DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa | |
Textbände > Bd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft |
KASPAR VON GREYERZ Die Schweiz während des Dreißigjährigen Krieges* |
I. Einleitung
"Das Land kam mir so fremd vor gegen
andere teutsche Länder, als wenn ich in Brasilia oder in China gewesen
wäre; da sah ich die Leute in dem Frieden handlen und wandlen, die
Ställe stunden voll Vieh, die Baurnhöf liefen voll Hühner,
Gäns und Enten, die Straßen wurden sicher von den Reisenden
gebraucht, die Wirtshäuser saßen voll Leute die sich lustig machten,
da war ganz keine Furcht vor dem Feind [...]. Das machte, daß ich auf dem
ganzen Weg nur hin und her gaffte, wenn hingegen Herzbruder an seinem Rosenkranz
betete, deswegen ich manchen Filz bekam [...]." [1] So arkadisch
schildert neidvoll Grimmelshausens "Simplicissimus" die Zustände in der
Schweiz während des Dreißigjährigen Krieges. Tatsächlich
blieb die dreizehnörtige Eidgenossenschaft mitsamt den von ihr
abhängigen Untertanengebieten (wie z.B. dem Thurgau) und den meisten ihrer
sogenannten zugewandten Orte (u.a. das Wallis, die Fürstabtei und Stadt St.
Gallen, Biel und die Grafschaft Neuenburg) innerhalb der Grenzen der heutigen
Schweiz vom Kriegsgeschehen weitgehend
verschont. [2]
Eine Ausnahme stellten
innerhalb dieses geographischen Rahmens lediglich die Drei Bünde (heute:
Graubünden) im Osten und Südosten des Landes dar sowie bis zu einem
gewissen Grade das Untertanengebiet des Fürstbischofs von Basel im Jura.
Dieser Reichsfürst war - ähnlich wie die Stadt Genf - nur mit
einzelnen Orten der Eidgenossenschaft verbündet. Die Eidgenossenschaft war
ein kompliziertes Bündnisgeflecht mit einem einzigen, durch die
konfessionellen Gegensätze geschwächten, zentralen Organ, der zu Baden
nach Bedarf zusammentretenden Tagsatzung, deren Entscheide auf freier
Übereinkunft der an Weisungen gebundenen Abgeordneten
beruhten. [3]
Die weitgehende Verschonung
der Schweiz hatte (neben geographischen) in erster Linie politische Gründe,
hatte sich doch die Eidgenossenschaft seit dem Schwabenkrieg von 1499 sukzessive
vom Reich und seinen Institutionen, wenn noch nicht rechtlich, so doch faktisch
losgelöst.
II. Soziale und
wirtschaftliche Aspekte
Die Bevölkerungszahl
der Schweiz um 1600 wird auf höchstens 940.000 Einwohner geschätzt.
Bis um 1700 stieg sie, eher verhalten im Vergleich zum Wachstum des 16.
Jahrhunderts, auf ungefähr 1.200.000 Einwohner an. [4] Wiederholte
demographische Wachstumskrisen wurden durch die verschiedenen Pestzüge des
17. Jahrhunderts bis zur letzten schweizerischen Pest von 1666-1670 verursacht.
Sie hatten jedoch keine bleibenden Auswirkungen. [5] Der von etwa 1640
an beobachtbare generelle Rückgang der Geburtenziffern weist jedoch darauf
hin, daß der Spielraum der noch weitgehend agrarischen Wirtschaft dem
Bevölkerungswachstum Grenzen zuwies. [6] Intensiviert durch eine
Reihe schlechter Erntejahre in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts
führte diese Ressourcenverknappung zu Erscheinungen der Massenarmut: Bis zu
drei Vierteln der gesamten Bevölkerung des Zürcher Herrschaftsgebietes
sollen um 1700 arm gewesen sein. [7] Der um 1640 einsetzende
sozio-ökonomische Abstieg nach Jahrzehnten der kriegsbedingten
Hochkonjunktur hatte tiefgreifende
Auswirkungen.
Zwar blieb die Schweiz auch
während des Krieges auf Salzlieferungen aus der Freigrafschaft Burgund,
Tirol und Bayern angewiesen, andererseits wurde sie in bezug auf die Ausfuhr von
Vieh, Käse und Futtermitteln "von Aufkäufern deutscher Fürsten
und Heerführer geradezu überlaufen". [8] Die anhaltende
Nachfrage hatte eine Preissteigerung zur Folge. Als sie gegen Ende des Krieges
nachzulassen begann, bewirkte dies einen gewaltigen Preissturz. Die Agrarpreise
sanken zwischen 1642 und dem Ende der 1640er Jahre durchschnittlich um
mindestens die Hälfte. [9]
Diese
Entwicklung brachte - gepaart mit einer spürbaren Geldverknappung, bedingt
durch das Ansteigen der Löhne und des Preises gewerblicher Produkte -
soziale und politische Spannungen mit sich, die in den vierziger Jahren des 17.
Jahrhunderts durch die Fiskalpolitik der Städte in ihren ländlichen
Herrschaftsgebieten noch verstärkt wurden. Als die Berner Regierung Anfang
1641 beschloß, die Landbevölkerung mit einer neuen Wehrsteuer zu
belasten, kam es im Berner Oberland zu offenem Widerstand. [10] Nach
mehreren Vermittlungsversuchen der anderen evangelischen Orte der
Eidgenossenschaft konnte schließlich im Juni desselben Jahres eine
Übereinkunft zwischen Untertanen und Obrigkeit erreicht werden. Die Steuer
blieb; der Berner Rat mußte sich jedoch zu einer Amnestie
bereitfinden.
In der freiburgischen Landvogtei
Bellegarde brachen bereits sechs Jahre früher Unruhen aus, als die
Regierung sich anschickte, die Erhöhung der Einkünfte des Landvogts
auf die Untertanen abzuwälzen. Der Widerstand wurde mit harter Hand
unterdrückt. [11] Weder hier noch im zürcherischen
Herrschaftsgebiet sollte der Widerstand - im Unterschied zu Bern [12] -
im Zuge des Bauernkriegs von 1653 erneut aufflammen. Im zürcherischen
Bereich ging dem Aufstand von 1646 gegen die bereits 1628 eingeführte
Kriegssteuer in der Herrschaft Wädenswil und im Knonauer Amt, der zu
Hinrichtungen, empfindlichen Bußen und dem Verlust politischer Freiheiten
der Wädenswiler Untertanen führte, ein glimpflicher abgelaufener
Widerstandsakt (1644/45) in der Grafschaft Kyburg voraus. [13] Auch im
baslerischen Herrschaftbereich erzeugte die bereits 1627 eingeführte
Kriegssteuer bei den ländlichen Untertanen viel
Unmut. [14]
Dieser verbreitete Unmut wurde
zur Unruhe und schließlich zur offenen Revolte und zum "Bauernkrieg", als
die bernische und, in ihrem Schlepptau, die luzernische Obrigkeit eine
Münzabwertung durchführten, deren Kosten sie (insbesondere in Luzern)
weitgehend auf die ländlichen Untertanen abwälzten. [15] Der
offene Aufstand brach Anfang Februar 1653 im luzernischen Entlebuch aus. In
einem bemerkenswerten Zürcher Schreiben vom 19. April 1653 wurde
festgehalten, "daß sich in dieser zeyt vast ein durchgehende revolution
mehrteils eydtgnössischer underthanen erzeigt [...]". [16]
Tatsächlich weitete sich die Revolte zu einer Bewegung aus, die
schließlich auch bernische, solothurnische und baslerische Untertanen in
ihren Bann zu ziehen vermochte. Am 14. Mai beschworen die Aufständischen in
Huttwil einen in seiner Zielrichtung revolutionären Untertanenbund, der
sich als Alternativbündnis offen gegen den eidgenössischen Bund der
Herren wandte. [17] Die Antwort darauf war ein erfolgreicher
militärischer Gegenschlag der betroffenen städtischen Obrigkeiten,
dessen entscheidende Operationen Anfang Juni 1653 erfolgten, sowie eine harte
Strafjustiz und Repression gegenüber den Besiegten. Auf der Seite der
städtischen Obrigkeiten bewirkte das einschneidende Ereignis insofern einen
Kurswechsel, als sie sich - insbesondere der Luzerner Rat - hinfort stärker
einer paternalistischen Politik gegenüber ihren Untertanen zuzuwenden
begannen. [18]
Unruhen und offener
kollektiver Protest blieben jedoch bis ans Ende des schweizerischen ancien
régime (1798) ein verbreitetes Mittel der politischen
Auseinandersetzung. [19] Daran waren nicht zuletzt die starken
Oligarchisierungstendenzen des politischen Systems nicht nur der Städte,
sondern auch der Landkantone (besonders deutlich in Schwyz und
Appenzell-Außerrhoden) ursächlich beteiligt. Die Ursachen dieser
Tendenzen wiederum sind vor allem im wachsenden Bevölkerungsdruck und der
damit unmittelbar verbundenen Verknappung der sozio-politischen Ressourcen zu
suchen [20], wobei allerdings auch die mit dem Ausbau des
frühneuzeitlichen Staates verbundenen, steigenden Anforderungen an die
Ausbildung, Erfahrung und Abkömmlichkeit der Regierenden mit eine Rolle
spielten. Innerhalb der politischen Führungsschicht Genfs und Zürichs
hatte diese Situation bereits im Zuge des 17. Jahrhunderts die Praxis der
Geburtenkontrolle zur Folge. [21]
III.
Konfessions- und Soldbündnispolitik
Eine
überraschend geringe Rolle im Bauernkrieg von 1653 spielte der
konfessionelle Faktor. Jedenfalls verhinderte er keineswegs den
Zusammenschluß von Bauern- und Untertanengruppen unterschiedlicher
Konfession. In der Bündnis- und weitgehend auch in der Soldpolitik der
Eidgenossenschaft, des Wallis und der Drei Bünde kam ihm jedoch in der
ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts grundlegende Bedeutung zu, nicht zuletzt
diejenige eines vorrangigen Krisenfaktors. Die Bedrohungslage, so William E.
Rappard, sei eine doppelte gewesen: "militaire et stratégique d'une part,
confessionelle et politique de
l'autre." [22]
Bereits 1531, mit der
militärischen Niederlage der evangelischen Städte, ging in der
Eidgenossenschaft die Reformation in die Phase der Konfessionalisierung
über. Nur noch an der Peripherie des helvetischen Bündnisgeflechts
(Waadt, Neuenburg, Genf, Pruntrut/Porrentruy, Wallis und Graubünden)
vermochte sie sich danach noch weiter auszudehnen. Doch nachdem die
Gegenreformation von den 1570er/80er Jahren an mit kirchlichen Visitationen, der
Errichtung von Kollegien und Klöstern der Jesuiten und Kapuziner und einer
ständigen Nuntiatur in Luzern (1586) auch in der Schweiz wirksam wurde,
wurde die Unterdrückung des Protestantismus im Fürstbistum Basel und
im Wallis in die Wege geleitet. [23] In Graubünden gelangte die
weitere Verbreitung des reformierten Bekenntnisses an der Wende zum 17.
Jahrhundert zum Stillstand. [24]
In den
Gemeinen Herrschaften [25], insbesondere im Thurgau, wurde der
Bi-Konfessionalismus zu einer geradezu permanenten Reibungsfläche zwischen
den reformierten und katholischen Orten der Eidgenossenschaft. Zwar sollte der
Erfolg der konfessionellen Uniformierungsbemühungen von Staat und Kirche
auf der Alltagsebene auch hier nicht überschätzt werden. [26]
Immerhin hat Eduard Bloesch seinerzeit - mit Blick auf die Zeit nach der Mitte
des 17. Jahrhunderts - nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, daß die
"Volkstümlichkeit der [reformierten] Kirche und ihr nachhaltiges Wirken auf
die Gemüter" durch die geschlossene Parteinahme der Landpfarrer für
ihre Obrigkeiten im Bauernkrieg von 1653 "schwer geschädigt" worden
sei. [27] Dagegen waren die erwähnten Reibungstendenzen auf der
Ebene der schweizerischen Politik um so gefährlicher, als die Gemeinen
Herrschaften so etwas wie den "eigentliche(n) Kitt [darstellten], der die alte
Eidgenossenschaft nach der konfessionellen Spaltung zusammenhielt." [28]
Als zusätzlicher Risikofaktor gesellte sich seit den siebziger Jahren des
16. Jahrhunderts die in wachsendem Maße konfessionalistische Ausrichtung
der Bündnispolitik der beiden konfessionellen Parteien
hinzu.
Im Jahre 1577 äußerte sich dies
zunächst einmal - vor dem Hintergrund der Religionskriege in Frankreich -
in einem militärischen Schutz- und Schirmbündnis der katholischen Orte
Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Freiburg mit dem Herzogtum Savoyen, wodurch
sich diese indirekt nicht nur für die durch Savoyen schon lange angestrebte
Unterwerfung Genfs, sondern auch gegen die Westpolitik Berns
engagierten. [29] Als Reaktion darauf entstand zwei Jahre später
ein Schutzbündnis von Frankreich, Bern und Solothurn zugunsten Genfs, 1584
abgelöst durch ein dauerhafteres Schutzbündnis der Städte Bern
und Zürich mit Genf. Daß das katholische Solothurn vorübergehend
aus der konfessionellen Solidarität ausbrach, hing vor allem mit dem
französischen Einfluß auf die Außenpolitik dieser Stadt
zusammen, war sie doch seit 1530 Sitz des französischen Ambassadors, und in
zweiter Linie auch mit ihrer gezwungenermaßen vorsichtigen Politik als
unmittelbarer Nachbarin des mächtigen, reformierten
Bern. [30]
1579 schlossen die katholischen
Orte außerdem ein Bündnis mit dem Basler Fürstbischof Jakob
Christoph Blarer von Wartensee, der seit seiner Wahl (1575) mit Nachdruck den
Wiederaufbau seines heruntergekommenen Bistums betrieb. [31] Diese
Anstrengungen richteten sich gegen den konfessionellen Einfluß Berns im
Südjura, insbesondere jedoch gegen die konfessionellen und herrschaftlichen
Einflußversuche der reformierten Stadt Basel im Nordosten des
Fürstbistums. In diesem, durch den Vertrag von 1585 zwischen Stadt und
Bischof beendeten Streit erhielt letzterer durch die katholischen Orte wichtige
Unterstützung und
Rückendeckung. [32]
Die weitere
Entwicklung des Kriegsgeschehens in Frankreich bewirkte in den frühen
achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts unter den katholischen Orten eine
Distanzierung gegenüber der Politik der französischen Krone und eine
stärkere Anlehnung an die dezidiert katholische Politik Philipps II. von
Spanien. Vor diesem Hintergrund entstand Anfang Oktober 1586 der Goldene Bund
(später auch Borromäischer Bund genannt) als Sonderbündnis der
sieben katholischen Orte zur Erhaltung des katholischen Glaubens und am 12. Mai
1587 eine Allianz der fünf, später sechs (inklusive Freiburg, jedoch
ohne Solothurn) katholischen Orte mit Spanien, welche u.a. Bestimmungen zum
gegenseitigen militärischen Schutz, zum spanischen Durchmarschrecht und zur
Werbung von Soldtruppen in der Eidgenossenschaft enthielt. [33] Stellt
man dieses (1604 noch erweiterte) spanische Bündnis, welches bis weit in
die Zeit des Dreißigjährigen Krieges hinein Bestand haben sollte, in
Bezug zu der 1602 erneuerten alten Soldallianz mit Frankreich [34], so
wird deutlich, in welchem Maße die Schweiz an der Wende zum 17.
Jahrhundert in den Bannkreis der epochalen Auseinandersetzung zwischen
Frankreich und Habsburg hineingeraten war. Daß das Frankreich Ludwigs
XIII. eine in konfessioneller Hinsicht letztlich flexiblere Politik als Spanien
betrieb, ist in der Rückschau als Glücksfall für die Schweiz zu
bezeichnen, denn dadurch konnte in der Außenpolitik der
eidgenössischen Orte und ihrer Zugewandten keine längerfristige
Einheit von Konfessions- und Soldbündnispolitik entstehen, wenngleich
freilich zu fragen ist, ob sich eine derartige Einheit angesichts der wichtigen
wirtschaftlichen Aspekte des Soldunternehmertums überhaupt
hätte herstellen lassen. [35] Ihre zersetzende Wirkung wäre
nicht ausgeblieben, wie der Appenzeller Ausnahmefall zeigt, wo es 1597 aus
konfessionellen Gründen zur Kantonsteilung kam. Der Beitritt des
katholischen Kantonsteils zum spanischen Bündnis hatte dabei eine
Auslöserfunktion. [36]
Verunsichert
angesichts der vorübergehenden Annäherung des französischen Hofes
gegenüber Spanien im Anschluß an die Ermordung Heinrichs IV.,
schlossen Bern und Zürich 1612 mit dem Markgrafen von Baden ein
Schutzbündnis und 1615 ein ebensolches mit der Republik Venedig. Das
Bündnis mit dem Markgrafen war glücklicherweise befristet, so
daß die beiden Städte - und mit ihnen die übrige Schweiz - im
darauffolgenden Jahrzehnt nicht in den Strudel des süddeutschen
Kriegsgeschehens gerieten. Avancen der protestantischen Union gegenüber den
reformierten Städten der Eidgenossenschaft mit dem Ziel eines
Schutzbündnisses vermochten letztere jedoch zu widerstehen, und zwar mit
dem Hinweis, daß ein Anschluß an die protestantische Union ihren
Bündnisverpflichtungen gegenüber den katholischen Orten der
Eidgenossenschaft widersprechen würde. [37] Sie übten sich
also in dieser Situation in einer Politik des "Stillesitzens", der
Neutralität.
Die sich im Zuge des 16. und 17.
Jahrhunderts allmähliche herausbildende schweizerische
Neutralitätspolitik hat keine einheitlichen Wurzeln. Einen Ursprung hat man
verschiedentlich im Rückzug aus der Mächtepolitik der 1510er und
1520er Jahre erblicken wollen. [38] Dagegen ist nicht zu Unrecht
eingewendet worden, die Eidgenossen hätten die lange Dauer und damit die
längerfristige Tragweite des Ewigen Friedens von 1516 und des
Soldbündnisses mit Frankreich von 1521 damals noch in gar keiner Weise
abschätzen können. [39] Unzweifelhaft scheint mir jedoch,
daß die konfessionelle Frontbildung, wie sie der Zweite Kappeler
Landfrieden von 1531 bestätigt und verstärkt hat, auf beiden Seiten
der konfessionellen Trennlinie das Gebot des "Stillesitzens" im Interesse des
Zusammenhalts des eidgenössischen Bündnisgeflechts erheblich
aufwertete. [40] Entsprechend gefährlich war die Relativierung des
Neutralitätsprinzips, wie sie in den frühen 1630er Jahren von einem
Kreis reformierter Politiker ausging. In einer dialogförmigen Flugschrift
des pfälzischen Pamphletisten Johann Philipp Spieß geißelt
einer der beiden Gesprächspartner die Neutralität als nicht
bibelkonform und ruft aus: "Was die abscheuliche Neutralität betrifft, so
wird wahrlich kein Mensch, der seiner fünf Sinne mächtig ist, uns
raten, daß wir bei einer solch allgemeinen religiösen
Auseinandersetzung neutral oder keinem Teil zugetan und nur tatenlose Zuschauer
sein sollen." [41]
Hintergrund dieser
radikalen Infragestellung des "Stillesitzens" war ein formeller
Bündnisantrag des Schwedenkönigs Gustav Adolf an die
eidgenössische Tagsatzung, der erwartungsgemäß von den
katholischen Orten abgelehnt, von den vier evangelischen Städten
Zürich, Bern, Basel und Schaffhausen jedoch erst nach längeren
Erwägungen und Geheimverhandlungen verworfen wurde. [42] Nicht nur
der schwedische Sondergesandte, Ritter Kristoffer Ludwig Rasche, scheute keine
Anstrengung, für das schwedische Bündnis zu werben; auch Englands
Abgesandter Oliver Fleming trat bei den reformierten Orten dafür ein -
letztlich vergeblich. [43] Am meisten Gehör fanden diese beiden
Diplomaten in Zürich im Kreise um den einflußreichen Zürcher
Kirchenvorsteher Johann Jakob Breitinger und Bürgermeister Heinrich
Bräm. Dieser Kreis war eine eigentliche Kriegspartei, die meinte, mit dem
Erscheinen Gustav Adolfs in Deutschlands und schwedischer Truppen an der
Schweizer Nordgrenze sei die Möglichkeit der großen Abrechnung mit
den Katholiken in und außerhalb der Schweiz gekommen. Der pfälzische
Pamphletist Johann Philipp Spieß ist mit seiner vehementen
Neutralitätskritik diesem Kreis
zuzurechnen.
Daß diese Gruppe sich in den
kritischen Jahren 1631-1634 nicht durchzusetzen vermochte, lag nicht zuletzt an
der entsprechenden Zurückhaltung führender Politiker der anderen
evangelischen Städte, insbesondere Basels. Kein Zufall, daß der
Basler Johann Rudolf Wettstein die offizielle Antwort der Tagsatzung zu
redigieren hatte, als der schwedische Sondergesandte Rasche ultimativ die
Unterbindung spanischer Durchmärsche durch das Gebiet der Eidgenossenschaft
zu erzwingen versuchte. Sie geriet zu einer "förmlichen
Neutralitätserklärung". [44] Ähnlich wirkte sich die
vereinte Basler und Schaffhauser Politik auch in der wohl kritischsten Phase der
Schweizer Geschichte dieser Zeit aus, als es 1633 im Zusammenhang mit der
Belagerung von Konstanz zu schwedischen Grenzverletzungen im Thurgau kam, die
beträchtliche Spannungen zwischen der katholischen Innerschweiz und den
reformierten Orten, insbesondere Zürich, zur Folge hatten, und
vorübergehend zur akuten Gefahr nicht nur eines konfessionellen
Bürgerkrieges, sondern auch des Übergreifens des deutschen
Kriegsgeschehens auf die Schweiz führten. [45] Das konfessionelle
Klima jener Jahre wurde durch die Auswirkungen des kaiserlichen
Restitutionsedikts von 1629 in der Gemeinen Herrschaft Thurgau noch
zusätzlich vergiftet. [46] Sowohl die reformierten Städte als
auch die katholischen Orte trafen damals Vorbereitungen zum Krieg gegen den
konfessionellen Gegner. [47]
Basel und
Schaffhausen waren nicht allein durch ihre Grenzlage zu einer vorsichtigen
Haltung in Fragen der Bündnis- und Kriegspolitik gedrängt. Die
vermittelnde Rolle, die sie in den 1630er Jahren spielten, entsprach auch dem in
ihren Bundesverträgen von 1501 besonders erwähnten
Vermittlungsauftrag.
Kein Zufall also, daß
gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges die diplomatische Initiative
um Aufnahme der Eidgenossenschaft in das westfälische Friedenswerk und um
Bestätigung der Exemtion der eidgenössischen Orte von den
Institutionen des Reichs von Basel ausging. Der unmittelbare Anlaß dazu
war, daß das Reichskammergericht in zwei Rechtsfällen
Handelsgüter aus der Rheinstadt innerhalb des Reichs mit Arrest belegte,
weil die Basler Prozeßparteien die Vorladung mißachtet
hatten. [48] Rechtlich war die Sache unklar, weil Basel (neben
Schaffhausen und Appenzell) erst nach dem Basler Frieden, der 1499 die Exemtion
der Eidgenossen vom Reichskammergericht bestätigte, in die
Eidgenossenschaft aufgenommen worden war. Trotz des Desinteresses der
katholischen Orte hielten die evangelischen Orte - die vier reformierten
Städte sowie Appenzell-Außerrhoden und der reformierte Teil des
Kantons Glarus - an einer diplomatischen Mission nach Münster und
Osnabrück fest, mit der sie die Stadt Basel beauftragten, die diese
verantwortungsvolle Aufgabe wiederum in die Hände des Bürgermeisters
Johann Rudolf Wettstein legte. Die Mission Wettsteins ist Gegenstand eines
anderen Beitrages in diesem Band. [49] Sie endete überaus
erfolgreich mit der völkerrechtlichen Bestätigung der
Unabhängigkeit Basels und der übrigen Orte der Eidgenossenschaft vom
Reich und seinen
Institutionen. [50]
IV. Ein- und
Auswirkungen des Krieges
Im Unterschied zur
übrigen Schweiz wurde das Gebiet der Drei Bünde (Graubünden)
während zweier Jahrzehnte direkt in das Kriegsgeschehen hineingezogen. Hier
hatte sich im 15. und frühen 16. Jahrhundert ein aus dem Gotteshausbund,
dem Zehngerichtebund und dem Grauen Bund bestehendes, auf starker kommunaler
Autonomie beruhendes Staatsgebilde entwickelt. Mit dem Veltlin besaßen die
Drei Bünde seit 1512 ein einträgliches, freilich durch den
konfessionellen Konflikt stark aufgewühltes Untertanengebiet. [51]
In den Drei Bünden selbst ergaben sich in der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts in wachsendem Maße Spannungen zwischen dem politischen
Herrschaftsanspruch führender Familien und demjenigen der einzelnen
Gemeinden. [52] Unter Umgehung der regulären Institutionen der Drei
Bünde entschieden sich einzelne oder auch mehrere Gemeinden immer
häufiger für die direkte bewaffnete Aktion in Form von
"Fähnlilupf" und
Strafgericht. [53]
Die Frage der
außenpolitischen Orientierung trug das Ihre zur politischen
Destabilisierung im Innern bei. 1602 ließen sich die Drei Bünde in
das erneuerte französische Soldbündnis mit der Eidgenossenschaft
aufnehmen, welches Frankreich nun (neben Spanien) das nach 1620 wichtige
Durchmarschrecht sicherte. Ein Jahr später entschieden sie sich
außerdem, gegen den Widerstand Frankreichs und Spaniens, für ein
Bündnis mit Venedig. Daraufhin ließ der spanische Gouverneur von
Mailand jedoch als Retorsionsmaßnahme eine große Festung am Eingang
zum Veltlin an der Straße nach Chiavenna bauen, die nicht nur die
venezianischen Handelswege unterbrach, sondern die Drei Bünde als Herren
über das Veltlin direkt
bedrohte. [54]
Die führenden Familien
spielten zunehmend die Rolle von brokers - sowohl im ideologischen wie im
materiellen Sinne - Frankreichs, Habsburgs und Venedigs. Diese Mächte
bekundeten alle, freilich aus verschiedenen Motiven, ein vitales Interesse an
der Kontrolle der bündnerischen
Pässe.
Der politische Kampf zwischen den
führenden Familien verbunden mit der Frage nach der außenpolitischen
Orientierung der Drei Bünde vermischte sich auf schier unentwirrbare Weise
sowohl mit Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gemeinden als auch mit dem
kommunalen Widerstand gegen die "großen Hansen" im Jahr 1607, in welchem
Graubünden durch innere Unruhen bisher unbekannten Ausmaßes zerrissen
wurde. [55] In dieser Situation wurden die reformierten Prädikanten
- unter ihnen sollte vor allem Georg Jenatsch in den kommenden Jahrzehnten eine
prominente Rolle spielen - zu politischen Meinungsmachern und Anführern.
Das venezianische Bündnis wurde 1613 nicht erneuert, die spanische Partei
witterte Morgenluft, die "venezianisch" orientierten Gegner rüsteten auf.
Mit dem Strafgericht von Thusis von 1618/1619, welches letztere über ihre
"hispanischen" Gegner verhängten, war der weitere Lauf der Dinge
gewissermaßen vorgezeichnet. [56] Graubünden wurde
während zweier Jahrzehnte zum Spielball der Mächtepolitik, wobei im
folgenden aus Raumgründen nicht im einzelnen auf die verschiedenen Phasen
des Konflikts eingegangen werden
kann. [57]
Den Anfang der sogenannten
Bündner Wirren machte der Veltliner Mord vom Juli 1620, hauptsächlich
ausgelöst durch das Strafgericht von Thusis, ein Aufstand gegen die
bündnerische Herrschaft, welchem der größte Teil der
reformierten Minderheit im Veltlin zum Opfer fiel. Unmittelbarer Profiteur war
Spanien-Mailand, welches das Veltlin militärisch besetzte. [58]
Dreimal, zwischen 1620 und 1631, wurden die Drei Bünde durch habsburgische
Truppen überschwemmt, gefolgt von Kapuzinern, die sich der Rekatholisierung
reformierter Gemeinden annahmen, und von der Pest, die die Soldaten ins Land
brachten. Dazwischen gelang es 1625 mit französischer Hilfe das Veltlin
zurückzuerobern.
Erst nach 1631 wurde das
militärische Engagement Frankreichs unter der Führung des
hugenottischen Herzogs von Rohan nachhaltiger. Ihm gelang 1635 die
Wiedereroberung des Veltlins. Doch hatte Richelieu in der neuen
mächtepolitischen Situation nach der Niederlage der Schweden bei
Nördlingen (1634) kein entschiedenes Interesse, die Kontrolle über das
Veltlin und die Bündner Pässe an die Bündner Magnatenfamilien
zurückzugeben, deren vorrangiges Ziel es seit 1620 war, ihr
einträgliches Untertanengebiet wieder zurückzugewinnen. Es kam daher
1637 zu einem von Jenatsch u.a. mit habsburgischem Wissen orchestrierten,
erfolgreichen Aufstand gegen die französische Besatzungsmacht, die 1637
Graubünden verlassen mußte.
Der
inzwischen zum Katholizismus konvertierte Georg Jenatsch, der nach diesem
erneuten Umschwung die Drei Bünde politisch dominierte, wurde Ende Januar
1639 von Gegnern ermordet. Im Herbst desselben Jahres kam in Mailand ein Ewiger
Friede mit Spanien zustande. Durch das damit verbundene Mailänder Kapitulat
wurde den Drei Bünden das Veltlin zurückerstattet, jedoch nur unter
der Maßgabe, daß die reformierte Konfession sich dort nicht wieder
festsetzen dürfe und unter dem Vorbehalt eines gewissen spanischen
Aufsichtsrechts über die Verwaltung dieses Untertanengebiets. Eine
vertragliche Verständigung mit dem Haus Österreich wurde erst zwei
Jahre später erreicht. Sie ermöglichte in den Jahren 1647-1652 den
Auskauf der in acht Gerichten und im Unterengadin verbliebenen hochgerichtlichen
Rechte der Habsburger. [59] Damit war die Unabhängigkeit der Drei
Bünde endgültig gesichert.
Zu schwereren
Grenzverletzungen außerhalb des Gebiets der Drei Bünde kam es 1633
und 1638. Die erste vom September 1633 hat bereits Erwähnung gefunden:
Schwedische Truppen überschritten bei Stein am Rhein und Gottlieben den
Rhein und belagerten daraufhin während mehrerer Wochen von der Thurgauer
Seite her vergeblich die Stadt Konstanz. Dieser Vorgang mit seinen Folgen
führte die Eidgenossenschaft an den Rand des Krieges. Als Herzog Bernhard
von Sachsen-Weimar im Januar 1638 vom Bistum Basel aus durch stadtbaslerisches
Gebiet ins vorderösterreichische Fricktal vordrang und die vier
Waldstädte eroberte, wurde dies "als eine fast ebenso starke
Neutralitätsverletzung empfunden wie fünf Jahre früher der Marsch
des schwedischen Generals Horn durch den Thurgau nach Konstanz." [60]
Die Tagsatzung reagierte zum ersten Mal mit dem einhelligen Beschluß,
derartige Durchzüge in Zukunft mit Gewalt verhindern zu wollen. Die Idee
der bewaffneten Neutralität begann sich durchzusetzen. Erste Ansätze
zu einer gesamteidgenössischen militärischen Grenzschutzorganisation
wurden 1647 vor dem Hintergrund eines letzten schwedischen Vorstoßes bis
an den Bodensee im sogenannten Defensionale von Wil
geschaffen.
Zwar profitierte die Schweizer
Agrarwirtschaft aufs Ganze gesehen vom Dreißigjährigen Krieg, doch
darf, wenn von den Auswirkungen des Krieges in der Schweiz die Rede ist, auch
nicht übersehen werden, daß die kriegsbedingte Versorgungspolitik vor
allem die Grenzstädte Basel und Schaffhausen insbesondere hinsichtlich der
Getreide- und Salzversorgung in manche Nöte
stürzte. [61]
Gleichzeitig hatte die
Bevölkerung vor allem der Städte immer wieder Flüchtlinge aus dem
Kriegsgebiet zu versorgen. In Basel fanden gut situierte
Glaubensflüchtlinge aus Colmar und Markirch (Sainte-Marie-aux-Mines) sowie
Flüchtlinge aus der Pfalz Aufnahme, daneben aber auch - besonders in den
1630er Jahren - flüchtige Landbevölkerung aus den benachbarten
Gegenden der Markgrafschaft und des Sundgaus. [62] Eine Reihe
vertriebener elsässischer und pfälzischer Pfarrer fand in reformierten
Kantonen einen neuen Tätigkeitsbereich. [63] In Zürich kamen
neben Vertriebenen aus der Pfalz und Süddeutschland von den frühen
1620er Jahren an auch regelmäßig Dutzende von Flüchtlingen aus
dem Veltlin und den Drei Bünden hinzu. Nach der Schlacht bei
Nördlingen 1634 waren es vorübergehend 700 bis 800 Flüchtlinge,
eine Zahl, die rund ein Zehntel der gesamten Stadtbevölkerung Zürichs
ausmachte. [64]
Man wird also nicht
behaupten können, daß die Schweizer als müßige Betrachter
der Tragödie Deutschlands von dort bloß allen Reichtum an sich
gezogen hätten, wie dies 1648 ein Zeitgenosse behauptete. [65] Aber
wenn wir von dem schlimmen Kriegsschicksal Graubündens einmal absehen,
waren die Kriegsjahre wohl für die meisten Schweizerinnen und Schweizer mit
nur wenig Unannehmlichkeiten verbunden, für manche aber mit beruflichem
oder geschäftlichem Gewinn. Der ideelle Gewinn an konfessioneller
Toleranzfähigkeit, der sich den schweizerischen spectatores tragoediae
Germaniae hätte aufzwängen können, blieb freilich gering: Im
Unterschied zum Reich fand in der Schweiz der letzte Konfessionskrieg erst im
Jahre 1712
statt.