DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa |
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Textbände > Bd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft |
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HEINZ DUCHHARDT
Der Westfälische Friede als lieu de mémoire in Deutschland und
Europa |
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So wenig ein Zweifel daran bestehen
kann, daß der Westfälische Friede - durch die Verknüpfung der
Reichsverfassungsordnung mit Nachbarstaaten, durch territoriale Verschiebungen
nicht unbeträchtlichen Ausmaßes, durch die Beendigung eines
80jährigen Emanzipationsprozesses eines neuen Staates, durch die
förmliche Anerkennung der uneingeschränkten Souveränität
eines anderen (bündisch organisierten) Staatswesens und durch andere
Faktoren - eine europäische Zäsur darstellt, so wenig vermochte die
pax christiana von 1648 in die Qualität eines europäischen
lieu de mémoire
hineinzuwachsen.
Generell ist ja zu konstatieren,
daß es kaum Bezugspunkte für eine für ganz Europa gültige
Erinnerungskultur gibt, keine Ereignisse oder Personen von
gesamteuropäischer Relevanz, die indirekt den Prozeß des
Zusammenwachsens des Kontinents abstützen oder beschleunigen könnten,
so daß von mancher Seite das "Mythendefizit" Europas offen beklagt
wird. [1] In die Funktion von lieux de mémoire
könnten natürlich nur positiv konnotierte Ereignisse hineinwachsen,
und zudem nur solche, die für einen Großteil des Kontinents von
Bedeutung waren - da das letztlich weder für Tours/Poitiers 732 noch
für Liegnitz 1241 oder für Wien 1683 galt, weder für die
Kreuzzüge noch die 1848er Revolution, weder für Karl den Großen
noch Napoleon Bonaparte, ist es noch nicht einmal in Ansätzen zu einer
gemeinsamen Erinnerungskultur gekommen, so daß man sich im
gegenwärtigen Europa nolens volens damit begnügt, die runden
Jahrestage der Römischen Verträge im Sinn eines lieu de
mémoire zu begehen.
Nun kann man
selbstverständlich auch keine historischen Daten oder Ereignisse durch
politisch-publizistische Maßnahmen zu einem europäischen event
aufwerten, und selbst wenn man es versuchte, wäre das beim
Westfälischen Frieden mit Sicherheit ein vergebliches Unterfangen. Ein
unbestreitbares politisches Schlüsselereignis muß nicht immer auch
einen entsprechenden positiven Widerhall und Eingang ins kollektive
Bewußtsein finden: Der Westfälische Friede hatte
zugegebenermaßen in vielem Kompromißcharakter, ließ manche
Aufgabe ungelöst, vermochte nicht eine dauerhafte europäische
Friedensordnung aufzubauen, begegnete bis weit in unser Jahrhundert hinein
massiven Vorbehalten des katholischen Teils Europas. Trotz einer
ausgeprägten Erinnerungskultur im protestantischen Deutschland und in
einigen in besonderer und positiver Weise von ihm betroffenen Nachbarstaaten:
Dies war und ist zu wenig, um im Westfälischen Frieden ein Grunddokument
des neueren Europa, etwa auch im Sinn eines Fanals der Toleranz oder des
modernen Völkerrechts zu sehen. Der Westfälische Friede eignet sich
nicht oder allenfalls höchst bedingt zu einem europäischen lieu de
mémoire, auch wenn sein politischer "Ort" im Ablauf der neueren
Geschichte des Kontinents unbestritten ist.
***
Dies schließt aber nicht aus, daß er in der
Erinnerungskultur von Einzelstaaten einen hervorgehobenen Platz einnehmen
könnte. In Deutschland, das es ja viel schwerer als mancher seiner Nachbarn
hat, positiv konnotierte Ereignisse seiner eigenen Geschichte zum Rang von
Mythen und zu Faktoren zu befördern, die das kollektive Bewußtsein
prägen, hat es freilich der Westfälische Friede mit seiner allgemeinen
Akzeptanz immer schwer gehabt. So unbestritten es war, daß er das
Verfassungsrecht des Alten Reiches vernünftig und gut geregelt hat und (was
eher mythenverhindernd war) über eineinhalb Jahrhunderte ein
Fundamentalgesetz des Reichscorpus blieb, über dessen Interpretation und
Auslegung in Einzelfragen sich allenfalls die Juristen in die Haare
gerieten [2], so sehr galt er in der öffentlichen Meinung des
ancien régime doch als ein "protestantisches" Dokument, das dem
Katholizismus einen nicht mehr wettzumachenden Rückschlag versetzt habe. Es
war von daher auch kein Zufall, daß sich vor allem in den protestantischen
Städten und in denjenigen Kommunen, die durch die Zuerkennung der
Parität in nachhaltiger Weise vom Westfälischen Frieden profitiert
hatten, eine spezifische Erinnerungskultur entwickelte. Hier ist an Augsburg und
sein von einer hochwertigen Gebrauchskunst begleitetes jährliches
Friedensfest zu denken [3], aber auch an die süddeutschen
Reichsstädte von Nürnberg bis Lindau, die zumindest an den "runden"
Jahrestagen Gedenkmedaillen prägen ließen [4] und in
Festgottesdiensten des Ereignisses gedachten. Schon nicht mehr gilt das für
die katholische Friedensstadt Münster, wo man in größerem Stil
erst anläßlich des Jubiläums 1898 den Frieden
gewissermaßen
wiederentdeckte. [5]
Nach dem recht
unspektakulären Ende des Alten Reiches kam etwas hinzu, was man als
grundsätzlichen Paradigmenwechsel bezeichnen könnte und was für
die Beurteilung des Westfälischen Friedens nachhaltig negativ zu Buche
schlug: die Verächtlichmachung des Alten Reiches, das nicht konsequent den
Weg zum nationalen Einheitsstaat beschritten habe und deswegen von seinen
Nachbarn schamlos habe ausgenutzt werden können. In einer solchen
Perspektive, für die etwa der Berliner Historiker Friedrich Rühs und
seine deutsch-französische Beziehungsgeschichte steht [6], kam dem
Westfälischen Frieden geradezu eine Schlüsselrolle zu: als Beginn
einer verhängnisvollen Fremdsteuerung des deutschen Reiches durch seine
potenteren Nachbarn, als Sieg des Partikularismus und Regionalismus über
die zentralstaatliche Tendenz. Es sollte bis in die 1950er/1960er Jahre dauern,
bis diese Sichtweise, die durch die nationalsozialistische Ideologie noch einmal
eine ungeheure Zuspitzung erfuhr [7], durch ein neues Paradigma
abgelöst wurde, das den Rechts- und Friedensverband des Alten Reiches
angemessen zu würdigen vermochte und im kräftigen Nationalstaat nicht
mehr das Ziel der deutschen Geschichte schlechthin erblickte. [8]
Die eineinhalb Jahrhunderte währende Negativierung des Westfälischen
Friedens hat so tiefe Spuren hinterlassen, daß - vor allem auch in
Verbindung mit dem eher negativ besetzten Bild des Friedens im katholischen
Deutschland - kaum etwas dafür spricht, der Westfälische Friede
könne zu einem wirklichen nationalen lieu de mémoire
werden.
Man muß dies so nüchtern und
emotionslos konstatieren, obwohl ja allgemein bekannt ist, wie viele Probleme
ein Verbund von Territorialstaaten, der sich erst 1871 eine nationale
Organisationsform gab, hatte und haben mußte, nationale lieux de
mémoire zu entwickeln. [9] Sedansfeste und Kaisergeburtstage
waren Versuche, so etwas wie eine nationale Festkultur mit
identitätsstiftender oder doch -verstärkender Wirkung ins Leben zu
rufen - alles in allem aber gescheiterte Versuche, wobei das Scheitern sicher
auch damit zusammenhing, daß weder das nicht zur Honoratiorenschicht zu
zählende Volk in genügender Weise einbezogen wurde noch die Berufung
auf historische Mythen und Symbole ausreichend war. Bezeichnenderweise wurde von
den politisch Verantwortlichen schon nach sehr kurzer Zeit fehlender Resonanz
wegen das Vorhaben aufgegeben, die Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871 zu
einem nationalen Gedenktag aufzuwerten. Seit seiner nationalen Verstaatung
krankte Deutschland an einem Defizit nationaler Mythen, und es war in hohem
Maß bezeichnend, daß im Kaiserreich eine eigene Gesellschaft
"Deutsche Nationalfeste" ins Leben trat, um diesem Mangel abzuhelfen. An ein mit
dem Westfälischen Frieden zusammenhängendes Nationalfest hat freilich
- und dies ist ohne jede Einschränkung nachvollziehbar - auch jene im
konservativen Spektrum angesiedelte, 1897 gegründete Gesellschaft nie
gedacht, die vielmehr das Niederwalddenkmal in den Rang eines nationalen lieu
de mémoire zu erheben suchte. Das nationale Pathos verbot es von
selbst, ein Ereignis zu stilisieren, bei dem der Nachbar westlich des Rheins auf
der Gewinnerseite - tatsächlich oder vermeintlich - gestanden
hatte.
***
Für andere europäische Staaten, für die
der Westfälische Friede geradezu die Funktion einer Art Geburtsurkunde hat,
stellt sich das Problem selbstverständlich anders dar. Hier sollen die
Niederlande herausgegriffen werden [10], die im ersten Teil des
Bündels der Friedensverträge, im Separatfrieden mit Spanien vom 30.
Januar 1648, förmlich in ihre Unabhängigkeit entlassen worden waren.
Nichts ist bezeichnender für den hohen Stellenwert des Westfälischen
Friedens auch noch in dem heutigen Staatswesen, daß der erste von mehreren
großen Fachkongressen im August 1996 dort - in Nimwegen (und
außerdem in Kleve) - stattfand, daß sich ein nationales Komitee mit
den Vorbereitungen der Gedenkveranstaltungen beschäftigt und daß
allein fünf Ausstellungen in verschiedenen niederländischen
Städten geplant sind.
Einer näheren
Betrachtung der niederländischen Erinnerungskultur muß freilich die
Feststellung vorausgeschickt werden, daß es immer einen Zwischenton gab,
der die Rundum-Hochschätzung des Westfälischen Friedens etwas
relativierte: die seit 1648 irreversible Spaltung des niederländischen
Volkes und seine Aufteilung auf zwei Staatswesen (deren Nachfolgestaaten dann
nur im 19. Jahrhundert noch einen - nach kurzer Zeit gescheiterten - Versuch
wagten, die politische Einheit wiederherzustellen). Es gab durch die
Jahrhunderte hindurch - am wenigsten vielleicht bei der Säkularfeier 1748 -
nicht wenige groß-niederländisch orientierte Politiker und
Wissenschaftler, die aus diesem Grund dem seinerzeitigen Ausgleich mit Spanien,
der den Weg frei machte für (fast) unbegrenzten kommerziellen und
wirtschaftlichen Aufschwung, reserviert
gegenüberstanden.
Aber dies galt und gilt
nicht für die große Masse der Niederländer; der
Westfälische Friede zählte und zählt für sie zu den
zentralen Elementen ihres kollektiven Bewußtseins - und dies trifft
zweifellos auch für jene Provinz zu, die sich 1648 der Unterschriftleistung
entzogen hatte. Obwohl in den Niederlanden im Winter 1747/48 ganz andere
Probleme im Vordergrund standen und die Menschen bewegten - ein Krieg, der
direkt auf die Republik übergegriffen hatte und dessen Ende noch nicht
absehbar war, soziale Unruhen, die ursächlich mit diesem Krieg
zusammenhingen, eine verheerende Rinderpest -, kam es zu einer ganzen Fülle
von Gedenkveranstaltungen, in denen oftmals ein- und dasselbe Thema angesprochen
und variiert wurde: der Friede von Münster als besonderer Beweis der
Verbundenheit Gottes mit seinem auserwählten Volk, dem "anderen Israel".
Neben Gedichtbänden, an denen sich renommierte Schriftsteller beteiligten
und in denen häufig Linien bis hin zu dem aktuellen Friedensjahr - soweit
sich dies je nach Erscheinungsdatum schon abzeichnete - gezogen wurden, neben
Gedenkmedaillen sind hier vor allem einige Zeitschriften zu nennen, die sich
für das Friedensgedenken einsetzten, etwa "de Europise staatssecretaris",
der alle Bewohner der Republik aufrief, die Jahrhundertfeier des Friedens
feierlich zu begehen. Der Unterton ist der einer Sakralisierung der nationalen
Geschichte: Nach 1648 sei in Europa kein neuer Staat entstanden, die Republik
sei also - nach einer biblischen Metapher - der letztgeborene Sohn Gottes:
Gottes, der schon vor 1648 das Gemeinwesen auf wunderbare Weise errettet und bei
seiner Geburt aktiv mitgeholfen habe. Dieses Thema wurde natürlich auch bei
den vielen Gedenkpredigten überall im Land immer wieder
aufgegriffen.
Zwar kam es - durch die
Umstände bedingt - 1748 nicht zu einer Festaufführung des
"klassischen" Theaterstücks von Joost van den Vondel "De Leeuwendalers",
das 1648 seine Premiere erlebt hatte, und anders als 100 Jahre zuvor fanden auch
keine Umzüge und andere öffentliche Massenmanifestationen statt. Das
ändert aber nichts an der Tatsache, daß 1748 der Westfälische
Friede in Gestalt des spanisch-niederländischen Separatvertrags als ein
Ereignis von höchstem Symbolgehalt für die nationale Geschichte
eingestuft und, soweit das angesichts der aktuellen Verhältnisse
möglich war, auch begangen wurde. Daran sollte sich auch bis 1948
überhaupt nichts ändern. Erneut unter ungünstigen
äußeren Bedingungen, koordinierte erstmals ein Nationalkomitee
sämtliche Veranstaltungen, die eine breite Palette von Vorträgen,
Zeitungsartikeln und Hörspielen sowie eine nationale Gedenkfeier und eine
stark beachtete Ausstellung im Delfter Prinsenhof einschlossen. Auch die
wissenschaftlichen Publikationen aus dem Gedenkjahr 1948 unterstrichen deutlich,
daß der Westfälische Friede als einer der wichtigsten Meilensteine
der nationalen Geschichte einzustufen sei. Für die Niederlande, die ihre
Existenz und Selbständigkeit ja gewiß nicht mit antiken Ereignissen
in einen Zusammenhang bringen konnten, hatte und hat der Westfälische
Friede - neben der Utrechter Union, neben Wilhelm dem Schweiger - eine emotional
wichtige Dignität, ohne deswegen aber mythisch verfremdet zu
werden.
***
Bei dem anderen Staatsgebilde, das 1648 förmlich -
allerdings eher indirekt - definitiv in die Souveränität entlassen
wurde, sieht das schon wieder anders aus. In der Eidgenossenschaft hatte sich
bereits deutlich vor der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Art nationaler Mythos
ausgebildet, ein Schlüssel des Selbstverständnisses, der sich zwar
noch nicht in Zentenarfeiern niederschlug, aber faßbar war: der Mythos des
Bundesbriefs von 1291. [11] Es hat den Anschein, daß sich
gegenüber diesem Mythos der Westfälische Friede im kollektiven
Bewußtsein nie als ein konstitutives Dokument durchzusetzen vermochte.
Daß der Basler Bürgermeister Wettstein in seiner Heimatstadt und
Teilen der deutschsprachigen Schweiz durch die Jahrhunderte hindurch eine
gewisse Popularität behielt, ändert an dieser Feststellung
nichts.
***
Mit einigen Worten soll Frankreichs gedacht werden,
für dessen Fachwissenschaft seit dem 18. Jahrhundert und in dessen
nationaler Geschichte es natürlich Ereignisse von viel größerer
Dignität gab, als daß der Westfälische Friede mit diesen
lieux de mémoire in irgendeiner Weise hätte konkurrieren
können - sei es Chlodwigs Taufe, Jeanne d'Arc oder der 14. Juli 1789, um es
plakativ zu formulieren. Des Elsaß-Aspekts wegen, also der Tatsache, dem
habsburgischen Rivalen und dem benachbarten Staatenverbund ein (kulturell,
wirtschaftlich, geostrategisch) wichtiges Territorium entwunden und damit die
dauernde und uneingeschränkte Angliederung des gesamten Elsasses
vorbereitet zu haben, dieses Aspekts wegen konnte der Westfälische Friede
allerdings in der öffentlichen Meinung Frankreichs und bei der
Konstituierung der Geschichtsbilder immer eines hohen Stellenwerts sicher sein.
Es war vor diesem Hintergrund auch kein Zufall, daß die durch die
Kriegseinwirkungen noch arg am Boden liegende Republik 1948 die Kraft und die
Ressourcen fand, um gleich mit zwei Ausstellungen des 300. Jahrestags des
Friedens von Münster zu gedenken; ebenso symptomatisch war, daß die
eine dieser Ausstellungen im Straßburger Palais de Rohan stattfand und
unter dem Titel "L'Alsace Française 1648-1948" ganz ausschließlich
der Elsaß-Thematik gewidmet
war. [12]
In Frankreich trägt die
Fachwissenschaft, mehr vielleicht als in irgendeinem anderen europäischen
Staat, in hohem Maß zur Formung und Veränderung des Geschichtsbildes
bei, und insofern macht es Sinn, einen Blick auf wenigstens zwei
französische Historiker des 19. Jahrhunderts zu werfen und ihre Sicht des
Westfälischen Friedens wiederzugeben. Bewußt wurden solche Historiker
ausgewählt, die in Gesamtdarstellungen der Epoche auf den
Westfälischen Frieden eingehen mußten - das französische
Publikum nimmt weitaus eher solche Gesamtsynthesen zur Kenntnis als
Spezialabhandlungen. Dies war und ist um so mehr der Fall, wenn die fraglichen
Historiker auch im öffentlichen Leben ihres Landes eine Rolle spielen.
Henri Martins Gesamtdarstellung der "Histoire de France" [13] galt bis
zu Lavisses Sammelwerk als das führende französische Geschichtsbuch
mit einer außerordentlich weiten Ausstrahlung in das französische
"Bildungsbürgertum" hinein. Der hier einschlägige Band " [...] depuis
les temps les plus reculés jusqu'en 1789" erschien erstmals 1835 und
erlebte bezeichnenderweise bereits 1855 eine vierte Auflage. Nach Martins
Interpretation reduzierte sich die Bedeutung des Westfälischen Friedens im
wesentlichen auf zwei Aspekte: die Befreiung und Organisation Deutschlands und
die Vergrößerung Frankreichs und Schwedens. Was den ersten Punkt
betrifft, so kommt es Martin darauf an, den Kollaps der kaiserlichen Macht zu
demonstrieren, auf deren Trümmern ein Föderativsystem errichtet worden
sei, das ausgesprochen weitreichend gewesen sei, weil das Bündnisrecht der
Stände die Grenzen einer Föderation sogar zu überschreiten
scheine; das Föderativsystem sei aber funktionabel gewesen, indem es durch
die in der "tradition immémoriale de la Germanie" stehende Garantie
Frankreichs kontrolliert worden sei. Noch mehr Raum widmet Martin den
Territorialveränderungen, die - soweit sie Frankreich betrafen - vor der
Folie seiner grundsätzlichen Position zu sehen sind, daß er selbst
die zu seiner Zeit gültigen Grenzen Frankreichs als willkürlich
einstuft und verurteilt, weil sie Frankreichs natürliche Ausgeglichenheit
beeinträchtigten. Insofern kann er mit der Lothringen-Regelung - "c'est un
abandon à peine déguisé" - überhaupt nicht
einverstanden sein, wohingegen er den Anfall des Elsasses an die Krone
Frankreich als eine selbstverständliche Entschädigung für ihr
militärisches Engagement und für ihre Übernahme der Rolle einer
Garantiemacht bewertet. Dies habe auch deswegen in der Logik des Augenblicks
gelegen, weil es sich beim Elsaß ohnehin um Gebiete handle, die
rechtmäßig Frankreich gehörten: " [...] la Germanie restitue
l'Alsace à la vieille Gaule, qui franchit joyeusement les Vosges pour
retrouver son humide frontière des anciens jours". Von der
Grundprämisse der nicht in Frage zu stellenden und kontinuierlich
weiterzuentwickelnden nationalen Einheit Frankreichs her mußte den
Zeitgenossen ein Bild vermittelt werden, das nicht nur die Legitimität,
sondern auch die Irreversibilität des Vorgangs von 1648 - samt den
später erfolgenden Reunionen -
pointierte.
Für Historiker, die nach 1871
schrieben, wurde die Argumentation schwieriger - sofern sie nicht im nackten
Revanchismus ihre Zuflucht suchten -, auch deswegen, weil natürlich auch
von deutscher Seite bei der Rückgliederung des Elsasses historische Momente
ins Feld geführt worden waren. In der Einleitung zu seinem 1884
publizierten Österreich-Band des "Recueil des instructions" [14],
mit dem das gewaltige Editionsunternehmen gestartet wurde, räumt Albert
Sorel bemerkenswerterweise dem Elsaß-Aspekt nicht den breitesten Raum ein;
für Sorel sind die Gebietsabtretungen von 1648 zwar politisch und rechtlich
unzweifelhaft, die Vertragspartner hätten aber derart
mißverständliche Formulierungen gewählt, daß daraus noch
eine ganze Reihe von Konflikten mit der Casa de Austria entsprungen
seien. Österreich habe diese Unklarheiten gezielt auszunutzen gesucht, um
die Rechte der Krone Frankreich immer wieder anzufechten und in Zweifel zu
ziehen. In der Folgezeit sei - wer hören wollte, mochte aufmerken -
Frankreichs Politik eher die gewesen, die kleinen Staaten in Europa gegen die
Begehrlichkeit größerer in Schutz zu nehmen. Deswegen sei auch das
Renversement des Alliances von 1756 für Frankreichs europäische
Funktion eher abträglich gewesen, weil es seine Rolle als Protektor
mindermächtiger Staaten nicht gestärkt
habe.
Es ist keine Frage, daß die
französischen Historiker des 19. Jahrhunderts den Stellenwert des
Westfälischen Friedens für die nationale Geschichte recht hoch
ansetzten, weil er mit dem Zugewinn einer wichtigen Provinz verbunden war und
einen (vermeintlichen) Triumph über den Nachbarn jenseits des Rheins
darstellte. Aber da Frankreich im Verlauf seiner Geschichte mehr als eine
Provinz erworben hatte, konnte der Westfälische Friede in Frankreich nie in
den Rang eines unbestrittenen nationalen lieu de mémoire
aufsteigen.
***
Es wäre eine reizvolle Aufgabe, diese Linie hier
noch weiter zu ziehen: bis nach Spanien, wo der Westfälische Friede - von
den beiden
Instrumenta Pacis vom Oktober 1648 blieb der Habsburgerstaat
ja ausgeschlossen - als ein Tiefpunkt der nationalen Geschichte
eingeschätzt werden mußte und allenfalls zu einem negativen
lieu
de mémoire werden konnte, bis nach Schweden, wo von den nachfolgenden
Generationen die Kosten der Erfolge gewichtet und der Westfälische Friede
als eine Art Peripetie erkannt worden sein mag. All dies muß, nicht
zuletzt der fehlenden oder ungenügenden Vorarbeiten wegen, hier
unterbleiben. Aber auch ohne die präzise Ausleuchtung dieser
Forschungsfelder wird sich mit aller Vorsicht formulieren lassen, daß sich
ein überaus nüchternes, wenig spektakuläres,
Kompromißcharakter tragendes und lange auch noch im Sinn von geltendem
Recht fortwirkendes Dokument kaum irgendwo in den beteiligten Staaten zu einem
wirklichen
lieu de mémoire eignete und selbst in den Niederlanden
eher als ein politisch und emotional wichtiger Einschnitt, aber kaum als ein ins
Mythische gesteigerter Ort der Selbstfindung gilt. Die vielen wissenschaftlichen
und politischen Aktivitäten im Jubiläumsjahr werden daran nichts
Grundsätzliches ändern und vor allem auch nicht den Westfälischen
Frieden zu einer Frühform der KSZE oder einem Vorläufer der
Europäischen Union stilisieren können.
ANMERKUNGEN
1. Schmale 1997.
2. Kremer
1989.
3. Dazu jetzt Roeck 1998. Die
"Friedensgemälde" in Jesse 1981.
4.
Zahlreiche Beispiele in Galen 1988.
5. Duchhardt
1997.
6. Rühs 1818. Vgl. auch den von Langer
1994, S. 183f., mitgeteilten Auszug aus dem
Werk.
7. Vgl. beispielsweise Behr
1983.
8. Grundlegend für diese neue Sicht die
Monographie von Dickmann 1959, auch wenn sich dort durchaus noch
Überbleibsel alter Interpretationstraditionen
finden.
9. Zum Folgenden Mosse
1976.
10. Im Folgenden stütze ich mich auf
Schepper/Vet 1998.
11. Kreis
1991.
12. Pieper 1950, S.
68-74.
13. Martin
1833ff.
14. Recueil des instructions 1884ff.
© 2001 Forschungsstelle "Westfälischer Friede", Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Domplatz 10, 48143 Münster, Deutschland/Germany. - Stand dieser Seite: 2. Mai 2002