Forschungsstelle "Westfälischer Friede": Dokumentation

DOKUMENTATION | Ausstellungen: 1648 - Krieg und Frieden in Europa

Textbände > Bd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft

HEINZ DUCHHARDT
Der Westfälische Friede als lieu de mémoire in Deutschland und Europa

So wenig ein Zweifel daran bestehen kann, daß der Westfälische Friede - durch die Verknüpfung der Reichsverfassungsordnung mit Nachbarstaaten, durch territoriale Verschiebungen nicht unbeträchtlichen Ausmaßes, durch die Beendigung eines 80jährigen Emanzipationsprozesses eines neuen Staates, durch die förmliche Anerkennung der uneingeschränkten Souveränität eines anderen (bündisch organisierten) Staatswesens und durch andere Faktoren - eine europäische Zäsur darstellt, so wenig vermochte die pax christiana von 1648 in die Qualität eines europäischen lieu de mémoire hineinzuwachsen.

Generell ist ja zu konstatieren, daß es kaum Bezugspunkte für eine für ganz Europa gültige Erinnerungskultur gibt, keine Ereignisse oder Personen von gesamteuropäischer Relevanz, die indirekt den Prozeß des Zusammenwachsens des Kontinents abstützen oder beschleunigen könnten, so daß von mancher Seite das "Mythendefizit" Europas offen beklagt wird. [1] In die Funktion von lieux de mémoire könnten natürlich nur positiv konnotierte Ereignisse hineinwachsen, und zudem nur solche, die für einen Großteil des Kontinents von Bedeutung waren - da das letztlich weder für Tours/Poitiers 732 noch für Liegnitz 1241 oder für Wien 1683 galt, weder für die Kreuzzüge noch die 1848er Revolution, weder für Karl den Großen noch Napoleon Bonaparte, ist es noch nicht einmal in Ansätzen zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur gekommen, so daß man sich im gegenwärtigen Europa nolens volens damit begnügt, die runden Jahrestage der Römischen Verträge im Sinn eines lieu de mémoire zu begehen.

Nun kann man selbstverständlich auch keine historischen Daten oder Ereignisse durch politisch-publizistische Maßnahmen zu einem europäischen event aufwerten, und selbst wenn man es versuchte, wäre das beim Westfälischen Frieden mit Sicherheit ein vergebliches Unterfangen. Ein unbestreitbares politisches Schlüsselereignis muß nicht immer auch einen entsprechenden positiven Widerhall und Eingang ins kollektive Bewußtsein finden: Der Westfälische Friede hatte zugegebenermaßen in vielem Kompromißcharakter, ließ manche Aufgabe ungelöst, vermochte nicht eine dauerhafte europäische Friedensordnung aufzubauen, begegnete bis weit in unser Jahrhundert hinein massiven Vorbehalten des katholischen Teils Europas. Trotz einer ausgeprägten Erinnerungskultur im protestantischen Deutschland und in einigen in besonderer und positiver Weise von ihm betroffenen Nachbarstaaten: Dies war und ist zu wenig, um im Westfälischen Frieden ein Grunddokument des neueren Europa, etwa auch im Sinn eines Fanals der Toleranz oder des modernen Völkerrechts zu sehen. Der Westfälische Friede eignet sich nicht oder allenfalls höchst bedingt zu einem europäischen lieu de mémoire, auch wenn sein politischer "Ort" im Ablauf der neueren Geschichte des Kontinents unbestritten ist.

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Dies schließt aber nicht aus, daß er in der Erinnerungskultur von Einzelstaaten einen hervorgehobenen Platz einnehmen könnte. In Deutschland, das es ja viel schwerer als mancher seiner Nachbarn hat, positiv konnotierte Ereignisse seiner eigenen Geschichte zum Rang von Mythen und zu Faktoren zu befördern, die das kollektive Bewußtsein prägen, hat es freilich der Westfälische Friede mit seiner allgemeinen Akzeptanz immer schwer gehabt. So unbestritten es war, daß er das Verfassungsrecht des Alten Reiches vernünftig und gut geregelt hat und (was eher mythenverhindernd war) über eineinhalb Jahrhunderte ein Fundamentalgesetz des Reichscorpus blieb, über dessen Interpretation und Auslegung in Einzelfragen sich allenfalls die Juristen in die Haare gerieten [2], so sehr galt er in der öffentlichen Meinung des ancien régime doch als ein "protestantisches" Dokument, das dem Katholizismus einen nicht mehr wettzumachenden Rückschlag versetzt habe. Es war von daher auch kein Zufall, daß sich vor allem in den protestantischen Städten und in denjenigen Kommunen, die durch die Zuerkennung der Parität in nachhaltiger Weise vom Westfälischen Frieden profitiert hatten, eine spezifische Erinnerungskultur entwickelte. Hier ist an Augsburg und sein von einer hochwertigen Gebrauchskunst begleitetes jährliches Friedensfest zu denken [3], aber auch an die süddeutschen Reichsstädte von Nürnberg bis Lindau, die zumindest an den "runden" Jahrestagen Gedenkmedaillen prägen ließen [4] und in Festgottesdiensten des Ereignisses gedachten. Schon nicht mehr gilt das für die katholische Friedensstadt Münster, wo man in größerem Stil erst anläßlich des Jubiläums 1898 den Frieden gewissermaßen wiederentdeckte. [5]

Nach dem recht unspektakulären Ende des Alten Reiches kam etwas hinzu, was man als grundsätzlichen Paradigmenwechsel bezeichnen könnte und was für die Beurteilung des Westfälischen Friedens nachhaltig negativ zu Buche schlug: die Verächtlichmachung des Alten Reiches, das nicht konsequent den Weg zum nationalen Einheitsstaat beschritten habe und deswegen von seinen Nachbarn schamlos habe ausgenutzt werden können. In einer solchen Perspektive, für die etwa der Berliner Historiker Friedrich Rühs und seine deutsch-französische Beziehungsgeschichte steht [6], kam dem Westfälischen Frieden geradezu eine Schlüsselrolle zu: als Beginn einer verhängnisvollen Fremdsteuerung des deutschen Reiches durch seine potenteren Nachbarn, als Sieg des Partikularismus und Regionalismus über die zentralstaatliche Tendenz. Es sollte bis in die 1950er/1960er Jahre dauern, bis diese Sichtweise, die durch die nationalsozialistische Ideologie noch einmal eine ungeheure Zuspitzung erfuhr [7], durch ein neues Paradigma abgelöst wurde, das den Rechts- und Friedensverband des Alten Reiches angemessen zu würdigen vermochte und im kräftigen Nationalstaat nicht mehr das Ziel der deutschen Geschichte schlechthin erblickte. [8] Die eineinhalb Jahrhunderte währende Negativierung des Westfälischen Friedens hat so tiefe Spuren hinterlassen, daß - vor allem auch in Verbindung mit dem eher negativ besetzten Bild des Friedens im katholischen Deutschland - kaum etwas dafür spricht, der Westfälische Friede könne zu einem wirklichen nationalen lieu de mémoire werden.

Man muß dies so nüchtern und emotionslos konstatieren, obwohl ja allgemein bekannt ist, wie viele Probleme ein Verbund von Territorialstaaten, der sich erst 1871 eine nationale Organisationsform gab, hatte und haben mußte, nationale lieux de mémoire zu entwickeln. [9] Sedansfeste und Kaisergeburtstage waren Versuche, so etwas wie eine nationale Festkultur mit identitätsstiftender oder doch -verstärkender Wirkung ins Leben zu rufen - alles in allem aber gescheiterte Versuche, wobei das Scheitern sicher auch damit zusammenhing, daß weder das nicht zur Honoratiorenschicht zu zählende Volk in genügender Weise einbezogen wurde noch die Berufung auf historische Mythen und Symbole ausreichend war. Bezeichnenderweise wurde von den politisch Verantwortlichen schon nach sehr kurzer Zeit fehlender Resonanz wegen das Vorhaben aufgegeben, die Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871 zu einem nationalen Gedenktag aufzuwerten. Seit seiner nationalen Verstaatung krankte Deutschland an einem Defizit nationaler Mythen, und es war in hohem Maß bezeichnend, daß im Kaiserreich eine eigene Gesellschaft "Deutsche Nationalfeste" ins Leben trat, um diesem Mangel abzuhelfen. An ein mit dem Westfälischen Frieden zusammenhängendes Nationalfest hat freilich - und dies ist ohne jede Einschränkung nachvollziehbar - auch jene im konservativen Spektrum angesiedelte, 1897 gegründete Gesellschaft nie gedacht, die vielmehr das Niederwalddenkmal in den Rang eines nationalen lieu de mémoire zu erheben suchte. Das nationale Pathos verbot es von selbst, ein Ereignis zu stilisieren, bei dem der Nachbar westlich des Rheins auf der Gewinnerseite - tatsächlich oder vermeintlich - gestanden hatte.

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Für andere europäische Staaten, für die der Westfälische Friede geradezu die Funktion einer Art Geburtsurkunde hat, stellt sich das Problem selbstverständlich anders dar. Hier sollen die Niederlande herausgegriffen werden [10], die im ersten Teil des Bündels der Friedensverträge, im Separatfrieden mit Spanien vom 30. Januar 1648, förmlich in ihre Unabhängigkeit entlassen worden waren. Nichts ist bezeichnender für den hohen Stellenwert des Westfälischen Friedens auch noch in dem heutigen Staatswesen, daß der erste von mehreren großen Fachkongressen im August 1996 dort - in Nimwegen (und außerdem in Kleve) - stattfand, daß sich ein nationales Komitee mit den Vorbereitungen der Gedenkveranstaltungen beschäftigt und daß allein fünf Ausstellungen in verschiedenen niederländischen Städten geplant sind.

Einer näheren Betrachtung der niederländischen Erinnerungskultur muß freilich die Feststellung vorausgeschickt werden, daß es immer einen Zwischenton gab, der die Rundum-Hochschätzung des Westfälischen Friedens etwas relativierte: die seit 1648 irreversible Spaltung des niederländischen Volkes und seine Aufteilung auf zwei Staatswesen (deren Nachfolgestaaten dann nur im 19. Jahrhundert noch einen - nach kurzer Zeit gescheiterten - Versuch wagten, die politische Einheit wiederherzustellen). Es gab durch die Jahrhunderte hindurch - am wenigsten vielleicht bei der Säkularfeier 1748 - nicht wenige groß-niederländisch orientierte Politiker und Wissenschaftler, die aus diesem Grund dem seinerzeitigen Ausgleich mit Spanien, der den Weg frei machte für (fast) unbegrenzten kommerziellen und wirtschaftlichen Aufschwung, reserviert gegenüberstanden.

Aber dies galt und gilt nicht für die große Masse der Niederländer; der Westfälische Friede zählte und zählt für sie zu den zentralen Elementen ihres kollektiven Bewußtseins - und dies trifft zweifellos auch für jene Provinz zu, die sich 1648 der Unterschriftleistung entzogen hatte. Obwohl in den Niederlanden im Winter 1747/48 ganz andere Probleme im Vordergrund standen und die Menschen bewegten - ein Krieg, der direkt auf die Republik übergegriffen hatte und dessen Ende noch nicht absehbar war, soziale Unruhen, die ursächlich mit diesem Krieg zusammenhingen, eine verheerende Rinderpest -, kam es zu einer ganzen Fülle von Gedenkveranstaltungen, in denen oftmals ein- und dasselbe Thema angesprochen und variiert wurde: der Friede von Münster als besonderer Beweis der Verbundenheit Gottes mit seinem auserwählten Volk, dem "anderen Israel". Neben Gedichtbänden, an denen sich renommierte Schriftsteller beteiligten und in denen häufig Linien bis hin zu dem aktuellen Friedensjahr - soweit sich dies je nach Erscheinungsdatum schon abzeichnete - gezogen wurden, neben Gedenkmedaillen sind hier vor allem einige Zeitschriften zu nennen, die sich für das Friedensgedenken einsetzten, etwa "de Europise staatssecretaris", der alle Bewohner der Republik aufrief, die Jahrhundertfeier des Friedens feierlich zu begehen. Der Unterton ist der einer Sakralisierung der nationalen Geschichte: Nach 1648 sei in Europa kein neuer Staat entstanden, die Republik sei also - nach einer biblischen Metapher - der letztgeborene Sohn Gottes: Gottes, der schon vor 1648 das Gemeinwesen auf wunderbare Weise errettet und bei seiner Geburt aktiv mitgeholfen habe. Dieses Thema wurde natürlich auch bei den vielen Gedenkpredigten überall im Land immer wieder aufgegriffen.

Zwar kam es - durch die Umstände bedingt - 1748 nicht zu einer Festaufführung des "klassischen" Theaterstücks von Joost van den Vondel "De Leeuwendalers", das 1648 seine Premiere erlebt hatte, und anders als 100 Jahre zuvor fanden auch keine Umzüge und andere öffentliche Massenmanifestationen statt. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß 1748 der Westfälische Friede in Gestalt des spanisch-niederländischen Separatvertrags als ein Ereignis von höchstem Symbolgehalt für die nationale Geschichte eingestuft und, soweit das angesichts der aktuellen Verhältnisse möglich war, auch begangen wurde. Daran sollte sich auch bis 1948 überhaupt nichts ändern. Erneut unter ungünstigen äußeren Bedingungen, koordinierte erstmals ein Nationalkomitee sämtliche Veranstaltungen, die eine breite Palette von Vorträgen, Zeitungsartikeln und Hörspielen sowie eine nationale Gedenkfeier und eine stark beachtete Ausstellung im Delfter Prinsenhof einschlossen. Auch die wissenschaftlichen Publikationen aus dem Gedenkjahr 1948 unterstrichen deutlich, daß der Westfälische Friede als einer der wichtigsten Meilensteine der nationalen Geschichte einzustufen sei. Für die Niederlande, die ihre Existenz und Selbständigkeit ja gewiß nicht mit antiken Ereignissen in einen Zusammenhang bringen konnten, hatte und hat der Westfälische Friede - neben der Utrechter Union, neben Wilhelm dem Schweiger - eine emotional wichtige Dignität, ohne deswegen aber mythisch verfremdet zu werden.

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Bei dem anderen Staatsgebilde, das 1648 förmlich - allerdings eher indirekt - definitiv in die Souveränität entlassen wurde, sieht das schon wieder anders aus. In der Eidgenossenschaft hatte sich bereits deutlich vor der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Art nationaler Mythos ausgebildet, ein Schlüssel des Selbstverständnisses, der sich zwar noch nicht in Zentenarfeiern niederschlug, aber faßbar war: der Mythos des Bundesbriefs von 1291. [11] Es hat den Anschein, daß sich gegenüber diesem Mythos der Westfälische Friede im kollektiven Bewußtsein nie als ein konstitutives Dokument durchzusetzen vermochte. Daß der Basler Bürgermeister Wettstein in seiner Heimatstadt und Teilen der deutschsprachigen Schweiz durch die Jahrhunderte hindurch eine gewisse Popularität behielt, ändert an dieser Feststellung nichts.

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Mit einigen Worten soll Frankreichs gedacht werden, für dessen Fachwissenschaft seit dem 18. Jahrhundert und in dessen nationaler Geschichte es natürlich Ereignisse von viel größerer Dignität gab, als daß der Westfälische Friede mit diesen lieux de mémoire in irgendeiner Weise hätte konkurrieren können - sei es Chlodwigs Taufe, Jeanne d'Arc oder der 14. Juli 1789, um es plakativ zu formulieren. Des Elsaß-Aspekts wegen, also der Tatsache, dem habsburgischen Rivalen und dem benachbarten Staatenverbund ein (kulturell, wirtschaftlich, geostrategisch) wichtiges Territorium entwunden und damit die dauernde und uneingeschränkte Angliederung des gesamten Elsasses vorbereitet zu haben, dieses Aspekts wegen konnte der Westfälische Friede allerdings in der öffentlichen Meinung Frankreichs und bei der Konstituierung der Geschichtsbilder immer eines hohen Stellenwerts sicher sein. Es war vor diesem Hintergrund auch kein Zufall, daß die durch die Kriegseinwirkungen noch arg am Boden liegende Republik 1948 die Kraft und die Ressourcen fand, um gleich mit zwei Ausstellungen des 300. Jahrestags des Friedens von Münster zu gedenken; ebenso symptomatisch war, daß die eine dieser Ausstellungen im Straßburger Palais de Rohan stattfand und unter dem Titel "L'Alsace Française 1648-1948" ganz ausschließlich der Elsaß-Thematik gewidmet war. [12]

In Frankreich trägt die Fachwissenschaft, mehr vielleicht als in irgendeinem anderen europäischen Staat, in hohem Maß zur Formung und Veränderung des Geschichtsbildes bei, und insofern macht es Sinn, einen Blick auf wenigstens zwei französische Historiker des 19. Jahrhunderts zu werfen und ihre Sicht des Westfälischen Friedens wiederzugeben. Bewußt wurden solche Historiker ausgewählt, die in Gesamtdarstellungen der Epoche auf den Westfälischen Frieden eingehen mußten - das französische Publikum nimmt weitaus eher solche Gesamtsynthesen zur Kenntnis als Spezialabhandlungen. Dies war und ist um so mehr der Fall, wenn die fraglichen Historiker auch im öffentlichen Leben ihres Landes eine Rolle spielen. Henri Martins Gesamtdarstellung der "Histoire de France" [13] galt bis zu Lavisses Sammelwerk als das führende französische Geschichtsbuch mit einer außerordentlich weiten Ausstrahlung in das französische "Bildungsbürgertum" hinein. Der hier einschlägige Band " [...] depuis les temps les plus reculés jusqu'en 1789" erschien erstmals 1835 und erlebte bezeichnenderweise bereits 1855 eine vierte Auflage. Nach Martins Interpretation reduzierte sich die Bedeutung des Westfälischen Friedens im wesentlichen auf zwei Aspekte: die Befreiung und Organisation Deutschlands und die Vergrößerung Frankreichs und Schwedens. Was den ersten Punkt betrifft, so kommt es Martin darauf an, den Kollaps der kaiserlichen Macht zu demonstrieren, auf deren Trümmern ein Föderativsystem errichtet worden sei, das ausgesprochen weitreichend gewesen sei, weil das Bündnisrecht der Stände die Grenzen einer Föderation sogar zu überschreiten scheine; das Föderativsystem sei aber funktionabel gewesen, indem es durch die in der "tradition immémoriale de la Germanie" stehende Garantie Frankreichs kontrolliert worden sei. Noch mehr Raum widmet Martin den Territorialveränderungen, die - soweit sie Frankreich betrafen - vor der Folie seiner grundsätzlichen Position zu sehen sind, daß er selbst die zu seiner Zeit gültigen Grenzen Frankreichs als willkürlich einstuft und verurteilt, weil sie Frankreichs natürliche Ausgeglichenheit beeinträchtigten. Insofern kann er mit der Lothringen-Regelung - "c'est un abandon à peine déguisé" - überhaupt nicht einverstanden sein, wohingegen er den Anfall des Elsasses an die Krone Frankreich als eine selbstverständliche Entschädigung für ihr militärisches Engagement und für ihre Übernahme der Rolle einer Garantiemacht bewertet. Dies habe auch deswegen in der Logik des Augenblicks gelegen, weil es sich beim Elsaß ohnehin um Gebiete handle, die rechtmäßig Frankreich gehörten: " [...] la Germanie restitue l'Alsace à la vieille Gaule, qui franchit joyeusement les Vosges pour retrouver son humide frontière des anciens jours". Von der Grundprämisse der nicht in Frage zu stellenden und kontinuierlich weiterzuentwickelnden nationalen Einheit Frankreichs her mußte den Zeitgenossen ein Bild vermittelt werden, das nicht nur die Legitimität, sondern auch die Irreversibilität des Vorgangs von 1648 - samt den später erfolgenden Reunionen - pointierte.

Für Historiker, die nach 1871 schrieben, wurde die Argumentation schwieriger - sofern sie nicht im nackten Revanchismus ihre Zuflucht suchten -, auch deswegen, weil natürlich auch von deutscher Seite bei der Rückgliederung des Elsasses historische Momente ins Feld geführt worden waren. In der Einleitung zu seinem 1884 publizierten Österreich-Band des "Recueil des instructions" [14], mit dem das gewaltige Editionsunternehmen gestartet wurde, räumt Albert Sorel bemerkenswerterweise dem Elsaß-Aspekt nicht den breitesten Raum ein; für Sorel sind die Gebietsabtretungen von 1648 zwar politisch und rechtlich unzweifelhaft, die Vertragspartner hätten aber derart mißverständliche Formulierungen gewählt, daß daraus noch eine ganze Reihe von Konflikten mit der Casa de Austria entsprungen seien. Österreich habe diese Unklarheiten gezielt auszunutzen gesucht, um die Rechte der Krone Frankreich immer wieder anzufechten und in Zweifel zu ziehen. In der Folgezeit sei - wer hören wollte, mochte aufmerken - Frankreichs Politik eher die gewesen, die kleinen Staaten in Europa gegen die Begehrlichkeit größerer in Schutz zu nehmen. Deswegen sei auch das Renversement des Alliances von 1756 für Frankreichs europäische Funktion eher abträglich gewesen, weil es seine Rolle als Protektor mindermächtiger Staaten nicht gestärkt habe.

Es ist keine Frage, daß die französischen Historiker des 19. Jahrhunderts den Stellenwert des Westfälischen Friedens für die nationale Geschichte recht hoch ansetzten, weil er mit dem Zugewinn einer wichtigen Provinz verbunden war und einen (vermeintlichen) Triumph über den Nachbarn jenseits des Rheins darstellte. Aber da Frankreich im Verlauf seiner Geschichte mehr als eine Provinz erworben hatte, konnte der Westfälische Friede in Frankreich nie in den Rang eines unbestrittenen nationalen lieu de mémoire aufsteigen.

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Es wäre eine reizvolle Aufgabe, diese Linie hier noch weiter zu ziehen: bis nach Spanien, wo der Westfälische Friede - von den beiden Instrumenta Pacis vom Oktober 1648 blieb der Habsburgerstaat ja ausgeschlossen - als ein Tiefpunkt der nationalen Geschichte eingeschätzt werden mußte und allenfalls zu einem negativen lieu de mémoire werden konnte, bis nach Schweden, wo von den nachfolgenden Generationen die Kosten der Erfolge gewichtet und der Westfälische Friede als eine Art Peripetie erkannt worden sein mag. All dies muß, nicht zuletzt der fehlenden oder ungenügenden Vorarbeiten wegen, hier unterbleiben. Aber auch ohne die präzise Ausleuchtung dieser Forschungsfelder wird sich mit aller Vorsicht formulieren lassen, daß sich ein überaus nüchternes, wenig spektakuläres, Kompromißcharakter tragendes und lange auch noch im Sinn von geltendem Recht fortwirkendes Dokument kaum irgendwo in den beteiligten Staaten zu einem wirklichen lieu de mémoire eignete und selbst in den Niederlanden eher als ein politisch und emotional wichtiger Einschnitt, aber kaum als ein ins Mythische gesteigerter Ort der Selbstfindung gilt. Die vielen wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten im Jubiläumsjahr werden daran nichts Grundsätzliches ändern und vor allem auch nicht den Westfälischen Frieden zu einer Frühform der KSZE oder einem Vorläufer der Europäischen Union stilisieren können.



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ANMERKUNGEN


1. Schmale 1997.

2. Kremer 1989.

3. Dazu jetzt Roeck 1998. Die "Friedensgemälde" in Jesse 1981.

4. Zahlreiche Beispiele in Galen 1988.

5. Duchhardt 1997.

6. Rühs 1818. Vgl. auch den von Langer 1994, S. 183f., mitgeteilten Auszug aus dem Werk.

7. Vgl. beispielsweise Behr 1983.

8. Grundlegend für diese neue Sicht die Monographie von Dickmann 1959, auch wenn sich dort durchaus noch Überbleibsel alter Interpretationstraditionen finden.

9. Zum Folgenden Mosse 1976.

10. Im Folgenden stütze ich mich auf Schepper/Vet 1998.

11. Kreis 1991.

12. Pieper 1950, S. 68-74.

13. Martin 1833ff.

14. Recueil des instructions 1884ff.



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© 2001 Forschungsstelle "Westfälischer Friede", Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Domplatz 10, 48143 Münster, Deutschland/Germany. - Stand dieser Seite: 2. Mai 2002