BIOGRAFIE

FAMILIESchulenburg, von der
VORNAMETisa


GEBURT DATUM1903-12-03
GEBURT ORTTressow (Mecklenburg)
TOD DATUM2001-02-08


BIOGRAFIEEin kleines Atelier im Keller des Ursulinen-Klosters in Dorsten. Stifte liegen auf dem Tisch verstreut, daneben einige Zeichnungen und Skizzen. Rauhe Bronzereliefs schmücken den weiß gekälkten Raum. Ein schwungvolles Tänzerpaar ist dort zu sehen, daneben eine Mutter, die ihr Kind auf den Armen hält, und immer wieder Szenen aus der Welt "unter Tage", aus dem Alltag der Bergarbeiter, in Bronze gegossen. "Schauen Sie sich ruhig um", sagt Schwester Paula lächelnd. Ihre Hand beschreibt eine einladende Bewegung: "Hier ist meine Welt - das Kloster und das Atelier."

Mit 47 Jahren trat sie 1950 in den Dorstener Ursulinen-Orden ein. Damit begann gewissermaßen ihr "zweites Leben" als Schwester Paula. Als Künstlerin signiert sie ihre Werke mit einem anderen Namen - Tisa von der Schulenburg. Der Name weist auf ihr "erstes Leben" zurück - ein außergewöhnliches Leben voller Widersprüche, Kämpfe und Rückschläge.

Tisa von der Schulenburg wurde am 07.12.1903 auf dem elterlichen Gut in Tressow in Mecklenburg geboren, als Tochter eines preußischen Generals. "Ein gebildeter Mann, der seine Empfindsamkeit hinter seiner Strenge verbarg", sagt sie. Ihre Mutter sei eine liebevolle, sorgende Frau gewesen, die als Gutsherrin nie die ländliche Armut aus dem Blick verlor; sie sei als "die rote Marie" verschrien gewesen, als sie in den Notjahren des Ersten Weltkrieges 80 hungernde Kinder aus Hamburg in Tressow unterbrachte. "Sozial gesinnt sein", meint Tisa von der Schulenburg, "war damals gleich mit 'rot' sein."

Empfindsamkeit und Engagement für die Menschen - das sollte auch die Kunst der Tisa von der Schulenburg prägen. Zwischen dem ländlichen Tressow, dem glanzvollen Potsdam und der Großstadt Berlin wuchs sie mit vier Brüdern auf. Anfang der 20er Jahre zog sie begeistert durch die Berliner Museen. Sie drängte ihren Vater, er möge ihr das Kunststudium erlauben. Doch wie es sich für eine preußische Generalstochter gehört, hatte sie zunächst Haushalt zu lernen. Sie besuchte eine Haushaltungsschule im lippischen Lemgo, und hier nahm sie, sozusagen nebenbei, den ersten Zeichenunterricht.

Jahre später, Ostern 1926, konnte sie schließlich das ersehnte Kunststudium aufnehmen. Vom Land ging sie in die große Stadt - nach Berlin. "Frei will ich leben, frei will ich sterben. Berlin berauscht mich", notierte sie in ihren Aufzeichnungen, und weiter: "Ich stürze mich in das Berliner Lehen wie in einen Strudel."

In Berlin lernte sie ihren ersten Mann kennen, Fritz Hess. "Er war achtzehn Jahre älter als ich. Er war Jude, und seine Ehe war meinetwegen geschieden worden."

Nach der "Machtübernahme" Hitlers im Januar 1933 floh ihr Mann nach England, wenig später folgte sie ihm nach. Für ihn war es eine Befreiung vom alltäglichen Terror in Deutschland - für sie der erste schmerzliche Verlust der Heimat. Tisa von der Schulenburg begann mehr denn je, nach "ihrer" Kunst zu suchen. "Noch lebte ich in der Vergangenheit", schreibt sie in ihren Erinnerungen, "in meinen Träumen sah ich zurück. Meine Reliefs: Männer mit Kartoffelkiepen, Frauen mit Schalen, Frauen mit Eimern, Frauen mit Kindern - ich wurde das Land nicht los. Ich wollte es überwinden. Zeichnen!"

Im Sommer 1936 fand sie endlich ihr Thema, das sie seitdem fesselt - die dunkle Welt der Bergleute. In der nordenglischen Grafschaft Durham fuhr sie zum ersten Mal in ein Bergwerk ein - und sie war überwältigt von den Eindrücken. Monatelang zeichnete und schnitzte sie, was sie unter "Tage sah und erlebte, und sie gab Zeichenkurse für die Bergleute.

Ihr persönliches Leben geriet mehr und mehr ins Schlingern, ihre Ehe wurde nach zehn Jahren 1938 geschieden. Freimütig bekennt sie in ihren Erinnerungen: "Zog mich das Bergwerk so an, weil ich mich in der Finsternis befand? Im Dunkeln tappte? In mir war Unruhe, in meinem Leben Unordnung. Ich fand mich im alten Netz meiner Triebhaftigkeit verstrickt. Ich war nicht frei, und ich kam nicht frei, meine Arbeit war mein einziger Halt. Hess konnte mir nicht helfen. Auch hier der Auftrag verfehlt. Der Auftrag, ihm, dem Vertriebenen und Verfolgten, eine Heimat zu geben. Die Treue zu halten...".

Im Frühjahr 1939 fuhr sie zu ihrem sterbenden Vater nach Deutschland. Nach seinem Begräbnis wurde ihr die Wiedereinreise nach England verweigert. Wenige Monate später starb ihre Mutter. Ihre Brüder wurden zum Militärdienst eingezogen. Kurz vor Kriegsbeginn heiratete sie ein zweites Mal - einen Jugendfreund, der wenig später ebenfalls eingezogen wurde.

Auf Tisa von der Schulenburg kam nun eine Aufgabe zu, an die sie vorher nicht im Traum gedacht hätte - die Leitung des Familiengutes in Tressow. "Ich verstand nichts von Saatfolge und Arbeitseinteilung", erinnert sie sich. "Die landwirtschaftliche Verwaltung lag in der Hand des Inspektors, für die Verwaltung des Geldes und für die personellen Fragen im Betrieb war ich verantwortlich. Das ganze war völlig unwirklich. Ich kam mir vor wie jemand, der auf einer Bühne steht und eine Rolle spielt."

Nun war sie also wieder in Mecklenburg, dem Land ihrer Kindheit. Doch vieles, allzu vieles hatte sich in den Nazijahren verändert. "Dieses Land, das ich nun wieder kennenlernte, war nicht mehr das Land meiner Heimwehträume."

Nur widerwillig nahm sie ihre "Rolle" als Gutsherrin wahr. Ihr Bruder Fritz wies sie zurecht: Wenn es ihr auch widerstrebe, so dürfe sie nie die Nazis provozieren, nie auffallen. Andernfalls gefährde sie ihn und - was noch schlimmer sei - "die Sache". Ihr war klar, was er damit meinte. Ihr Bruder gehörte zu dem engsten Verschwörerkreis um Claus Graf Schenk von Stauffenberg, in dem das Attentat auf Adolf Hitler vorbereitet wurde. Aus nächster Nähe erlebt sie die Vorbereitungen mit. Gelähmt hörte sie am Abend des 20.07.1944, daß das Attentat gescheitert war. Ihr Bruder wurde verhaftet und wenig später in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Wie besinnungslos erlebte Tisa von der Schulenburg das fürchterliche Chaos der nächsten Wochen und Monate - Bombenangriffe, Flüchtlingstrecks aus Pommern und Ostpreußen, die letzten, wild um sich schlagenden SS-Einheiten, die Befreiung Tressows durch amerikanische Truppen im Frühjahr 1945; nach dem Rückzug der US-Truppen folgte zunächst britisches Militär, dann schließlich die russische Besatzungsmacht.

Sie flüchtete nach Travemünde, brach dort unter der Last ihrer Geschichte zusammen. "Wie ein Wolf sprang mich die Erinnerung an", heißt es in ihren Aufzeichnungen, "die Erinnerung an das vergangene Jahr. Alle Tränen, die ich bei Fritzis Tod nicht geweint hatte, kamen nun unerwartet mit hemmungsloser Wucht, ich war wehrlos. Ich beweinte wohl viel mehr. Alle Brüder waren tot. Die Heimat verloren. Vielleicht ahnte ich auch schon, daß meine Ehe verloren sein würde. Mein Mann kam im Oktober zurück. In mir brach alles zusammen. ich hatte keine Kraft mehr. Ich konnte nicht mehr. Ich gestand ihm meine Seitensprünge. Wir konnten uns beide unsere Fehler nicht verzeihen. Im Sommer 1946 wurde unsere Ehe geschieden."

Von tiefen Selbstzweifeln geprägt, floh sie vor sich selber - zu Freunden ihres Bruders in Recklinghausen und in die Bergwerkszechen des Ruhrgebiets. "Mit Wucht brach das Zeichnen wieder durch", erinnert sie sich. "Für mich gab es genug zum Nachdenken. Wie lebte ich? Wozu lebte ich? Wollte ich mich weiter dahintreiben lassen? Ich war schuld am Scheitern zweier Ehen. Ich suchte die Vergebung dieser Schuld, ich suchte Reue und Erlösung. Ich sehnte mich nach Halt. Ich sehnte mich nach Gott."

In Recklinghausen stieß sie auf die berühmten Predigten, die der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, im Krieg gegen die "Euthanasie-Aktion" des Nazi-Regimes gehalten hatte. Tisa von der Schulenburg war von der Lektüre tief beeindruckt. Ein Bekehrungserlebnis erschütterte sie. Nach Monaten des Zweifelns, der Suche nach einem Ausweg aus ihrer eigenen Schuld beschloß sie, zum katholischen Glauben zu konvertieren.

Freunde ihres Bruders rieten ihr, nach Dorsten zu gehen. Im Ursulinen-Kloster wurde sie in den katholischen Glauben eingeführt. Ostern 1949 konvertierte sie; wenig später stand für sie fest, in das Kloster einzutreten.

Ordensfrau und Künstlerin - das war und ist für Tisa von der Schulenburg kein Gegensatz: "Ich habe meine Kunst Gott zum Lob dargebracht. Was auch geschnitzt und modelliert wurde - Kreuzwege, Kreuze, eine lange Reihe von Madonnen - Ihm dargebracht."

Immer wieder auch ist es das Schicksal der Menschen, von dem die Künstlerin angerührt und zum Zeichnen angeregt wird. "Zeichnend", so sagt sie, "breite ich vor Ihm meine Klage aus über die Not und die Ungerechtigkeit in der Welt, über das Leid der Juden, über Vietnam, Chile, Lateinamerika, über das Elend der Mütter und Kinder. Und durchgehend seit 50 Jahren, die Zeichnungen über die harte Welt der Bergarbeiter."

In ihren Bildern verzichtet Tisa von der Schulenburg auf jedes schmückende, ablenkende Beiwerk. In kargen, beinahe flüchtigen Strichen konzentriert sie sich auf das wesentliche - auf eine von jahrelanger Arbeit gebeugte Frau, auf die Freude eines Kindes, auf das Leid von Menschen auf der Flucht, und vor allem auf die dunkle Welt "unter Tage".

Ein weiteres Thema sind ihre persönlichen Erinnerungen an das ländliche Mecklenburg. Hatte sie als junge Frau versucht, ihre ländliche Heimat zu überwinden, so nähert sie sich dem Land ihrer Kindheit und Jugend seit einiger Zeit wieder an.

Zeichnend erinnert sie sich an pflügende Landarbeiter, an halbverfallene, ärmliche Katen, an Picknicks feudaler Herrenfamilien am See, und immer wieder an Frauen - bei der Schwerstarbeit der "großen Wäsche" etwa, an Frauen beim Einkochen oder beim Schlachten. Nach nostalgischer Verklärung sucht man in diesen Aufzeichnungen vergebens. "So war es eben", sagt sie entschieden, "da gibt es nichts zu verklären."
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