Über Urkunden -
Was ist eine Urkunde?

 
 
 
In einer Urkunde werden rechtserhebliche Vorgänge unter Beachtung bestimmter äußerer, sprachlicher und inhaltlicher Formen schriftlich festgehalten. Verhandlungsgegenstand sind immer Einzelrechte, das heißt, dass in Urkunden nicht allgemein gültiges Recht gesetzt wird, sondern dass ein klar umrissener Rechtstitel verhandelt wird. Konkret kann das z. B. die Schenkung, der Verkauf oder der Tausch eines Grundstücks sein, es können Heirats- und Erbschaftsverträge oder politische und militärische Bündnisse in Urkundenform geschlossen werden. Schließlich können aber auch ganz profane Geldgeschäfte wie Rentkäufe in einer Urkunde festgehalten werden.

Gemeinsam ist den meisten diesen Urkundentypen, dass es einen Aussteller und einen Empfänger gibt - einen, der den Rechtstitel (oft gegen eine klar definierte Gegenleistung) abtritt, und einen, der neuer Inhaber dieses Rechtstitels wird. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass das Rechtsgeschäft "auf eine Kuhhaut gehen“ muss - sprich, dass der Text auf die Vorderseite eines Pergaments, später auf einen Bogen Papier passt. Erst seit dem 18. Jh. werden Urkunden in Form von gebundenen Heften oder Büchern für besonders feierliche oder umfangreiche Urkunden zugelassen, man spricht von sog. Libellformen.
 
 

Die rechtliche Qualität einer Urkunde

 
 
 
Zu allen Zeiten konnten Verträge mündlich verhandelt und durch bestimmte symbolische Handlungen, z. B. "durch Handschlag“, bekräftigt und abgeschlossen werden. Wenn die Rechtsparteien dagegen eine schriftliche Form wählten, verfolgten sie damit einen bestimmten Zweck. Das gilt in besonderem Maße für die vormoderne Zeit, in der nur ein kleiner Teil der Bevölkerung lesen und schreiben konnte. Für diese illiterate Periode kombinierte man deshalb auch oft mündliche Verhandlung, symbolische Handlungen und die schriftliche Fixierung des Rechtsgeschäfts. Die Urkunde diente als dauerhafter Nachweis, den man auch noch nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten in Streitfällen hervorholen und damit seine Rechte nachweisen konnte; sie wird als Beweisurkunde oder mit dem lateinischen Fachbegriff als notitia bezeichnet.

Dem gegenüber stehen Recht setzende Urkunden (lat. cartae), durch die das Rechtsgeschäft selbst hergestellt wird. Auch eine solche abstraktere Form kam oft nicht ohne eine sprachliche und symbolische Umsetzung aus, die das schriftlich fixierte in die Lebenswelt der betroffenen Menschen übertrug. Gerade in der Zeit, in dem es noch keine straff organisierte, staatliche Exekutive gab, musste der Empfänger einer Urkunde das darin zugesicherte Recht auch erst noch ganz handfest durchsetzen. Für diese Kategorie der Urkunden gilt es deshalb in der historischen Forschung immer zu prüfen, ob das erwirkte Recht umgesetzt und praktiziert wurde.
 
 
 

"Mit Brief und Siegel“

 
 
 
... sagt man auch heute noch, wenn man die Richtigkeit und Zuverlässigkeit des gerade Gesagten noch einmal unterstreichen möchte. Zu unserer Vorstellung einer rechtsgültigen Urkunde gehört also ganz klar das Siegel. Diese Form der Beglaubigung ist fürs Mittelalter und die frühe Neuzeit die bei weitem gebräuchlichste Art, wie man die Echtheit einer Urkunde nachwies. Bei den ältesten Urkunden wurde das Siegelwachs durch Erhitzen flüssig gemacht und auf das kreuz- oder sternförmig eingeschnittene Pergament gegossen. Anschließend wurde der Siegelstempel - auch Typar oder Petschaft genannt - aufgedrückt. Später hing man die Siegel an Pergamentstreifen oder farbigen Kordeln an die Pergamenturkunden an. Erst im Papierzeitalter kommen wieder verstärkt aufgedrückte Siegel vor, teils wird dabei das Siegelwachs noch durch Papierauflagen abgedeckt oder es treten flache Scheiben aus gebackenem Weizenmehl an die Stelle des Wachses: die sogenannten Oblatensiegel. Im 18. und 19. Jh. werden die Typare schließlich in Siegellack oder Schellack gedrückt, eine Materialkombination, die ursprünglich als Verschlusssiegel für Briefe Verwendung fand. Sehr selten werden Metallsiegel, sogenannte Bullen aus Blei, Silber oder Gold, an die Urkunden angehangen. Nur die Päpste siegeln regelmäßig mit runden Bleisiegeln, die an Hanf- oder Seidenschnüre – je nach Urkundenart – gehangen werden.

Seit dem 18. Jh. tauchen farbige Stempel mit dem Siegelbild auf, mit denen die Beglaubigung vollzogen wird; nur selten z. B. bei den Notariaten wird auch heute noch mit aufgeklebten Siegeln und farbigen Kordeln gearbeitet.

Im heutigen Rechtsgeschäft hat die eigenhändige Unterschrift die Besiegelung als Beglaubigungsmittel fast ganz verdrängt. Schon im Frühmittelalter tauchen Unterschriften des Ausstellers, eines für die Urkundenausstellung Verantwortlichen oder des Schreibers neben dem Siegel auf, wobei selten der Eigenname sondern das ihn begleitende lateinische Wort subscripsi für "ich habe unterschrieben“ individuell gestaltet wurde. Des Schreibens nicht mächtige Personen setzen als Zeichen ihrer Zustimmung ein Handzeichen – oft in Form eines Kreuzes, oder bei Königs- und Kaiserurkunden als sog. Vollziehungsstrich in ein Monogramm ihres Namens und Titels. Vor allem auf päpstlichen Urkunden des Früh- und Hochmittelalters bleiben Unterschriften wichtige bekräftigende Bestandteile der Urkunde.

Da es bis weit ins 16. Jh. viele illiterate Aussteller gab, kommt die Unterschrift zunächst außer Gebrauch und tritt erst danach wieder regelmäßiger auf den Urkunden unserer Region auf.

Eine weitere sehr übliche Methode der Beglaubigung war die Anfertigung eines Chirographen, der lateinisch auch als Charta partita oder deutsch als Teilurkunde, Kerbzettel oder Zerter bezeichnet wird. Dabei wurde der gleiche Urkundentext zwei- oder dreimal auf einem Pergament aufgeschrieben und es dann mit einer Zickzacklinie oder wellenförmig auseinander geschnitten. Ein Exemplar erhielt der Aussteller, ein weiteres Exemplar der Empfänger. Der dritte Teil konnte – insofern angelegt – bei einem Bürgen oder an einer unparteiischen Stelle wie einem städtischen Gericht hinterlegt werden. Der Echtheitsbeweis erfolgte über das erneute Zusammenlegen von mindestens zwei Teilen der Urkunde und der Überprüfung der Textgleichheit. Die Schnittflächen wurden oft zur zusätzlichen Fälschungssicherung mit Buchstabenfolgen ("ABCDEF“) oder den Namen der Heiligen ("IHESUS“ / "MARIA“) versehen. In Ausnahmefällen erfolgte die zusätzliche Besiegelung der Teilurkunden.

Auf den von Notaren gefertigten Urkunden, die als Notariatsinstrumente bezeichnet werden, treten seit dem 13./14. Jh. sogenannte Notariatszeichen zur Sicherung auf. Diese oft sehr komplexen Zeichnungen erinnern an Monstranzen, Kreuze, Köpfe oder Türme und befinden sich am unteren rechten Rand der Urkunden.

Schließlich reichte besonders im Früh- und Hochmittelalter die Hinterlegung einer Urkunde an offizieller Stelle als Beglaubigung: Bei Schenkungen an eine Kirche wurde die entsprechende Urkunde oft auf den Altar gelegt und später im Archiv der Institution verwahrt; auch die Archive der Städte und Gerichte dienten der Hinterlegung von Rechtsdokumenten, um sie vor böswilligen Veränderung zu schützen.
 
 
 

Das Urkundenformular

 
 
 
Fast alle Urkunden des Mittelalters und der Neuzeit folgen einem einheitlichen Schema bei ihrer inhaltlichen Gestaltung. Grob teilt es sich in das Protokoll, den Kontext und das Eschatokoll – in einleitenden Teil, Hauptteil und Schluss.
 
 
Invocatio 
Das Protokoll beginnt mit einer Invocatio, der Anrufung Gottes in Form eines grafischen Symbols (Chrismon oder Kreuz) und / oder in ausgeschriebener Form (In nomine Dei ... / In Gottes Namen ...). 
Intitulatio 
Es folgt die Nennung des Ausstellers, der in der Urkunde als handelnde Person auftritt, und seiner Funktion bzw. seines Titels in der Intitulatio. 
Inscriptio 
Danach wird der Empfänger der Urkunde in der Inscriptio genannt. 
Arenga 
Schließlich folgt gerade bei feierlichen Urkunden eine Arenga, in der das konkrete Rechtsgeschäft in einen höheren Begründungszusammenhang gestellt wird (z. B. Schriftlichkeitsarenga: "Da das Gedächtnis des Menschen schwach ist, habe ich mich entschlossen das Folgende schriftlich niederzulegen ...“). 
 
 
Publicatio 
Der Kontext wird mit der Publicatio, der Verkündigungsformel eingeleitet ("Notum esse volumus ...“, "Es sei allen bekannt, dass ...“). 
Narratio 
Es folgt eine Beschreibung der konkreten Vorgeschichte des Beurkundungsvorgangs ("N.N. und X.Y. kamen vor mich und baten mich darum, das Folgende zu beurkunden ...“) in der Narratio. Dieser Urkundenteil kann formelhaft ausgeführt sein, d. h. das die dort beschriebenen Vorgänge sich unter Umständen nicht genauso abgespielt haben müssen. 
Dispositio 
Dann folgt die Dispositio, in der die einzelnen Rechtshandlung / die Willenserklärung beschrieben wird. Ihre Inhalte finden sich in einem Vollregest in jedem Fall wieder. 
Sanctio 
Die Sanctio oder Poenformel nennt die Strafen geistlicher oder weltlicher Art, die dem drohen, der gegen die Bestimmungen der Urkunde verstößt. 
Corroboratio 
In der Corroboratio oder Bekräftigungsformel werden dann die Beglaubigungsmittel der Urkunde aufgezählt; falls ein Freund oder Verwandter die Besiegelung für einen am Beurkundungsvorgang teilnehmende Person übernimmt, wird dieser spätestens hier genannt. 
 
 
Eschatokoll 
Im Eschatokoll stehen die vorher angekündigten Unterschriften des Ausstellers und der Zeugen. In manchen Urkunden nennt sich hier auch der für die Beurkundung verantwortliche Schreiber. 
Datierung 
Die Urkunde endet mit der Datierung, bestehend aus Ort ("Actum ...“ = verhandelt / "Datum ...“ = gegeben oder ausgestellt) und dem Datum. 

Nicht in jeder Urkunde gibt es alle vorgenannten Bestandteile, doch erleichtert das Wissen um die Reihenfolge der Formularbestandteile ein schnelles Verständnis des Urkundentexts.
 
 
 

Dramatis persona

 
 
 
Neben dem Aussteller und dem Empfänger können auf der "Urkundenbühne“ weitere handelnde Personen auftreten, denen bestimmte Funktionen zukamen: Am häufigsten finden sich die Zeugen einer Rechtshandlung, also der zumeist männliche Umstand, die den Verhandlungen und dem Beurkundungsvorgang beigewohnt haben und notfalls die Inhalte des Rechtsgeschäfts bei Streitigkeiten bezeugen können. Übernimmt eine solche Person darüber hinaus die Verpflichtung für die Einhaltung des Vereinbarten zu sorgen und haftet er notfalls sogar dafür, so wird er als Bürge bezeichnet.
Besitzt der Aussteller oder der Empfänger kein eigenes Siegel, so muss er für die Beglaubigung einen Verwandten oder Freund hinzu ziehen, der in fremder Sache siegelt. Diese Siegler werden stets in den Urkunden namentlich erwähnt.

In vielen Urkunden Westfalens treten städtische Richter oder Beamte als Aussteller einer Urkunde auf, obwohl es gar nicht um ihre eigenen Rechte geht. Vielmehr handeln sie auf Bitten (und Bezahlung) des Rechtsgebers, so wie man auch heute noch notarielle Unterstützung bei der Ausfertigung wichtiger Verträge in Anspruch nimmt. Auf diese Weise sicherten sich die Rechtsgeber und -nehmer gegen formale Fehler bei der Urkundenformulierung und -gestaltung ab und die Urkunde erreichte durch die Anbringung des städtischen oder gerichtlichen Siegels einen hohen öffentlichen Glauben.

Wünscht ein Bittsteller eine Urkunde von einer höher gestellten Person (z. B. vom König oder Papst), so benötigt er in der Regel einen hochrangigen Gönner, der sein Anliegen dem Würdenträger unterbreitet und die Beurkundung fördert. Diesen Intervenienten begegnet man besonders häufig in den Urkunden des Früh- und Hochmittelalters. Schließlich kommt es gerade in der Neuzeit, in der z. B. Lehnsurkunden zu einer Art Massenschriftgut werden vor, dass Bevollmächtigte in Vertretung der eigentlichen Aussteller und vor allem Empfänger in den Urkunden genannt werden. Darüber hinaus können weitere Personen genannt sein, die ehemalige Rechtsinhaber waren, einer bestimmten Rechtshandlung zugestimmt haben oder in einem anderen nicht näher kategorisierbaren Zusammenhang zum Urkundengeschehen standen.

In der Digitalen Westfälischen Urkunden-Datenbank wurden für einen Teil der im Urkundenpool enthaltenen Urkunden die Personennamen mit ihrer Rechtsfunktion ausgeworfen und recherchierbar gemacht.
 
 
 

Was ist ein Regest?

 
 
 
Das Regest soll in knapper und eindeutiger Weise den rechtlichen Kern einer Urkunde zusammenfassen. Es folgt dabei in der Regel dem immer gleichen logischen Aufbau:
  • Bestand und Archivsignatur
  • Ausstellungsort und -datum, wobei die Originaldatierung wörtlich zitiert wird
  • Name und Titel des Ausstellers
  • Verb, das das Rechtsgeschäft charakterisiert (tauscht, verkauft, schenkt ...)
  • Name und Titel des Empfängers
  • Einzelbestimmungen des Rechtsgeschäfts
  • Angekündigte Beglaubigungsmittel

Darüber hinaus wird ein Teil der wichtigsten inneren und äußeren Merkmale aufgeführt, die sogenannte Formalbeschreibung: :
  • Beschreibstoff und manchmal die Größe des Pergaments
  • Sprache
  • Entstehungsstufe (Entwurf, Original, Abschrift)
  • Anzahl und Art der Siegel (anhängend, aufgedrückt, Wachs- oder Lacksiegel, Material aus dem die Pressel, mit denen die Siegel befestigt sind, bestehen)
  • Manchmal wird das Siegelbild oder die -umschrift beschrieben
  • Rückvermerke (ehemalige Signaturen oder Zusammenfassungen der Urkunde).

Bei einer möglichst kompletten Erfassung aller Informationen spricht man von einem Vollregest; werden nur die Kerninformationen (Wer? – Was? – Wann? – an Wen?) erfasst, bezeichnet man das Ergebnis als Kurz- oder Kopfregest.

In Urkundeneditionen werden dagegen häufig die Volltexte der Urkunden in der Originalsprache und -text abgedruckt; das Kopfregest leitet eine solche Edition ein. Auch nicht rechtserhebliche Teile der Urkunde wie die Narratio, die die Vorgeschichte und das Zustandekommen der Urkunde beschreibt, oder die Straf- oder Poenformel, die die Folgen des Zuwiderhandelns gegen die urkundlichen Bestimmungen beschreibt, können mit Hilfe einer Edition untersucht werden. Bezieht man die Edition auf einen geografischen Bezug so nennt man das Ergebnis auch "Urkundenbuch“ – das größte Projekt in unserem Raum ist das Westfälische Urkundenbuch (WUB), daneben gibt es vor allem städtische Urkundenbücher.

Als Faksimile bezeichnet man den bildlichen Abdruck einer Urkunde. Auch diese Art der Veröffentlichung wird meist von einem Kopfregest, oft auch von einer Transkription – einer wortwörtlichen, meist zeilengenauen Abschrift des Textes – begleitet. Anhand solcher Ausgaben können die äußeren Merkmale wie Schrift und grafische Symbole erforscht werden. Jüngst erfüllen am Bildschirm zu betrachtende Digitalbilder, sogenannte Digitalisate, diese Funktion. Viele Archive haben begonnen, ihre Urkundenbestände zu digitalisieren und den Benutzern das angefragte Material elektronisch zu präsentieren.

Letztlich gibt es nur wenige wissenschaftliche Fragestellungen, die sich ausschließlich am Original klären lassen. Vor allem hilfswissenschaftliche Fragen zum benutzen Beschreibstoff oder Details des Schrift- und Siegelbilds erfordern die Einsicht in die Originale.