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Seminarsitzung 4


 
 
Thema
"Rückerstattungsgezerre" -
Finanzverwaltung und Wiedergutmachung
 
 
Leitfrage
Wie ging die Finanzverwaltung nach 1945 mit den Folgen des Nationalsozialismus hinsichtlich der Rückerstattung des zu Unrecht eingezogenen Vermögens um?
 
 
Lernziel
Die Studentin/der Student soll anhand von einzelnen Beamtenkarrieren und Fallbeispielen die kompromisshafte Durchführung der Entnazifizierung und die u.a. dadurch bedingten Schwierigkeiten bei der Wiedergutmachung [55] nationalsozialistischen Unrechts herausarbeiten.
Sabine Mecking

Verfolgung und Verwaltung
Die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden und die westfälischen Finanzbehörden


 
Einführung
Nach der militärischen Niederlage und dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft trafen die Alliierten [56] 1945 entsprechend dem Abkommen von Potsdam Maßnahmen zur Säuberung des öffentlichen Lebens von Anhängern des Nationalsozialismus. Mit der Ausschaltung faschistischer Einflüsse sollte eine personelle und strukturelle Veränderung der Verwaltung, Wirtschaft und Kultur einhergehen. [57] Entsprechend der Anweisung der Militärregierung Nr. 3 vom März 1945 sollten "alle aktiven Nazis und überzeugte Nazis aus ihren Ämtern und Machtstellungen in allen Zweigen des öffentlichen und privaten finanziellen Lebens entlassen werden." [58]

Die aus rassischen, religiösen, politischen oder weltanschaulichen Gründen Geschädigten konnten Ansprüche auf Rückerstattung des zwischen dem 30.01.1933 und 08.05.1945 zu Unrecht entzogenen Vermögens geltend machen. Die Betroffenen sollten zum einen für die Wegnahme ihres Vermögens durch Zwang und zum anderen für die Weggabe unter Zwang Wiedergutmachung erhalten. Hatten sich Opfer zunächst auch noch direkt an die derzeitigen Besitzer ihres eingezogenen Eigentums gewandt, so ging mit Ausweitung der rechtlichen Grundlagen zunehmend eine Bürokratisierung des Rückerstattungsverfahrens einher. Mit dem Britischen Militärgesetz Nr. 59 vom 12.05.1949 [59] wurde eine erste Rechtsgrundlage zur Vereinheitlichung der Rückerstattung enteigneter Besitztümer für Nordrhein-Westfalen geschaffen. Anspruchsberechtigt waren der Verfolgte sowie Erben und sonstige Rechtsnachfolger. [60] Für die Rückerstattungsanträge, die sich gegen die Finanzämter richteten, war die Bundesvermögensabteilung bei der Oberfinanzdirektion zuständig.
 
 
Die Finanzverwaltung war politisch zu säubern und hatte den Opfern der Diktatur Wiedergutmachung zu gewähren. Im Bereich der westfälischen Finanzverwaltung waren bis zum 27.07.1945 604 Beamte und Angestellte aus politischen Gründen entlassen und suspendiert worden. [61] Doch schon bald waren sowohl die britische Militärregierung als auch die Deutschen zur Vermeidung eines befürchteten "administrativen breakdown" bei der Entnazifizierung immer wieder zu Zugeständnissen gegenüber "belasteten" Personen bereit. Häufig wurde der Effektivität der deutschen Verwaltung Vorrang vor einer umfassenden, tiefgreifenden politischen Säuberung gegeben, so dass letztlich die meisten Beamten mit keiner oder mit einer lediglich kurzen Unterbrechung ihrer Amtstätigkeit über 1945 fortsetzten. [62] Damit trafen die Opfer in den Rückerstattungsverfahren zum Teil auf dieselben Sachbearbeiter und Sachverständigen, die sich während des "Dritten Reiches" an der Ausplünderung und Verfolgung beteiligt hatten. [63]

So blieb auch der im Oberfinanzpräsidium in Münster als Leiter der Devisenstelle und ab 1941 als Leiter der Dienststelle für die Einziehung von Vermögenswerten tätige Oberregierungsrat Heinrich Heising weiter im Amt. Da er kein Mitglied der NSDAP geworden war, überstand er das sich häufig nur an rein formalen Kriterien wie Mitgliedschaften in NS-Organisationen orientierende Entnazifizierungsverfahren problemlos und konnte seine Berufskarriere ohne Einbußen weiterverfolgen. Heising, der im "Dritten Reich" in leitender Stellung an der staatlich angeordneten Ausraubung der Juden mitgewirkt und an der Planungssitzung zur Deportation der westfälischen Juden im November 1941 teilgenommen hatte, war nun u.a. mit Rückerstattungsangelegenheiten beauftragt. Dass er die Wiedergutmachung in erster Linie als finanzielle Angelegenheit betrachtete und den Kreis der Anspruchsberechtigten möglichst eng fassen wollte, muss in Anbetracht seiner beruflichen und politischen Vergangenheit wenig überraschen. [64] Heising stieg schon bald weiter auf und wurde 1949 zum ersten Finanzgerichtspräsidenten in Düsseldorf ernannt. [65] Sein Kollege in Münster war Dr. Wilhelm Gantenfort, der als Finanzamtsvorsteher in Lüdinghausen Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus gezeigt hatte. Beide Männer wurden vom Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen zur gleichen Zeit in dieses Amt berufen. [66]

Insgesamt leistete die Bundesrepublik Deutschland zur Erfüllung der Rückerstattungsansprüche gegen das Deutsche Reich und gleichgestellte Rechtsträger Zahlungen von rund 4 Mrd. DM. [67]Dabei erfolgte die konkrete Wiedergutmachungsleistung häufig erst nach einem langen und komplizierten Verwaltungsverfahren. Selbst bei genereller Anerkennung einer Schädigung bestand nicht selten Uneinigkeit zwischen Opfern, Verwaltung und sonstigen Interessenten bezüglich der weiteren Nutzung enteigneter Immobilien oder über die Höhe bzw. den Umfang eines Rückerstattungsanspruchs. [68]

Als der einzige den Holocaust Überlebende der Familie Oppenheim aus Petershagen, der Sohn Fritz, am 29.12.1949 einen Antrag auf Rückerstattung des Vermögens seiner ermordeten jüdischen Eltern stellte, erhielt er erst 1954 sämtliche Rechte an seinem Elternhaus zurück. Dabei war die Rückübertragung des Hauses samt Grundstück an den 1939 nach England emigrierten Fritz Oppenheim - er nannte sich nun Fred Parker - generell nie in Frage gestellt worden. Heftig umstritten war jedoch ein Fehlbetrag, der dem Finanzamt im Abrechnungsjahr 1948/1949 entstanden war, da die Einnahmen aus der Vermietung des Hauses nicht die Ausgaben für unerlässliche Reparaturarbeiten an diesem Gebäude abgedeckt hatten. Erst als Parker eine Sicherheitsleistung von 1.212,83 DM erbrachte, konnte die Übertragung des Gebäudes an ihn erfolgen. Zur endgültigen Ermittlung des Gebäudezustandes und seiner Reparaturbedürftigkeit wurden Zeugen befragt und eine Ortsbesichtigung vorgenommen. Schließlich wurde im fünften Jahr nach Beginn des Rückerstattungsverfahrens ein Vergleich geschlossen. Der Antragsteller Parker hatte dem Finanzamt zur Abgeltung der Ansprüche einen Betrag in Höhe von 100,- DM zu zahlen. [69]
 
 
Fragen und Arbeitsaufträge
  • Untersuchen Sie Funktionen und Verhalten von Oberregierungsrat Heinrich Heising (als Leiter der Devisenstelle, Leiter der Dienststelle für die Einziehung von Vermögenswerten, Teilnehmer der Planungssitzung zur Deportation der Juden) während der NS-Zeit! Überlegen Sie, ob Heising während der NS-Zeit nur seine "Beamtenpflicht" getan hat oder ob ihm sein Verhalten persönlich zum Vorwurf gemacht werden kann!
  • Vergleichen Sie die beruflichen Karrieren der Finanzbeamten Dr. Wilhelm Gantenfort und Heinrich Heising vor und nach 1945 und schreiben Sie für beide Beförderungen zum Finanzgerichtspräsidenten 1949 Begründungen!
  • Untersuchen Sie das Schreiben des Wiedergutmachungsamtes der Stadtverwaltung Münster vom 03.02.1958 hinsichtlich der Art und Weise, wie über den Antragsteller geschrieben wurde!
  • Formulieren Sie die Antwortschreiben des Finanzamtes Höxter an die Jüdische Gemeinde in Warburg und an den Stadtdirektor der Stadt Höxter, in denen Sie sich zur weiteren Nutzung des Synagogengebäudes in Höxter äußern!
  • Spielen Sie die Situation nach, in der ein Opfer nach 1945 die Rückerstattung seines zu Unrecht eingezogenen Vermögens beantragt und dabei auf den selben Sachbearbeiter trifft, der vor 1945 für die Einziehung der Vermögenswerte zuständig war!
 
 
Quellen
 
 
Anmerkungen
[55] Zum Begriff "Wiedergutmachung" als Sammelbegriff für Rückerstattung und Entschädigung siehe die Einleitung von Ludolf Herbst in: ders./Constantin Goschler (Hg.): Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, S. 7-31, besonders S. 8ff.
[56] Das Gebiet Nordrhein-Westfalens gehörte zur Britischen Besatzungszone  Karte.
[57] Vgl. Günter Pakschies: Umerziehung in der britischen Zone 1945-1949. Untersuchungen zur britischen Re-education-Politik, 2. Aufl., Köln/Wien 1984, S. 263ff. Trotz dieser Übereinstimmung in den Zielen bestanden hinsichtlich der Auffassungen von Demokratie erhebliche Unterschiede zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion.
[58] Anweisung der Militärregierung, Finanzabteilung, an finanzielle Unternehmen und Regierungsfinanzbehörden Nr. 3 vom März 1945, abgedruckt in: Irmgard Lange: Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen. Richtlinien, Anweisungen, Organisation, Siegburg 1976, S. 66ff., besonders S. 66. Zur Entnazifizierung siehe weiter Wolfgang Krüger: Entnazifiziert! Zur Praxis der politischen Säuberung in Nordrhein-Westfalen, Wuppertal 1982; Peter Hüttenberger: Entnazifizierung im öffentlichen Dienst Nordrhein-Westfalens, in: Friedrich Gerhard Schwegmann (Hg.): Die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums nach 1945. Geburtsfehler oder Stützpfeiler der Demokratiegründung in Westdeutschland?, Düsseldorf 1986, S. 47-64; Justus Fürstenau: Entnazifizierung. Ein Kapitel deutscher Nachkriegspolitik, Neuwied/Berlin 1969.
[59] Gesetz Nr. 59 (Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen) der Britischen Militärregierung (Brit.REG) vom 12.05.1949, Amtsblatt der Militärregierung Deutschland, Britisches Kontrollgebiet, Nr. 28, S. 1169. Siehe auch später das Bundesrückerstattungsgesetz (BRüG) vom 19.07.1957, BGBl. I 1957, S. 734.
[60] Zur Rückerstattung entzogener Vermögensgegenstände durch nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen siehe Hermann-Josef Brodesser/Bernd Josef Fehn/Tilo Franosch/Wilfried Wirth: Wiedergutmachung und Kriegsfolgenliquidation. Geschichte, Regelungen, Zahlungen, München 2000, S. 70ff. Im Jahre 1956 trat das Bundesentschädigungsgesetz (BGBl. 1956 I, S. 562) in Kraft, wonach u.a. auch die eingezogene Reichsfluchtsteuer zurückerstattet und Entschädigung für enteigneten Besitz geleistet werden konnte.
[61] Kenkmann: Beamte, S. 162.
[62] Nach Wunder betrug der Anteil der von der Entnazifizierung betroffenen Personen in Nordrhein-Westfalen 8 % der Bevölkerung bzw. rund 20 % der Erwerbstätigen. Dabei wurden etwa zwei Drittel der Überprüften freigesprochen oder amnestiert. Die Prozentangaben beziehen sich auf den Teil Nordrhein-Westfalens, der in der Britischen Besatzungszone lag. Bernd Wunder: Geschichte der Bürokratie, Frankfurt a.M. 1986, S. 152. Krüger schätzt den Kreis der entnazifizierten Personen in Nordrhein-Westfalen mit etwa 2,5 Mio. Menschen höher. Krüger: Entnazifiziert, S. 9.
[63] Birkwald: Opfer, S. 111.
[64] Siehe Quelle 15.
[65] Siehe hierzu weiter Blumberg: Etappen, S. 38f., ders.: Zollverwaltung, S. 350f.
[66] Schreiben des Finanzministers NW an den Finanzgerichtspräsidenten Gantenfort zur Versetzung in den Altersruhestand, Düsseldorf 30.11.1956; in: Villa ten Hompel, Depositum Gantenfort.
[67] Brodesser/Fehn/Franosch/Wirth: Wiedergutmachung, S. 79.
[68] Siehe hierzu Quelle 16a, Quelle 16b.
[69] Birkwald: Opfer, S. 111ff. Später folgten weitere Auseinandersetzungen zum beweglichen Vermögen der Familie Oppenheim. Zu den als Zeugen gehörten Personen zählten auch die an der Enteignung beteiligten Finanz- und Polizeibeamten sowie Nutznießer, die zum Wert oder Verbleib des Hausrates angeblich nichts mehr sagen konnten. Ebd.: S. 116ff.
 
 



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