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Andrieu, Betrand / Brene, Nicolas Guy Antoine: Medaille auf die Gründung des Königreichs Westphalen, 1807 (Rückseite), Silberprägung / Münster, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Inv.Nr. 31205 Mz; Foto: Münster, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte/S. Ahlbrand-Dornseif, A01.3.119






Armin Owzar

15. November 1807 -
Die Verfassung des Königreichs Westphalen

Ein neuer Staat

Am 12.08.1807 trifft in Paris eine Delegation aus deutschen Klerikern, Adeligen und Gelehrten ein, deren Aufgabe sich vielversprechend anhört. Sie sollen teilnehmen an den Beratungen zum Entwurf einer Verfassung für ein neues Königreich, das im Rheinbund, mitten in Deutschland, liegen und von Napoleons kleinem Bruder Jérôme Bonaparte (1784-1860) regiert werden soll. Die Delegierten sind guten Mutes, einige von ihnen überbringen sogar eine Adresse, in der sie ihre Vorfreude auf den neuen König, "den geliebten Bruder des unsterblichen Friedensstifters des Weltalls" zum Ausdruck bringen. Vier Tage später werden sie von Napoleon, der sich für diesen Termin eigens in eine spanische Prunktracht geworfen hat, empfangen. Unmittelbar darauf wählen die Deputierten einen Ausschuss, der den Verfassungsentwurf prüfen und gegebenenfalls Änderungsvorschläge erarbeiten soll. Doch stellt sich schnell Ernüchterung ein.
"Durch die freimütige Eröffnung unserer Gedanken würden wir dem Vaterlande nicht helfen und uns selbst unglücklich machen; durch Weigerung aller Antwort auf des Kaisers Anfrage würden wir ihn beleidigen und erzürnen, und durch Gutheißung des Entwurfs würden wir verräterisch und niederträchtig handeln",

kommentierte einer der Delegierten, der Helmstedter Theologie-Professor Abt Henke, das Dilemma, in dem sich der deutsche Ausschuss befand. Eine Lösung erwartete sich Henke von einem Machtwort Napoleons: "Ich hoffe, der Kaiser soll uns noch allen diesen Verlegenheiten entreißen und die Konstitution promulgieren, ehe wir uns darüber haben vernehmen lassen." Schließlich konnte man sich doch dazu durchringen, einige Vorschläge zur Modifizierung des Entwurfes anzubringen. Vergebens, denn am 30. August ließ Jérôme die Deputierten wissen, dass sie sich mit dem Entwurf abzufinden hätten.
 
 

Reform und Verfassung zwischen
Anspruch und Wirklichkeit

 
 
 
In ihrem ersten Artikel definierte die schließlich zu Fontainebleau am 15.11.1807 verabschiedete Verfassung das Staatsgebiet des neuen Königreichs. Warum diesem der Name "Westphalen" verliehen wurde, konnte bis auf den heutigen Tag nicht geklärt werden. Denn die westfälischen Gebiete (das Osnabrücker Land sowie weite Teile Ostwestfalens) machten nur einen geringen Teil des rund 40.000 qkm umfassenden Territoriums aus. Tatsächlich bildeten kurhessische, hannoverische, braunschweigische sowie preußische Landesteile das Kernland des neuen Königreichs, zu dessen Hauptstadt Kassel erhoben wurde. Dabei handelte es sich vor allem um jene westelbischen Gebiete, die Preußen und seine Verbündeten infolge der verheerenden Niederlage bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 hatten abtreten müssen. Die in Artikel 7 des Friedens von Tilsit im Juli 1807 verfügte Neuordnung Mitteleuropas ließ Preußen nahezu auf die Hälfte seines Territoriums schrumpfen. Gleichwohl hegte der Kaiser ein gewisses Misstrauen gegenüber der ehemaligen Großmacht. Deshalb sollt das Königreich Westphalen gemeinsam mit dem schon anderthalb Jahre zuvor gebildeten Großherzogtum Berg vor allem als Pufferzone zwischen Preußen und Frankreich, gegebenenfalls auch als Aufmarschgebiet für weitere militärische Expansionen Napoleons dienen.

Dazu aber bedurfte es einer deutschen Bevölkerung, die die napoleonische Außen- und Kriegspolitik grundsätzlich mitzutragen bereit war. Wie ließ sich eine solche Zustimmung erreichen? Auf welche Weise konnte man die Bevölkerung dazu gewinnen, ihre traditionelle Verbundenheit gegenüber den ehemaligen deutschen Landesherren aufzukündigen und sie auf einen neuen, noch dazu französischen König (Jérôme) und Kaiser (Napoleon) verpflichten? Mit Repressionen allein ließ sich eine solche Herrschaft nicht aufrechterhalten. Materielle Vergünstigungen für loyale Soldaten und Beamte waren eine notwendige, aber nicht hinreichende Maßnahme zur Konsolidierung der Macht. Auch die Verherrlichung des Kaisers, auf Gemälden, in Reden und Gedichten, erwies sich als unentbehrliche, langfristig aber nicht unbedingt zuverlässige Strategie der Manipulation. Man musste nicht nur die Herzen, sondern auch den Verstand der Bevölkerung gewinnen. Man musste sie von der Überlegenheit des neuen Systems überzeugen. Und der geeignete Weg dazu bestand in der Einleitung einer radikalen Reformpolitik.

Diese Reformpolitik erstreckte sich auf nahezu alle Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit. So wurden die traditionellen Verwaltungsstrukturen durch ein zentralistisch und hierarchisch aufgebautes bürokratisches System nach französischem Muster ersetzt. Die Gewerbefreiheit wurde eingeführt, die Aufhebung der Leibeigenschaft verkündet und die politisch-rechtliche Emanzipation der Juden in die Wege geleitet. Auch das Rechtssystem wurde modernisiert, nicht zuletzt durch die Einführung des für eine bürgerliche Eigentümergesellschaft geschaffenen Code Napoléon. Zum einen wollte Napoleon mit dem Königreich Westphalen einen Modellstaat etablieren, der den übrigen im Rheinbund gelegenen Staaten als Vorbild dienen sollte. Zum anderen beabsichtigte er, die höchst heterogene Bevölkerung des neuen Staates (in dem Angehörige verschiedener Glaubensgemeinschaften und aller sozialen Schichten lebten) auf ein gemeinsames Projekt einzuschwören: das einer radikalen Modernisierung. Was lag näher, als diese Maßnahmen durch eine Verfassung abzurunden, die der in der Bevölkerung vermuteten Aufbruchstimmung Rechnung trug?
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 Silbermedaille auf die Gründung des Königreichs Westphalen - Westfalenross (Vorderseite, oben), Napoleon (Rückseite, unten) - von Bertrand Andrieu und Nicolas Guy Antoine Brene, 1807


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 Jérôme I. Bonaparte (1784-1860), König des Köngreichs Westphalen



 Verfassung des Königreichs Westphalen vom 15.11.1807


Im Rahmen des Projekts "Gesetzessammlung Königreich Westphalen" werden die Rechtstexte aus dem  Bülletin der Gesetze und Decrete des Königreichs Westphalen digitalisiert und erschlossen
( ausgewählte Quellen).
 
 
In einem auf den 15.11.1807 datierten Brief vertraute der Kaiser diesen Gedanken seinem Bruder Jérôme an und beschwor ihn, schon aus taktischen Gründen die in der Verfassung fixierten Reformen von Staat und Gesellschaft ernst zu nehmen und umzusetzen:
"Hören Sie nicht auf diejenigen, welche Ihnen sagen, Ihre an die Knechtschaft gewöhnten Völker würden mit Undank Ihre Wohltaten aufnehmen. Man ist im Königreiche Westfalen aufgeklärter, als man Ihnen einreden möchte, und Ihr Thron wird nur auf dem Zutrauen und der Liebe der Bevölkerung wahrhaft begründet sein. Die Völker Deutschlands wünschen mit Ungeduld, daß die nicht adeligen aber talentvollen Individuen ein gleiches Recht an Ihre Achtung und an Ämter erhalten, daß jede Art Unterthänigkeit und Mittelstellung zwischen dem Souverän und der untersten Volksklasse gänzlich abgeschafft werde. Die Wohlthaten des Code Napoléon, die Öffentlichkeit des Verfahrens, die Einrichtung der Jurys werden ebenso viel entscheidende Charakterzüge Ihrer Monarchie sein. Und soll ich Ihnen meine Gedanken ganz verraten, so rechne ich mehr auf ihre Wirkungen, um Ihre Monarchie auszudehnen und zu befestigen, als auf das Resultat der größten Siege. Ihre Völker müssen eine Freiheit, eine Gleichheit, einen Wohlstand genießen, die Germaniens Völkern unbekannt sind, und diese liberale Regierung muß in einer oder der anderen Weise die heilsamsten Veränderungen im Systeme des Rheinbundes und in der Macht Ihrer Monarchie erzielen. Diese Regierungsart wird eine mächtigere Barrière gegen Preußen bilden als die Elbe, die festen Plätze und der Schutz Frankreichs. Welche Bevölkerung wird unter das preußische Willkürregiment zurückkehren wollen, wenn sie die Wohltaten einer weisen, liberalen Regierung gekostet hat? Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Spaniens Völker wünschen die Gleichheit und wollen liberale Ideen. [...] Seien Sie ein konstitutioneller König."

Diesem Brief hatte Napoleon ebenjene Verfassungsurkunde beigelegt, die zuvor in Paris gegen die erheblichen Bedenken der deutschen Deputierten oktroyiert worden war. Trotz dieses autokratischen Verfahrens stieß die Constitution des Königreichs Westphalen zumindest bei den bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Schichten auf weitverbreitete Zustimmung. Auch wenn die Lehrer und Gelehrten, die Ärzte und Juristen, die Unternehmer und Priester nur einen Bruchteil der insgesamt rund 2 Mio. Einwohner bildeten, so sind diese Funktionseliten doch in ihrer Rolle als Meinungsmultiplikatoren kaum zu überschätzen. Zumal alle Untertanen von dieser Verfassung, der ersten auf deutschem Boden, unmittelbar betroffen waren. Denn erstmals verpflichtete sich darin ein König, seinen Bürgern zentrale Grundrechte, wie die Einführung der Rechtsgleichheit oder die Emanzipation der Juden, zuzugestehen und sie zu respektieren. Einfühlsam hat der Historiker Rainer Wohlfeil die von der Verfassung ausgehenden Signale für die Neugestaltung der westphälischen Gesellschaft beschrieben:
"Es war schon ein erregendes Ereignis, daß sich alle Teile der Bevölkerung gewissermaßen von einem Tag zum anderen vor dem Gesetz gleichgestellt sahen, daß alle Religionsgemeinschaften gleiche Rechte besaßen, daß Zunft- und andere korporative, landständische und provinzielle Privilegien aufgehoben und die Leibeigenschaft, später auch die Personalfronen beseitigt wurden. Nicht weniger beeindruckte, daß alle Einwohner gleiche Bedingungen für den Zugang zu den Ämtern finden und nur noch nach einem einheitlichen System besteuert werden sollten auch Adel und Klerus."

Die westphälische Verfassung musste auf die Bürger um so mehr Eindruck machen, als in ihr auch die Rechte der Krone eine Einschränkung erfuhren. Erstmals verpflichtete sich hierin ein König freiwillig, einem von ihm unabhängigen Legislativorgan beschränkte Mitspracherechte einzuräumen. Mit den sogenannten Ständen des Reiches, einem auf der Basis eines indirekten Zensuswahlrechtes konstituierten Parlamentes, etablierte sich in Kassel eine moderne Volksvertretung. Protestanten waren darin ebenso vertreten wie Katholiken und Juden, Kleriker und Adelige ebenso wie Unternehmer, Gelehrte und sogar einfache Bauern. Dies hatte nicht zuletzt auch eine gesellschaftsintegrierende Funktion. Denn diese Abgeordneten vertraten nicht ihren jeweiligen Stand, sondern die gesamte westphälische Nation.

Gewiss, die Verfassung enthielt unserem heutigen demokratischem Verständnis nach erhebliche Konstruktionsfehler. So bestimmte Artikel 7, dass "der Koenig von Westphalen und seine Familie" in dem, was sie betreffe, "den Verfuegungen der Kaiserlichen Familien-Statuten" unterworfen seien - was einer empfindlichen Beschneidung der monarchischen Souveränität gleichkam. Auch das Kasseler Parlament verfügte nur über äußerst begrenzte Kompetenzen. In Fragen der Außenpolitik, des Kriegswesens oder der Verwaltung hatte es keinerlei Einfluss. Sein Mitspracherecht beschränkte sich auf die Steuergesetzgebung, den Ausgabenetat und die Finanzkontrolle sowie kriminal- und zivilrechtliche Inhalte. Weder besaß es eine Gesetzesinitiative, noch durfte es im Plenum beraten oder debattieren. Im Grunde war es völlig abhängig vom König, den die Verfassung ermächtigte, die Versammlung nach Gutdünken zu berufen, zu vertagen oder aufzulösen. In den letzten Jahren seiner Herrschaft sollte der König diese ohnehin schon weitreichenden Kompetenzen auch noch permanent überschreiten. Seit 1811 regierte Jérôme nämlich nur noch mittels königlicher Dekrete; die Reichsstände, die bis dahin zweimal getagt hatten (im Sommer des Jahres 1808 und zu Beginn des Jahres 1810), wurden einfach nicht mehr einberufen.

Schon manche Zeitgenossen haben Verfassung wie Parlament einer harschen Kritik unterzogen. So bezeichnete Ludwig Freiherr von Vincke, der spätere Oberpräsident der preußischen Provinz Westfalen, die westphälischen Reichsstände im Jahre ihres ersten Zusammentretens als "eitle Possenspiele, als bloße, leere Namen ohne Wirklichkeit". Noch nach 1945 fanden sich zahlreiche Historiker, die sich diesem Urteil anschlossen und die Verfassung als Scheinverfassung bzw. das Parlament als Scheinparlament disqualifizierten.

Nun beobachtet man in jedem politischem System eine Diskrepanz zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Zudem wäre es anachronistisch, für eine Beurteilung des westphälischen Konstitutionalismus die Maßstäbe unseres demokratischen Parlamentarismus anzulegen. Schon ein Blick auf die englische Entwicklung zeigt, dass sich die Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung eines politischen Systems mitunter erst in einem jahrhundertelangen Prozess vollzieht. Der Maßstab sollte denn auch eher durch einen Vergleich zeitgenössischer Systeme gewonnen werden. Und da zeigt sich, dass der westphälische Verfassungsstaat zumindest im Vergleich zu Preußen und Österreich seiner Zeit weit voraus war. Freilich lässt sich nicht bestreiten, dass die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Königreich Westphalen immer größer wurde. Zurecht hat der Historiker Helmut Berding deshalb darauf verwiesen, dass der Satellitenstaat den Modellstaat zusehends überlagerte und "der ‚fortschrittliche\' Charakter des napoleonischen Zeitalters [...] zunehmend vor den militärdiktatorischen und ausbeuterischen Seiten der französischen Machtexpansion" verblasste.

Diese Entwicklung war zum einen im Machtwillen Napoleons begründet, dem alle Reformprojekte untergeordnet waren und der aus taktischen Gründen mitunter sogar restaurative Tendenzen förderte (etwa durch die Errichtung neuer Grundherrschaften). Es lässt sich darüber spekulieren, ob die Ursache für den französischen Expansionismus in der Person Napoleons oder im bonapartistischen System zu suchen ist. Fest steht, dass die permanente Kriegsführung und der wachsende Widerstand der Bevölkerung Mitteleuropa immer mehr in einen Ausnahmezustand versetzten. Die permanenten Grenzverschiebungen - im Oktober 1810 wurde dem Königreich ein Teil Hannovers zugeschlagen, wenig später ein Teil der nordwestlichen Gebiete an das Empire abgetreten - mussten die Entstehung eines westphälischen Nationalbewusstseins im Keime ersticken. Auch wenn nur sehr wenige Bewohner Westphalens aufbegehrten (etwa 1809 in dem vom Freiherr von Dörnberg angeführten Aufstandsversuch) - die Mehrheit der Bevölkerung wurde immer skeptischer gegenüber der napoleonischen Obrigkeit. Denn das Land geriet zusehends in eine tiefe sozioökonomische Krise. Die Folgen der Kontinentalsperre gegen England, die den Finanzhaushalt zerrüttenden Militärkosten, die immer unerträglicher werdenden Aushebungen zum Kriegsdienst und die vielen Gefallenen belasteten die Bevölkerung und erschütterten deren Vertrauen in die napoleonische Herrschaft, um so mehr als der Russlandfeldzug von 1812 auch Napoleons Charisma als genialer Feldherr verblassen ließ.

Insofern wundert es nicht, dass Erleichterung um sich griff, als sich Napoleon infolge der verlorenen Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 aus Deutschland zurückziehen musste. Schon gut zwei Wochen zuvor hatte der russische General Tschernyschew die Hauptstadt Westphalens in Besitz genommen und die Auflösung des Königreichs verfügt. Doch Jérôme sollte noch einmal nach Kassel zurückkehren, wenn auch nur für wenige Tage. Der stille Empfang, der ihm bereitet wurde, sprach Bände. Die hoffnungsvollen Erwartungen, die so viele Bürger anfangs auf die napoleonische Obrigkeit gesetzt hatten, hatten sich in Luft aufgelöst.
 
 

Das Königreich in der Geschichte

 
 
 
In den folgenden Jahrzehnten fiel das Königreich Westphalen einer Damnatio memoriae anheim. Diejenigen, die zum Teil selbst in führender Position tätig gewesen waren, äußerten sich nun entweder abfällig über die "französische Zeit" oder zogen es vor, ihre Erinnerungen anonym zu veröffentlichen. Nichtsdestoweniger wäre es verfehlt, wollte man das Experiment des westphälischen Konstitutionalismus als völlig gescheitert betrachten. Die Nachwirkungen der napoleonischen Reformpolitik lassen sich sowohl auf einer politischen und rechtlichen als auch auf einer sozioökonomischen Ebene beobachten. Auch wenn die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf allen Feldern napoleonischer Reformpolitik zutage tritt: die Impulse zu einer Modernisierung Deutschlands sind unübersehbar, sie reichen von der Verkehrspolitik über die Armenfürsorge und die Wirtschaftspolitik bis zur Rechtsprechung. Schon vorher hatten die Preußen einen Teil der Reformgesetzgebung übernommen, um den von Frankreich ausgehenden Herausforderungen zu begegnen und die Modernisierung des eigenen Landes voranzutreiben.

Schwerer fällt es, die Modernisierungsimpulse im Bereich der Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung aufzuspüren. Schließlich wurde die Verfassung unverzüglich außer Kraft gesetzt und wurden die Reichsstände nun auch offiziell aufgelöst. Gleichwohl lebte der Geist der westphälischen Gesetze in mehreren deutschen Landesverfassungen weiter, zum Beispiel in der bayerischen. Nicht zu unterschätzen ist auch der politische Bewusstseinswandel, der sich in der westphälischen Phase vollzogen hatte. Es ist auffällig, wie viele Juristen des Königreichs auch nach 1813 zum Teil in führenden Positionen der Legislative wie der Exekutive und Judikative tätig waren und so ihre staats- und rechtswissenschaftlichen Erfahrungen einzubringen verstanden.

Es dauerte gut 70 Jahre, bis die deutschen Geschichtswissenschaftler das Königreich Westphalen wiederentdeckten und trotz antifranzösischer Ressentiments zu würdigen begannen. Einer Anerkennung der napoleonischen Reformpolitik wollten sich auch viele historisch Gebildete des Kaiserreichs nicht länger verschließen. Verwiesen sei nur auf den deutschen Kaiser Friedrich III. (1888), der dem Historiker Arthur Kleinschmidt gegenüber verlauten ließ, er sei "erstaunt, wie viel Nachwirkung die westfälische Administration und Justiz bis auf heute in Hessen" ausübe. Nach der Niederlage des deutschen Reiches gegen Frankreich im Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag von 1919 konnten sich dagegen selbst liberale Historiker kaum noch zu einer solch unbefangenen Würdigung durchringen. Die Kritik an der französischen "Fremdherrschaft" ließ alle anderen Errungenschaften verblassen - eine Deutung, die auch nach 1945 die historische Behandlung des Königreichs Westphalen dominierte, und zwar in der Bundesrepublik Deutschland genauso wie in der DDR. Erst seit den 1970er Jahren setzte in Westdeutschland ein Umdenken ein. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile jenseits nationalstaatlicher Frontenbildung der Blick nicht nur auf die Schattenseiten, sondern auch auf die Errungenschaften der napoleonischen Zeit in Deutschland geworfen wird.
 
 
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Quellen und Literatur

Rob, Klaus (Bearb.)
Regierungsakten des Königreichs Westphalen 1807-1813. Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, Bd. 2. München 1992.

Kleinschmidt, Arthur
Geschichte des Königreichs Westfalen. Geschichte der europäischen Staaten, hg. von A. H. L. Heeren, F. A. Ukert und W. von Giesebrecht. Gotha 1893.

Wohlfeil, Rainer
Napoleonische Modellstaaten. In: Napoleon I. und die Staatenwelt seiner Zeit, im Auftrag der Ranke-Gesellschaft und des MGFA hg. von Wolfgang v. Groote, Freiburg 1969, S. 33-53.

Berding, Helmut
Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807-1913. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 7. Göttingen 1973.

Lengemann, Jochen
Parlamente in Hessen 1808-1813. Biographisches Handbuch des Königreichs Westphalen und der Ständeversammlung des Großherzogtums Frankfurt. Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen, Bd. 7. Frankfurt am Main 1991.

Harn, Rüdiger / Kandil, Mario
Die napoleonischen Modellstaaten. In: Handbuch der Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 1: Um 1800, hg. von Peter Brandt, Martin Kirsch und Arthur Schlegelmilch unter redaktioneller Mitwirkung von Werner Daum, hg. im Auftrag des Historischen Forschungszentrums der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften der Fernuniversität in Hagen, Bonn 2006, S. 684-713.

Dethlefs, Gerd / Owzar, Armin / Weiß, Gisela (Hgg.)
Modell und Wirklichkeit. Politik. Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen. Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 56. Paderborn [erscheint im September 2007].