Archivarbeit im digitalen Jahrhundert

von Carsten Müller-Boysen
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Die Links auf die Abbildungen fehlen!!!!!

Von computer- und internetbegeisterten Zeitgenossen wird das 21. Jahrhundert bereits jetzt als digitales apostrophiert. Ob diese Bezeichnung sich als richtig erweisen wird, kann, da die Eule der Minerva ihren Flug immer erst bei einbrechender Dämmerung beginnt, sicherlich heute noch nicht gesagt werden. Für das Archivwesen wird es aber gut sein, sich erst einmal auf ein digitales Jahrhundert einzustellen. Denn es ist mit großer Sicherheit anzunehmen, dass die analogen Informationsträger, die über die Jahrhunderte hinweg fast ausschließlich die zu archivierenden Unterlagen stellten, in naher Zukunft fast vollständig durch digitale ersetzt werden.

Im Vorfeld der anstehenden Aufgabe, Unterlagen aus digitalen Systemen zu übernehmen, gilt es, sich theoretisch mit der dazugehörigen Problematik auseinanderzusetzen. Dazu ist es notwendig, die Eigenschaften digitaler Unterlagen zu analysieren. Kommt mit ihnen etwas völlig Neues, für dessen sachgerechte Behandlung auch neue Strategien zu entwickeln sind, auf die Archive zu oder kann man ihnen mit dem gewohnten Know-How, in dem ja immerhin die Berufspraxis einiger Jahrhunderte steckt, gerecht werden. Außerdem müssen die Veränderungen erfasst werden, die als Folge der Einführung digitaler und damit veränderbarer Daten beim Informationsmanagement entstehen und für die Archive in der Form Konsequenzen zeigen, dass sich Informationssysteme gerade im Hinblick auf ihre Archivierbarkeit massiv verändern.

In der aktuellen Diskussion wird häufig der Standpunkt vertreten, dass mit digitalen Unterlagen etwas völlig Neues auf die Archive zukommt. Dies erscheint auch auf den ersten Blick einleuchtend, denn es treten neue Begriffe wie Code und Trägermedium auf und es werden spezielle Geräte benötigt, um ihren Informationsgehalt zugänglich zu machen. Im Vergleich zu den bisher bekannten Dokumenten haben sie ihr ,,sichtbares" physisches Dasein verloren, man kann sie nicht anfassen oder direkt lesen.

Aber unterscheiden sich digitale Unterlagen wirklich so sehr von anderen, vertrauten Archivaliengattungen. Es ist sinnvoll die Kriterien, mit denen man digitale Informationsträger zu analysieren versucht, auch einmal an analoge Dokumente heranzutragen. Als Beispiel dazu können eine mittelalterlichen Urkunde und ein Film dienen. Gelingt dies, werden sich möglicherweise im Umkehrschluss Handlungsmaximen, die sich im Hinblick auf den Umgang mit den vertrauten Dokumenten bewährt haben, auch auf neue Formen von Informationsträgern übertragen lassen.

  • Ein elektronisches Dokument, zum Beispiel eine auf Diskette gespeicherte Textdatei, existiert physisch auf einer speziellen Folie als Träger mit einer magnetischen Beschichtung als Beschreibstoff. Es ist mit binärem Code auf die Diskette geschrieben und als Sprache findet der ASCII-Code Verwendung. Als Hilfsmittel, um es zu lesen, wird ein Computer mit entsprechendem Diskettenlaufwerk und ein Textverarbeitungsprogramm benötigt.
  • Bei einem Film sind Träger und Beschreibstoff sehr ähnlich. Film selbst ist auch eine Folie und seine lichtempfindliche Beschichtung ermöglicht es Informationen auf ihm zu speichern. Bei der Belichtung des Films kommt auch ein Code zum Einsatz, ein Körnchen im Film verfärbt sich entsprechend des Strahlungseinfalles. Bestimmte Sprachen, nämlich Helligkeits- bzw. Farbumsetzungen beim Entwicklungsvorgang, sind definiert, damit im Positiv des Filmes ,,echte" Farben und Helligkeitswerte vorliegen. Und, um den Film in seinem Informationsgehalt zu erfassen, ist einen Filmprojektor, der den Film in der richtigen Geschwindigkeit zeigt, erforderlich.
  • Die Urkunde kann zum Beispiel mit Tinte auf Pergament in einer gotischen Kursive geschrieben und in Latein verfasst sein. Der Archivar benötigt möglicherweise keine Hilfsmittel, um sie lesen zu können, aber der Normalmensch ist schon auf Nachschlagwerke angewiesen und wäre sicherlich froh, wenn ein technisches Gerät vorhanden wäre, dass für ihn den Text lesen und übersetzen würde.
  • (Abbildung 1)

    Die gerade geleistete Feinanalyse von Dokumenten mag vielleicht auf den ersten Blick etwas weit hergeholt sein. Sie ist aber sinnvoll, weil sie eine Auseinandersetzung mit den einzelnen Bestandteilen, die erst in ihrer Gesamtheit den Informationsträger ausmachen, ermöglicht und — aufbauend auf dieser Analyse Strategien — zu einer sachgerechten Archivierung weisen kann.

    Eine dem Trägermaterial und dem Beschreibstoff adäquate Aufbewahrungsform zu gewährleisten gehört zu den archivischen Grundaufgaben. Natürlich wird die Magazinierung von digitalen Unterlagen mit erhöhtem technischen Aufwand verbunden sein, jedoch werden die neuen Formen von Datenträgern die Archive nicht vor unlösbare Aufgaben stellen.

    Neue Anforderungen kommen, weil als Voraussetzung für eine Benutzung digitaler Dokumente Sprache und Code eindeutig dokumentiert sein müssen. War es bisher so, um bei den eben benannten Beispielen zu bleiben, dass entweder, wie bei der Urkunde, die in der Schule und der Archivarsausbildung erworbenen Kenntnisse diesen Bereich abdeckten, oder, wie beim Film, durch technische Voraussetzungen eine eindeutige Um- und Übersetzung sichergestellt war, so wird man sich im Hinblick auf Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen neue Fachkenntnisse zu den verwendeten Codes und Sprachen aneignen müssen.

    Auf der anderen Seite ist es aber auch eine Anforderung im Archiv, dass der Benutzer in den Bereichen Code, Sprache und notwendige Hilfsmittel eigene Kenntnisse mitbringt und erwirbt und in diesen Bereichen, wenn es die Benutzungskonditionen zulassen, völlig autark arbeiten muß. Überträgt man diese, sich in der Praxis bewährende Aufgabenteilung auf den Umgang mit maschinenlesbaren Datenträgern, so kann man auch bei ihrer Archivierung die Anforderungen herunter drehen. Es ist durchaus denkbar, und eben der Vorgehensweise bei klassischem Archivgut wie Urkunden und Akten vergleichbar, wenn man sich darauf beschränkt, nur die eigentlichen Daten zu archivieren. Die dazugehörige Software wird dann der Benutzer mitbringen oder sich eventuell erst verschaffen müssen, ebenso wie er bei ,klassischem' Archivgut die entsprechenden Lesefähigkeiten und Sprachkenntnisse mitbringen muß. (Fussnote 1)

    Eine solche Vorgehensweise gibt auch insofern Sinn, als es gut sein kann, dass ein Benutzer, dies zeigt auch die gegenwärtige archivische Praxis, mit ganz anderen Fragestellungen an die archivierten Daten herangehen will und insofern auch in seiner Benutzungssoftware andere Recherche-, Verknüpfungs- oder Auswertungsmöglichkeiten haben will, als sie in der Software vorhanden waren, mit der die Daten ursprünglich genutzt wurden.

    Gerade wenn es an die Bereitstellung von maschinenlesbaren Daten für die archivische Nutzung geht, ist es ganz wichtig, sich nicht durch unangemessene Forderungen Dritter unter Druck setzen zu lassen. Es ist zum Beispiel bei anderen Sorten von Archivgut völlig selbstverständlich, dass die Zugriffszeiten auf Informationsträger bedeutend länger sind, als sie es waren, als das Archivgut noch in seiner ursprünglichen Funktionalität, zum Beispiel als Registraturgut, genutzt wurde. Denn die Notwendigkeit für einen möglichst raschen Zugriff ist nicht mehr gegeben, da es sich ,,außer Dienst" befindet. Aufgrund des geringen Zugriffsbedarfs, der auf die einzelnen Archivalien gegeben ist, kann ja gerade eine Unterbringungsform gewählt werden, die den Bedarf nach einem schnellen Zugriff vernachlässigt, dafür aber Kosten und Platz einspart sowie eine Langzeitaufbewahrung des Archivgutes sicherstellt. Gleiches gilt auch für maschinenlesbare Informationen. Man ist es zwar aufgrund seiner täglichen Praxis am PC gewohnt, dass alles sofort im Zugriff ist, und insbesondere die EDV-produzierende Wirtschaft suggeriert, dass es immer so sein muß. Begreift man aber das Archiv in der nur ihm eigenen Aufgabe, nämlich als Aufbewahrungsort von Informationen, die in ihrer ursprünglichen Funktionalität nicht mehr benötigt werden (Fussnote 2) , dann läßt es sich unter archivfachlichen Gesichtspunkten auf jeden Fall vertreten, dass eine Benutzung in der gerade eben angesprochenen, mit einigen Ansprüchen an den Benutzer verbundenen Art und Weise geschehen kann.

    Ein Computer-Museum im Archiv, auch ein virtuelles per Emulation, wie es zur Zeit diskutiert wird, (Fussnote 3) ist also nicht zwingend erforderlich. Im Gegenteil erscheint es eher sinnvoll, in der eben beschriebenen Weise vorzugehen und ,,flat files", wie es in der Fachsprache heißt, zu archivieren. In dieser Form hat auch das Bundesarchiv die erste größere Übernahme maschinenlesbarer Daten, die es in der Bundesrepublik gegeben hat, realisiert. (Fussnote 4)

    Der Umstand, dass Dokumente in maschinenlesbarer Form vorliegen, wird den Archivaren das Leben auf jeden Fall nicht leicht machen. Das, was bei ihrer Archivierung zu leisten ist, wird in seinen technischen Anforderungen bedeutend aufwendiger werden. Die Notwendigkeit, maschinenlesbare Informationsträger zu archivieren, wird aber auch nicht zu einer Revolution im Archivwesen führen. Was bisher archivisches Prinzip war, wird es auch weiter sein. Und die erhöhten Anforderungen, die mit der Übernahme neuer Typen von Informationsträgern ins Archiv kommen, werden zumindest teilweise ein noch rigoroseres Festhalten an diesen Prinzipien erfordern.

    Wenn nun der Umstand, dass Informationen nur noch in digitaler Form vorliegen, nicht die Welt für die Archive verändert, dann ist zu fragen, was es dann ist. Hierzu sollte man sich einmal vor Augen führen, in welcher Form man gewöhnt ist, Informationen vorzufinden. Bisher konnte man sie in zwei große Gruppen einteilen, nämlich flüchtige und dauerhafte. Zu den ersten wären zum Beispiel Informationen zu zählen, die aus Gesprächen oder Telefonaten gewonnen werden. Ebenso fällt das, was nach einer Zeitungslektüre oder dem Betrachten einer Fernsehsendung als Information im Gedächtnis verbleibt, in diese Kategorie. Ein entscheidendes Kennzeichen dieser Informationen ist ihre Veränderlichkeit. Ob es beabsichtigt oder unbeabsichtigt geschieht, die Veränderung dieser Informationen ist eine allgegenwärtige Tatsache, mit der man bei seinem Informationshandling zu leben gewohnt ist. Ist man darauf angewiesen, sie unveränderlich zu machen, so werden sie in dauerhafte Informationen überführt. Der Inhalt eines Gesprächs wird in einem Vermerk festgehalten, der Zeitungsartikel wird ausgeschnitten und verwahrt oder die Fernsehsendung wird mit einem Videorecorder aufgezeichnet.

    Damit ist man bei der zweiten Gruppe, den dauerhaften Informationen. Als Beispiele aus dem Bereich des Verwaltungsschriftgutes seien hier Eingang, Konzept bzw. Durchschlag oder Aktenvermerk genannt. Für sie ist charakteristisch, dass es sich bei Ihnen um unveränderliche Informationen handelt. Werden sie zum Beispiel im Geschäftsgang mit Bearbeitungsvermerken versehen, so sind diese als eigenständige neue Informationen anzusehen. Grundprinzip ist ja gerade, dass man die einzelnen ,,Hände" immer voneinander trennen und jede Information in ihrer Ursprünglichkeit vollständig erkennen können soll.

    Mit der Einführung elektronischer Speichermedien hat sich nun eine neue Kategorie von Informationen etabliert, mit denen dieses bisherige duale Weltbild im Hinblick auf die Charakteristika von Informationen zusammenbricht. Es gibt jetzt nämlich eine Hybridform, dauerhafte Informationen, die veränderbar sind. Gerade dieser Punkt hat mit zum Siegeszug der EDV in den Büros beigetragen. Keiner möchte heute mehr auf seinen PC mit Textverarbeitung verzichten, gerade weil mit dieser eine ständige Veränderbarkeit des Textes gegeben ist. Für die Analyse von Informationen bedeutet diese neue Kategorie jedoch, dass bei dauerhaften Informationen jetzt sorgfältig zwischen beständigen und veränderbaren unterschieden werden muss, so dass im Prinzip von drei Gruppen von Informationen auszugehen ist. (Abbildung 2)

    Leider verändert sich mit dieser neuen Form von veränderbaren Informationen auch der Umgang mit ihnen im Hinblick auf eine dauernde Aufbewahrung. Hatte man sich bisher entschieden, eine beständige Information zu erstellen oder eine flüchtige in eine beständige zu verwandeln, so bedurfte es eines bewussten Aktes, um diese Information zu vernichten. Dies ist natürlich, wenn man einen Notizzettel in den Papierkorb wirft, nicht besonders arbeitsaufwendig. Aber bei Informationen, die einen fester Aufbewahrungsort gefunden haben, zum Beispiel dass sie in einem Aktenordner abgeheftet sind, ist dazu schon einiger Aufwand nötig. Für die Archive war dieser Umstand ausgesprochen positiv: Alte Daten und Informationen konnten, weil sie nicht veränderbar waren, nicht mit neuen ,,überschrieben" werden. Und weil es mit Arbeit verbunden war, sie zu vernichten, blieben sie in der Regel erhalten, so lange nicht äußere Umstände ihre Vernichtung erforderten, sei es der fehlende Platz auf dem Dachboden oder der drohende parlamentarische Untersuchungsausschuss. So hat das menschliche Bestreben, sich nicht unnötig Arbeit aufzubürden, bei den klassischen beständigen Informationen für die Archive gearbeitet.

    Bei den veränderbaren Informationen stellt sich die Situation anders dar, wie bei dem Beispiel der Textverarbeitung deutlich wird. Sobald man den Text verändert hat und ihn speichert, wird die alte Fassung mit der neuen überschrieben, sie ist nicht mehr erhalten. Bei dieser Art von Informationen benötigt man einen be„wuss„ten Akt, um sie aufzubewahren, zum Beispiel muss erst die alte Textdatei mit einem neuen Namen gespeichert werden, um sie vor dem Überschreiben zu schützen. Im Prinzip ist ein vergleichbarer Konversionsvorgang wie bei der Umwandlung von flüchtigen in beständige Informationen notwendig. Leider arbeitet jetzt die menschliche Natur gegen die Archive: Es ist mit Arbeit verbunden veränderbare Informationen in eine beständige Aufbewahrungsform zu überführen. (Abbildung 3)

    Betrachtet man ganze Informationssysteme, wie sie zum Beispiel in Registraturen aber auch in modernen IT (=Informationstechnik) -gestützten Bürokommunikations- oder Informationssystemen vorliegen, so hat die technische Realisierung veränderbarer Informationen bei diesen die Möglichkeit zu einem schwerwiegenden Wandel eröffnet. Um sich dies vor Augen zu führen, muß man sich noch einmal den Umgang mit beständigen Informationen vergegenwärtigen. Da diese unveränderlich sind und in der Regel nicht durch neuere aktuellere ersetzt, sondern ergänzt werden, entsteht auf ihrer Basis in einem Informationssystem automatisch eine historische Komponente. Alte Daten und Informationen sind vorhanden. Auf einer klassischen Karteikarte zum Beispiel, bei der Streichungen, Neueinträge etc. immer fein säuberlich kenntlich gemacht worden sind, läßt sich problemlos ihr Status als Informationsträger zu einem bestimmten Zeitpunkt rekonstruieren.

    Anders gestaltet sich die Situation, wenn ein solches System auf der Basis von veränderbaren Informationen eingerichtet wird. Dann entsteht nämlich keine historische Komponente mehr, es sei denn, für ihre Einrichtung und ,,Fütterung" wird bewusst Sorge getragen. Entwicklungen, dass Informationssysteme durch den Einsatz der EDV ihrer Vergangenheit beraubt werden, indem nur noch der aktuelle Daten- und Informationsbestand vorgehalten wird, zeichnen sich ab. Und dies hat ganz massive Konsequenzen für die Archive: Es entstehen in diesen Systemen keine auszusondernden und damit dem Archiv anzubietenden Informationen mehr. Das heißt in der Konsequenz, bestimmte Überlieferungsstränge brechen ab, es sei denn, die Archive bemühen sich selbst eine Ersatzüberlieferung zu schaffen.

    Nun ist es für Archivare, die in der Regel über keine speziellen Kenntnisse im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik verfügen, natürlich gerade bei der Einführung der neuen IT-gestützten Bürokommunikations- und Informationssysteme schwer einzuschätzen, wie dauerhaft und wandelbar Daten und Informationen in ihnen gehandhabt werden. Betrachtet man aber einmal den Lebenslauf von Unterlagen, so lassen sich unterschiedliche Funktionalitätsstufen festmachen, die eine Beurteilungsgrundlage bieten können. Konventionelles Verwaltungsschriftgut durchläuft drei Funktionalitätsstufen, bevor es ans Archiv abgegeben wird. Es beginnt zum Beispiel mit Eingängen, die erfasst werden und zur ersten Information dienen. In der zweiten Stufe erfolgt dann die eigentliche Bearbeitung bei der Aufgabenerledigung. Aufgrund des vorhin beschriebenen Umgangs mit beständigen Informationen ergibt es sich dann von allein, dass Verwaltungsschriftgut, wenn eine weitere Aufbewahrung erfolgte, in eine dritten Funktionalitätsstufe, eine Speicherung zur Sicherung des dienstlichen ,,Gedächtnisses", übergeht. Und damit ist sichergestellt, dass potentielles Archivgut entsteht.

    Basiert nun ein Informationssystem auf veränderbaren Informationen, stellt sich die Situation anders dar. Da diese Informationen auch dauerhaft sind, reichen sie für die Bearbeitungsphase aus. Und im Falle, in dem keine Notwendigkeit für ihre längerfristige Aufbewahrung gesehen wird, werden sie, ohne dass es eines besonderen Arbeitsaufwandes bedarf, einfach durch Überschreiben gelöscht. Sie erleben gar nicht mehr eine Funktion als ,,Gedächtnis". Wenn also in einem Informationssystem, diese dritte Funktionalitätsstufe fehlt, entsteht nichts mehr, was bleibenden Charakter hat und insofern auch einmal auszusondern wäre, es entsteht also kein potentielles Archivgut mehr. ^

    Damit ist ein Kriterium gegeben, mit dem sich Konsequenzen der Einführung von automatisierten Informations- oder Bürokommunikationssystem für die Archive fassen lassen: Ist erkennbar, dass in ihnen Daten und Informationen nur noch in der Funktionalität der Bearbeitung vorgehalten werden und eine längerfristige und unveränderbare Speicherung nicht vorgesehen ist, dann entstehen auch keine Altinformationen und damit keine auszusondernden Unterlagen mehr. Der Zufluss für das Archiv versiegt. Wenn in der EDV nur noch ein immer auf dem letzten Stand gehaltenes Kataster oder ein ständig aktualisiertes Register vorgehalten wird, gibt es nichts mehr, was dem Archiv zur Übernahme anzubieten wäre. (Abbildung 4)

    Diese Erkenntnis hat zum Teil schon zu aufgeregten Diskussionen in archivischen Fachgremien geführt, die bisher auch nicht abgeschlossen sind. Ein Standpunkt, der dabei vertreten wird, ist die Forderung, von archivischer Seite gegen solche Entwicklungen vorzugehen. Schon bei der Einrichtung neuer Systeme müßten die Archivarinnen und Archivare die Sicherstellung der eigenen Belange einfordern. Andere Überlegungen gehen dahin, dass die Archive in Fällen, in denen bisherige Überlieferungsstränge von seiten der Verwaltung gekappt werden, diese selbständig fortführen müssten.

    Beide Standpunkte sollten aber noch einmal genauer durchdacht werden. So ist zu fragen, ob hinter der Forderung, aktiv auf die Entwicklungen bei den abgebenden Stellen Einfluss zu nehmen oder subsidiär aktiv zu werden, nicht teilweise ein überhöhter Anspruch und eine Überschätzung der Möglichkeiten der Archive vorliegt. Wenn zum Beispiel eine Behörde der Ansicht ist, dass die bei ihr anfallenden Daten und Informationen schon für ihre eigenen Zwecke keinen bleibenden Wert haben, so ist das in der Regel zu akzeptieren. Die Archive haben nicht als eine Art Informationspolizei einzugreifen. Auch aus den Archivgesetzen ist ein solcher Auftrag nicht ableitbar. Archive sollen bewahren, was vorhanden ist, künstlich eine Ersatzüberlieferung zu schaffen, kann in einigen Fällen zur Arrondierung der Gesamtüberlieferung sinnvoll sein, zu mehr aber auch nicht. Auch eine Verpflichtung der Archive, Verwaltungshandeln so umfassend wie möglich zu dokumentieren, die teilweise in der Diskussion um die richtige Vorgehensweise als Argument für eine stärkere Einflussnahme oder ein subsidiäres Handeln gebracht wird, ist im gesetzlichen Auftrag nicht erkennbar. Sie widerspricht auch dem, was als Benutzungspraxis in den Archiven an der Tagesordnung ist. Auch wenn ein großer Teil der Benutzer kommt, um altes Verwaltungsschriftgut einzusehen, ist in der Regel das Verwaltungshandeln, das zur Erstellung der Unterlagen geführt hat, für den Benutzer völlig irrelevant. Ihn interessieren völlig unabhängig davon einzelne Informationen, die beim Verwaltungshandeln festgehalten wurden. (Fussnote 5)

    Vielleicht sollte man die Veränderungen, die mit der Einführung automatisierter Informations- oder Bürokommunikationssysteme kommen, auch als Chance sehen. Wir leben in einer Gesellschaft, die eher Gefahr läuft, an Überinformation zu kollabieren als an Unterinformation einzugehen. Es ist bereits vorgekommen, und es wird sicherlich noch vorkommen, dass aufgrund der Einführung neuer technischer Systeme Informationen verloren gehen, die besser aufbewahrt worden wären. Es kann sich aber auch herausstellen, nachdem nicht mehr alles problemlos archivierbar ist, dass die Archive auch gut auf einen ganzen Teil von Unterlagen verzichten können, die bisher, ohne groß zu fragen, einfach ins Magazin genommen wurden. Außerdem ist zu erwarten, dass auch die Stellen, die mit Hilfe neuer IT-Systeme Daten und Informationen bei ihrer Tätigkeit produzieren und verwalten, vermehrt die Notwendigkeit einsehen, Wichtiges auch bei sich dauerhaft aufzubewahren. Und dieses wird dann auch archivierbar sein. Vielleicht muß im Archivwesen auch einfach mehr Kreativität entwickelt werden, wenn alte Quellen versiegen. Wie wäre es, wenn man sich — anstatt zu lamentieren — einfach einmal auf die Suche nach neuen Überlieferungssträngen machen würde?

    Fussnote 1: Vgl. Carsten Müller-Boysen, Archivierung im Zeitalter der Informationstechnologie - Überlegungen zum Einsatz von IT-Verfahren in der Verwaltung, in: Der Archivar. Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen 48, 1995, Sp. 69-71. zurück zum Verweis

    Fussnote 2: Vgl. Carsten Müller-Boysen, Das Archiv als ,,Informationsrecycling". Gedanken zur Neudefinition archivischer Arbeitsfelder, in: Archivierung elektronischer Unterlagen, hrsg.v. U. Schäfer u. N. Bickhoff, Stuttgart 1999 (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 13), S. 16-24, hier S. 18 ff. zurück zum Verweis

    Fussnote 3: Vgl. Frank. M. Bischoff, Emulation - das Archivierungskonzept der Zukunft, in: Digitale Herausforderungen für Archive. 3. Tagung des Arbeitskreises ,,Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen" am 22. und 23. März 1999 im Bundesarchiv in Koblenz, hrsg.v. M. Wettengel, Koblenz 1999 (Materialien aus dem Bundesarchiv, Heft 7), S. 15-23. zurück zum Verweis

    Fussnote 4: Vgl. Michael Wettengel, Die Archivierung digitaler Datenbestände aus der DDR nach der Wiedervereinigung, in: Archivierung elektronischer Unterlagen, hrsg. v. U. Schäfer u. N. Bickhoff, Stuttgart 1999 (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, H. 13), S. 223-239. zurück zum Verweis

    Fussnote 5: Vgl. Carsten Müller-Boysen, Flat file oder virtuelle Behörde? - Was erwartet der Benutzer?, erscheint in : Auf der Suche nach archivischen Lösungsstrategien im digitalen Zeitalter. Beiträge zur 4. Jahrestagung des Arbeitskreises ,,Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen", hrsg. v Ulrich Nieß, Ulrich, voraussichtlich Mannheim 2000 (Sonderveröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim, Band 26). zurück zum Verweis