die auf Gleichbehandlung dringende kaiserliche Gesandtschaft schon im Zuge der Kongreßzulassungen erfahren müssen. [42] Die auch vor 1648 vom Reichstag beanspruchten Partizipationsrechte gingen aber keineswegs auf die einzelnen Stände über [43], sondern wurden dem Ständecorpus insgesamt garantiert. Binnen sechs Monaten sollte ein Reichstag stattfinden, um die Gebietsabtretungen an Frankreich zu ratifizieren [44], Verfahrensmängel zu beseitigen und einen römischen König zu wählen. Zudem mußten eine beständige Wahlkapitulation, Polizei- und Justizreformen sowie über das Vorgehen bei Achterklärungen beschlossen, die Reichskreise und die Reichsmatrikel erneuert, die Zusammensetzung des ordentlichen Deputationstags und die Aufgaben der Direktorien in den Reichskollegien festgelegt werden. [45] Dieses Programm wurde nie realisiert. Kurfürst Johann Georg von Sachsen urteilte darüber 1651, daß nicht nur der kaiserlichen Autorität im Friedenschluß "fast hart und schwer zu nahe getretten", sondern auch die kurfürstliche "praeeminenz [...] in einem und anderm ziemblich angezapfft und mercklich verschnitten" worden sei. [46]

Der nächste Reichstag trat 1653/54 in Regensburg zusammen und sollte der letzte sein, der mit einem regulären Abschied endete. [47] Er enthält wichtige Bestimmungen "zum Justiz-Werck, ohne welches kein Reich in Ordentlichem friedlichen Wesen erhalten werden kann [...]" [48] und zum Schuldenproblem. Die alten Exekutionsordnungen wurden neuerlich eingeschärft und ein allgemeines Besteuerungsrecht der Fürsten zum Zwecke der Landesverteidigung definiert - auch gegenüber den Landständen. Über alle anderen 1648 zurückgestellten Punkte ("negotia remissa") gelang keine Einigung. Der folgende Reichstag wurde darüber zum immerwährenden.

Das ewige Reichsverfassungsgesetz Westfälischer Friede war den anderen Grundgesetzen ("constitutiones fundamentales imperii") gleichrangig und durch den Vertrag selbst jeder einseitigen Änderung entzogen. [49] Es entsprang einer vertragsmäßigen Übereinkunft des Kaisers mit den deutschen Ständen unter Assistenz der auswärtigen Kronen und regelte wie die Goldene Bulle, die Land- und Religionsfrieden, die Exekutions-, Kammergerichts- und Reichshofratsordnungen oder die jeweils jüngste Wahlkapitulation die verfassungsmäßige Ordnung des Reichs-Staates. Johann Jacob Moser nannte Reichsgrundgesetze "eine solche Verordnung, ohne welche der Staat von Teutschland nicht so wäre, als er würklich ist." [50]

Daß die Reichsstände während des Friedenskongresses auch mit Blick auf das Ganze handelten, wird besonders bei den Religionsbestimmungen deutlich. Praktisch entzogen sie sich selbst ihr Recht zur Festlegung einer verbindlichen Landeskonfession. Zwar bestätigte Artikel V den Augsburger Religionsfrieden, die Zusatz- und Ergänzungsbestimmungen setzten das landesherrliche ius reformandi jedoch zugunsten der auf den 1. Januar 1624 festgelegten Normaljahrsregelung außer Kraft. Nach Artikel VII durfte ein konvertierter Landesherr seine Untertanen nicht mehr zum Konfessionswechsel zwingen. Sonderregelungen sorgten dafür, daß der Kurfürst von der Pfalz neben der neugeschaffenen achten Kur auch die Erlaubnis erhielt, die Rheinpfalz auf den Stand von 1618 zu restituieren, also das reformierte Bekenntnis neuerlich einzuführen [51], und daß in den habsburgischen Ländern das Prinzip des "cuius regio, eius religio" erhalten blieb - nur in Schlesien und Niederösterreich mußten Protestanten geduldet werden. [52]

Die im Frieden festgelegte prinzipielle Gleichrangigkeit von lutherischem, reformiertem und katholischem Bekenntnis auf Reichsebene blieb auch für die Territorien nicht ohne Folgen. Artikel V zwang mit den Paragraphen 31 bis 37 alle Reichsstände zur gestuften Duldung der beiden anderen Bekenntnisse, sofern diese schon 1624 bestanden hatten [53]: Die private Religionsausübung ("exercitium privatum") mit Bethaus und Privatprediger mußte dann gestattet werden. Selbst dort, wo 1624 keine andere Konfession geduldet worden war, wurde allen Untertanen die Hausandacht ("devotio domestica"), die vollständige Gewissensfreiheit und der auswärtige Gottesdienstbesuch zugesichert. Der Landesherr konnte sie jedoch nach wie vor - unter Wahrung einer Frist von mindestens drei Jahren - zur Auswanderung zwingen.

Duldung und Gewissensfreiheit stehen in Deutschland am Beginn des Toleranzgedankens. Sie waren hier aber nicht nur unverbindliches Wertmuster, sondern einklagbare Rechtsnorm. Es wundert daher nicht, daß Johann Jacob Moser die freie Religionsausübung zu den individuellen Grundrechten jedes Deutschen zählt. [54] Gegenüber dem Augsburger Religionsfrieden brachten die neuen Regelungen eine drastische Reduzierung des Konfliktpotentials und eine gewisse Rechtssicherheit für die Untertanen und die Kirchentümer. Einer expansiven Konfessionspolitik, die um 1600 das Klima im Reich so nachhaltig belastet hatte, waren die Grundlagen entzogen.

Spektakulärster Ausdruck der neuen konfessionellen Gleichheit war das Verbot von Mehrheitsentscheidungen auf dem Reichstag bei religiös bedingtem Streit. Er sollte durch gütlichen Vergleich der in zwei gleichberechtigten Korpora vereinigten Konfessionsparteien ausgeräumt werden. [55] Am Reichskammergericht mit seiner Fastparität - die katholischen Stände und der Kaiser präsentierten 26 Assessoren, die protestantischen 24 - und selbst am Reichshofrat galten im Konfliktfall ähnliche Regelungen. [56] Man wollte Extrempositionen vermeiden und die Konfessionsparteien in das Reichsverfassungsgefüge einbinden. Der heilsame Zwang zum Kompromiß, der die Entscheidungsfindungen im Reichs-Staat ohnehin auszeichnete, wurde hier auf die Spitze getrieben. Der Osnabrücker Verfassungsgeber versuchte, aus den Erfahrungen der Zeit um 1600 zu lernen, konstruierte darüber jedoch Regelungen, die leicht zur völligen Verfassungsblockade hätten führen können. Um das verbleibende Übergewicht der Katholiken auf dem Reichstag auszumanövrieren, mußten die Protestanten nur die konfessionellen Hintergründe des jeweiligen Konflikts betonen.

Friedrich der Große hat versucht, mit dieser Bestimmung vor allem im Siebenjährigen Krieg Politik zu machen bzw. zu verhindern. [57] Haug-Moritz spricht von einer "Rekonfessionalisierung der Reichspolitik" [58], Aretin hat ihr widersprochen. [59] Tatsächlich setzte sich die restriktive kaiserlich-katholische Interpretation durch. Das Verfahren wurde nur in sehr wenigen Fällen angewandt. Man verglich sich im Vorfeld oder verzichtete auf eine Entscheidung, die das Reichsverfassungsgefüge zum Einsturz hätte bringen können. Die Möglichkeit einer Aufteilung des Reichstags in zwei konfessionelle Corpora gehörte dennoch zur Wirklichkeit des späten Reichs. Insgesamt hat der Westfälische Frieden die Folgen der Konfessionskonflikte jedoch weitgehend säkularisiert und dadurch entschärft. Der Osnabrücker Verfassungsgeber schuf hier neues Verfassungsrecht, während er ansonsten das Verhältnis von Kaiser und Reichsständen auf der Basis des Herkömmlichen, Notwendigen und Machbaren regelte.

Voraussetzung für das Funktionieren des komplementären Reichs-Staates blieb ein Minimalkonsens aller Beteiligten: der Wille, pragmatisch zusammenzuarbeiten und dieses vergleichsweise komplizierte Verfassungsgefüge zu erhalten. Die 1648 vorangetriebene Verrechtlichung des Staatlichen sicherte zudem den Status quo und verhinderte sowohl die Annexion kleinerer Reichsstände durch größere als auch despotische Regierungsformen in den Territorien. "Souverän" war lediglich der komplementäre Reichs-Staat, das Verfassungsgefüge insgesamt, nicht sein Oberhaupt und nicht seine Glieder. Dies erinnert ein wenig an das englische Prinzip des "King in Parliament", auch wenn die englische Variante weit durchsetzungsfähiger war und von einer Einheitlichkeit der Staatsgewalt in Deutschland meist keine Rede sein kann.

Die Reichsstaatsrechtslehre vermochte dieses zusammengesetzte Staatsgefüge, bei dem sich die unterschiedlichen Handlungsebenen zu einem Ganzen fügten, nur schwer zu klassifizieren: dem "monstro simile" Pufendorfs [60] ließ der ältere Moser sein "Teutschland wird auf teutsch regiert" folgen. [61] Limnaeus machte aus der Herrschersouveränität Bodins diejenige der staatlichen Gemeinschaft: Während die Reichsstände die "maiestas realis" ausübten, gebühre die davon abzuleitende "maiestas personalis" dem Kaiser als Organ des Reiches. [62] Sah Chemnitz (Lapide) im Reich eine reine Aristokratie, bezeichnete es Reinkingk wegen der vielfältigen kaiserlichen Rechte als Monarchie. [63] Beide Positionen bilden Polstellen in einem breiten Meinungsspektrum. Mehrheitlich setzte sich die status-mixtus-Lehre durch: eine gemischte Regierungsform aus Monarchie und Aristokratie. [64] Einige Publizisten meinten darüber hinaus - vor allem mit Blick auf die Reichsstädte - oligarchische und demokratische Züge zu erkennen. Moser kommentierte: "Aber, wenn man auch dieses weißt, ist man so klug als zuvor, und hat doch keinen hinlänglichen Begriff von der teutschen Staatsverfassung". [65]

Der komplementäre Reichs-Staat funktionierte teilweise wie eine begrenzte Monarchie und teilweise wie ein Staatenbund - "eine nicht wenig komplizierte Staatsverfassung, die dem Teutschen Reiche in ihrer Art ganz eigen ist [...] ein Reich, das aus mehreren besonderen, jedoch einer gemeinsamen, höheren Gewalt noch untergeordneten Staaten bestehet." [66] Der Reichs-Staat organisierte Außenverteidigung und Rechtssystem, die Kreise vor allem Exekutionswesen und Infrastruktur, die Territorialstaaten Verwaltung und Disziplinierung der Untertanen. In Wien betonte der Prinzenerzieher auch noch im 18. Jahrhundert: "Nichtsdestoweniger ist das Deutsche Reich noch in kein Systema Civitatum zerfallen, sondern nur ein einziger Staat [...], wo die majestätischen Rechte teils von dem Kaiser allein und teils mit Genehmhaltung der Kurfürsten, in den mehresten Fällen aber mit Vorwissen und Bewilligung aller Reichsstände insgesamt ausgeübt werden." [67]

Die Reichsstände bildeten mit dem Kaiser den Reichs-Staat, indem sie zusammen übergreifende Gesetze erließen und das gemeinsame politische Wollen definierten. Sie übten jedoch auch einzeln staatliche Gewalt in ihren jeweiligen Obrigkeitsbereichen aus. Veit Ludwig von Seckendorffs "Teutscher Fürsten Stat", die weit verbreitete Anleitung einer fürstlichen Landesherrschaft nach dem Westfälischen Frieden, nennt als Einschränkungen der Landeshoheit: alte Verträge, aus dem Naturrecht abzuleitende Ansprüche der Untertanen, die Privilegien der Landstände, die Pflicht zur Duldung der drei reichsrechtlich legitimierten Bekenntnisse [68] und insbesondere die Gehorsamspflicht gegenüber "Kaiser und Reich". [69] Der Fürst muß Reichsgesetze verkünden und seine Normsetzungen daran orientieren. Zur "Erhaltung der gemeinen Reichs-Ruhe und Wolfahrt" ist es "gantz unentbehrlich, daß das Band und Harmonie zwischen Oberhaupt und Gliedern des Reichs von tag zu tag vielmehr gestärcket als geschwächet werde". [70] Schon das Titelkupfer verweist auf diesen Zusammenhang: Der Reichsadler schwebt über dem Fürstenstaat - eine Meßlatte kennzeichnet den erlaubten Abstand. [71]

In den meisten Fällen übernahmen die Reichsstände schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse die Reichsgesetze, modifizierten sie allerdings. Selbst Kurfürsten und Fürsten konnten sich gerade bei der Ordnungsgesetzgebung koordiniertem Vorgehen auf Reichs- oder Kreisebene kaum entziehen: Polizei-, Münz-, Gewerbe- oder Gesindeordnungen erreichten die gewünschte vereinheitlichende und disziplinierende Wirkung nur dann, wenn ihr Geltungsbereich nicht an den Landesgrenzen endete. Zudem resultierten die Rahmenregelungen des Reichs aus einem Konsens von Kaiser und Ständen. Eine ständische Mehrheit hatte ihnen zugestimmt und dabei sehr genau darauf geachtet, daß die eigene Landeshoheit nicht mehr als unbedingt erforderlich tangiert wurde. Karl Härter hat am Beispiel der Polizeigesetzgebung gezeigt, wie wenig die gängige Formel - "macht- und wirkungsloses Reich auf der einen, souveräne, in der Polizeygesetzgebung erfolgreiche Territorialstaaten auf der anderen Seite" - der historischen Realität entspricht. [72] Landes- und Reichsordnungen standen in einem ähnlich komplementären Verhältnis wie Fürsten- und Reichs-Staat.

Das Reichsgrundgesetz von 1648 hat über anderthalb Jahrhunderte geholfen, die Mitte Europas als wahrnehmbare staatliche Einheit in der Vielheit zusammenzuhalten. Es hat definierend und integrierend gewirkt. Wer diese Ordnung anerkannte oder anerkennen mußte, gehörte zum Reichs-Staat, der von den Alpen bis an die Küsten der Nord- und Ostsee reichte. Als erbliche Landesherren und als Korpora auf dem Reichstag verfügten die Reichsstände über eine Schlüsselstellung bei der Definition vormoderner deutscher Staatlichkeit. Es ist jedoch ein prinzipielles Mißverständnis der langen Diskussion um die Staatlichkeit des Reiches, daß man diese nach den allzu simplen Kriterien eines "Null-Summen-Spiels" beurteilt: "Was dem Reich an Hoheitsrechten und politischer Macht verloren ging, fiel den Einzelstaaten zu [...]". [73] Im politischen Kräftefeld gilt keineswegs, daß der Gewinn eines Akteurs auf Kosten eines anderen gehen muß. Der Westfälische Frieden verschob zwar die Gewichte im Balancesystem "Kaiser und Reich(sstände)" zugunsten der letzteren, doch dies änderte wenig an der traditionellen Rollenverteilung: Die einzelnen staatlichen Ebenen konkurrierten selten miteinander, sondern ergänzten sich meist im Sinne der Komplementarität. Staatlichkeit im Reich war nie exklusiv. [74] Österreich und Brandenburg-Preußen agierten als europäische Großmächte außerhalb dieser Ordnung. Doch auch sie sprengten das Reich aus wohlverstandenem Eigeninteresse nicht, obwohl sie immer wieder gegen dessen Verfassungsprinzipien verstießen.

Ob das strukturbedingt nicht angriffsfähige Reich ein Staat war, bleibt eine Definitionsfrage. Auch wenn der komplementäre Reichs-Staat die Kriterien eines National-, Macht- oder Steuerstaates nicht unbedingt erfüllte, war er doch ein politisch zielgerichtet handlungsfähiges System mit kaiserlicher Spitze - ein Staat. Selbst der Dreiklang des völkerrechtlichen Staatsbegriffes - eine Staatsgewalt, ein Staatsgebiet und ein Staatsvolk -, der stärker den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts als die Verbindung staatlicher und überstaatlicher Ordnungsgefüge widerspiegelt, läßt sich im komplementären Reichs-Staat erkennen: keine einheitliche Gewalt, aber doch ein abgrenzbares Gebiet und eine Bevölkerung, deren Mitglieder sich zumindest in der Fremde als Deutsche fühlten [75], auch wenn im Reichs-Staat selbst andere Zugehörigkeitsempfindungen dominierten.

Man kann die komplementäre und zusammengesetzte Staatlichkeit des Alten Reiches als Partikularismus und Kleinstaaterei abtun. Obwohl diese Position in der Forschung längst überwunden ist [76], entspricht sie dem gängigen Geschichtsbild. Man kann aber auch - und dies scheint heute aus vielen Gründen naheliegend - auf die zahlreichen Zentren von Wissenschaft und Kultur, die vielfältigen Formen der Kontrolle und der Begrenzung von Herrschaft, die einklagbare Gewissensfreiheit oder den Föderalismus als zentrales Bestimmungselement deutscher und künftig wohl auch europäischer Staatlichkeit verweisen. [77] Der komplementäre Reichs-Staat wird dadurch zur historischen Alternative zum nationalen Machtstaat. Steht der Westfälische Frieden aber nicht mehr für ein fremdgesteuertes, Deutschland marginalisierendes Vertragsdiktat, sondern für eine gelungene föderative Integration, und steht der Kongreß insgesamt für die Wertvorstellung eines friedlichen Mit- und Nebeneinanders der Konfessionen und der europäischen Staaten auf der Basis von Gleichrangigkeit und Souveränität, ist Münster und Osnabrück ein herausragender Platz als deutscher und europäischer Erinnerungsort gewiß.



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ANMERKUNGEN



2. Repgen 1995a; Whaley 1985, S. 186; Klinger 1997; François 1991, S. 153-167. Eine neuere Zusammenstellung bei Neuhaus 1997.

3. Instrumentum Pacis Osnabrugense (künftig: IPO), Art. XVII § 2. Müller 1975, hier S. 75. - Vgl. auch Dickmann 1992; Langer 1994; Schmidt 1993; Schindling 1995.

4. Schindling 1991, S. 16.

5. IPO, Art. XVII § 2.

6. Schmidt 1994.

7. Pánek 1995; Weber 1992, S. 53; Bahlcke 1994; Seibt 1993. - Daß auch den Zeitgenossen noch nach der Readmission Böhmens Stellung zum Reichs-Staat Schwierigkeiten bereitete, zeigt die Aufforderung des Mainzer Reichserzkanzlers Lothar Franz von Schönborn an seinen Archivar Adolf Oppenheimer, nach böhmischen Deputations- und Reichstagsbeteiligungen zu suchen. 1710, Jan. 31. Die Suche im Archiv des Reichserzkanzlers blieb erfolglos: 1710, März 11. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Mainzer Erzkanzlerarchiv, Wahl- und Krönungsakten, Karton 35.

8. Merzbacher 1974; Wenkebach 1970.

9. Art. Reichs-Staat, in Zedler 1732ff., XXXI, Sp. 167; Bilderbeck 1709; Wolfter 1789. - Schmidt 1996a; Roeck 1984.

10. Meiern 1734ff., Teil 6, S. 1019f.

11. Schmauß 1766, S. 24 - zit. nach Kremer 1989, S. 37.

12. "Betrachtungen über die Freiheit und Wolfahrth des deutschen Reichs und über die Mittel zu deren Erhaltung von einem Patrioten", o. O. 1789. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Deductionen, Vol. 295b, Zitate S. 5 und S. 8.

13. Schiller 1988, Zitat S. 745.

14. Vgl. Kremer 1989, S. 49; Möller 1989, bes. S. 43-58.

15. Raumer 1962, S. 596, spricht von jener Wende, die "aus dem heilsamen einen heillosen Frieden werden ließ".

16. Treitschke 1927, I, Zitate S. 7 und S. 21.

17. IPO, Art. XVII §§ 5 und 6. Kremer 1989, S. 44ff.

18. Dickmann 1992, S. 339ff.

19. "Der churbrandenburgisch [...] Antwort auf gegenwärtigem Reichstag übergeben", 1673, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Deductionen, Vol. 289.

20. Schnur 1955, S. 43. Vgl. Aretin 1993, S. 26-29.

21. Dickmann 1992, S. 494.

22. Dickmann 1965a, Zitat S. 29.

23. Conze 1972ff., hier S. 15.

24. Oestreich 1974, S. 41.

25. Repgen 1987; Duchhardt 1989.

26. Vgl. Meiern 1734ff., Teil 1, S. 742 und passim. Vgl. auch APW II, A 5, S. 10, S. 48f. und passim.

27. Vgl. Poelhekke 1948; Petri 1959.

28. IPM (Instrumentum Pacis Monasteriense) §§ 72 und 92-97.

29. Dickmann 1992, S. 183ff.

30. Meiern 1734ff., Tl. 2, S. 317.

31. Chemnitz 1647; Hoke 1995.

32. Bierther 1997.

33. Schmidt 1996b, bes. S. 7ff.

34. Press 1990a, Zitat S. 11.

35. Vgl. Wandruszka 1955; Burkhardt 1992, S. 96-99.

36. IPO, Art. V § 30.

37. Willoweit 1975, bes. S. 121-137.

38. Dickmann 1992, S. 326ff.; Ruppert 1979, S. 113ff.

39. IPO, Art. IV § 17 bzw. Art. VIII § 4.

40. IPO, Art. VIII § 2. Böckenförde 1969.

41. Pütter 1777, S. 300.

42. Pitz 1983, S. 197-211.

43. Dickmann 1992, S. 188f.

44. IPM, § 80.

45. IPO, Art. VIII, § 3.

46. Zitiert nach Gotthard 1996, S. 1-54, hier S. 2.

47. Müller 1992.

48. Schmauß/Senckenberg 1967, III, S. 643.

49. IPO, Art. XVII § 2. Vgl. Mohnhaupt 1982, hier S. 14; Mohnhaupt 1972ff., bes. S. 852f. und 857f.; Vierhaus 1977.

50. Moser 1766, S. 196.

51. IPO, Art. IV §§ 5 und 13.

52. IPO, Art. V §§ 38-41.

53. Vgl. Besier 1972ff., hier S. 496. Asch 1998.

54. Moser 1769, S. 937.

55. IPO, Art. V § 52.

56. Ebd., §§ 53-58.

57. Vgl. beispielsweise "Actenstücke die bey der Reichsversammlung wegen den bevorstehenden Friedensgeschäfften angestellten Beratschlagungen betreffend", 1761. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Deductionen, Vol. 279a.

58. Haug-Moritz 1992, S. 138.

59. Aretin 1993, S. 366, Anm. 6.

60. Pufendorf 1667, hier S. 848.

61. Moser 1766, S. 550.

62. Hoke 1995a.

63. Link 1995; Press 1989 und 1986; Kremer 1989, bes. S. 80-118; Aretin 1993, S. 64-85; Buschmann 1993.

64. Aretin/Hammerstein 1972ff., hier S. 469.

65. Moser 1766, S. 555.

66. Pütter 1777, S. 35.

67. Conrad 1964, S. 431.

68. Seckendorff 1665, Teil 2, Kap. 11 § 5, S. 292f. - Schmelzeisen 1970; Stolleis 1995a.

69. Seckendorff 1665, Teil 2, Kap. 2 § 3, S. 69f.

70. Seckendorff 1665, Add. § 23, S. 87f.

71. Vgl. Roeck 1983, hier S. 338f.

72. Härter 1992, S. 136; Härter 1994.

73. Dickmann 1992, S. 29.

74. Dazu Stolleis 1990a.

75. Vgl. Zedler 1732ff., XXIII, S. 902.

76. Vgl. zuletzt Neuhaus 1997.

77. Vgl. Langewiesche 1996, hier S. 48.



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