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Presse-Infos | Kultur

Mitteilung vom 23.09.22

"St. Michael steckt die Lampen an"
LWL-Alltagskulturforscher erläutern den ersten wichtigen Herbsttermin

Westfalen-Lippe (lwl). Der sogenannte Michaelistag am 29. September war früher ein wichtiger Stichtag im ländlichen Jahreskalender. "Mit diesem Termin begann bis ins 19. Jahrhundert hinein die sogenannte 'Hütefreiheit', das war ein Gewohnheitsrecht, demzufolge jedermann sein Vieh auf die abgeernteten Felder und Weiden treiben durfte. Flächen, die nicht freigegeben waren, mussten gesondert gekennzeichnet werden", erklärt Christiane Cantauw von der Kommission Alltagskulturforschung beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL).

Das Michaelisfest war der erste wichtige Termin im Herbst. Das galt nicht nur für die Bauern, sondern auch für die Schulkinder. An Michaelis begann traditionell das Winterhalbjahr in den Schulen. Das war eine Zeit des intensiveren Lernens und Lehrens, die lediglich durch die "Kartoffelferien" unterbrochen wurde.

Da in der Landwirtschaft mit dem 29. September die schwere Sommerarbeit abgeschlossen war, war dieser Termin für Knechte und Mägde ideal, um die Stelle zu wechseln. Sie erhielten an Michaelis ihren Jahreslohn. Wer die Stelle wechseln wollte, der tat das jetzt. Angekündigt war der Stellenwechsel schon seit dem Frühjahr, damit der Bauer Gelegenheit hatte, sich nach Ersatz umzusehen. Neue Arbeitskontrakte kamen auf Gesindemärkten, durch Vermittler oder über Freunde und Bekannte zustande. Ende des 19. Jahrhunderts wurde Michaelis als Stichtag für den Gesindewechsel vielerorts abgelöst durch den 1. Oktober. "Im Grunde ging es ja nur um zwei Tage, aber wenn als Gesindewechseltermin nun zunehmend ein Datum aus dem Kalender angegeben wird, dann bedeutete das auch, dass die Heiligentage als Stichtage an Relevanz verloren", erklärt Cantauw. Eine Gewährsperson des Archivs für Alltagskultur aus Holtwick (Kreis Coesfeld) beschreibt diesen Veränderungsprozess nüchtern: Der Gesindewechsel "war ursprünglich zu Lichtmeß oder Michaelis, wie ich meine. Später wechselte man zum 1. April und 1. Oktober".

Nicht nur die Knechte und Mägde, sondern auch die Hirten und Hütejungen erhielten traditionell an Michaelis ihren Lohn. Das war deshalb so geregelt, weil auch die Hütearbeit nun allmählich zu Ende ging. In der Hoffnung, dass sich die Tiere noch einmal ordentlich etwas anfraßen, wurden sie auf die abgeernteten Felder und zur Eichelmast in die Wälder getrieben, bevor im November - rechtzeitig vor dem Advent - geschlachtet wurde.

War die Ernte gut, so waren die Scheunen und Keller an Michaelis gut gefüllt. Anlass genug für Heischegänge, die den Wohlhabenden Gelegenheit gaben, Gutes zu tun und sich einen Platz im Himmelreich zu verdienen. Ursprünglich waren es wohl die Hirten, die an diesem Termin berechtigt waren, an den Türen um Naturalien zu bitten. An manchen Ort wie Sassenberg (Kreis Warendorf), Gütersloh, Rheda (Kreis Gütersloh) oder im damaligen Kreis Ahaus übernahmen Kinder im 19. Jahrhundert diese Tradition, zogen mit einem Lied von Tür zu Tür und erhielten das ein oder andere Stück Obst dafür.

Michaelis war aber auch als Termin für Erntefeste beliebt: Wie im Kreis Paderborn, so veranstalteten die Hofbesitzer vielerorts an diesem Termin oder ein bis zwei Wochen darauf ein Erntefest. "Das mit einem Hahn, einer Erntekrone oder einem Zweig geschmückte letzte Fuder wurde unter großem Hallo auf den Hof gefahren und dann wurde allen, die bei der Ernte geholfen hatten, reichlich eingeschenkt. Ein gemeinsames Mahl, Musik und Tanz rundeten die Feiern ab, die vor allem als Dank an die Mithelfenden ausgerichtet wurden", so Cantauw. "Diese Feiern sind eng verbunden mit der traditionellen Landwirtschaft, in der viele Arbeiten noch händisch erfolgten und man gerade in der Erntezeit auf viele Mithelfer angewiesen war. Als seit der Wende zum 20. Jahrhundert immer mehr Maschinen zum Einsatz kamen, war die Zeit der Erntefeste auf den Höfen weitgehend vorbei."

In der NS-Zeit wurden die Erntefeste in Form von festlichen Umzügen auch zu Propaganda-zwecken genutzt. Solche Ernteumzüge mit geschmückten Leiterwagen und Fußgruppen in Tracht oder Festkleidung wurden in vielen Orten Westfalens veranstaltet, beispielsweise in Warendorf, Soest oder Hagen. Adolf Hitler besuchte das groß angelegte "Erntedankfest des deutschen Volkes" auf dem Bückeberg bei Hameln, wohin auch Sonderzüge aus Westfalen fuhren. Vor tausenden von Zuschauer:innen wurde das minutiös vorbereitete Programm abgespult, das die Landbevölkerung an das Regime binden und die Volksnähe des "Führers" unter Beweis stellen sollte.

Zu Michaelis wird deutlich, dass die Tage schnell kürzer werden. Deshalb galt das Heiligenfest auch als Stichtag für den Beginn der Arbeit bei Kunstlicht. Symbolisch brachte man das in der Landwirtschaft durch das Ausgeben von Laternen an das Gesinde zum Ausdruck. "Zu Lichtmeß am 2. Februar wurden die Laternen dann wieder eingesammelt oder in einen Baum gehängt", erläutert Cantauw.

Hintergrund
Am 29. September begeht die katholische Kirche das Fest des Erzengels Michael und aller Engel, das ist bereits für das ausgehende 5. Jahrhundert belegt. Der Drachentöter Michael, der am Jüngsten Tag für das Wiegen der Seelen zuständig sein soll (Seelenwäger), war seit der Schlacht auf dem Lechfeld (955 n. Chr.) Schutzpatron des Ostfrankenreichs und später des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Auf ihn geht die Rede vom "Deutschen Michel" zurück.

Pressekontakt:
Markus Fischer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235
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Foto zur Mitteilung
Das letzte Fuder wurde traditionell geschmückt. Seine Einfahrt auf den Hof war ein besonderer Moment wie hier 1953 in Münster-Sprakel.
Foto: Alltagskulturarchiv, LWL/ Risse

Foto zur Mitteilung
Erntedankumzüge wie hier 1934 in Fredeburg im Hochsauerlandkreis wurden in der NS-Zeit zu propagandistischen Zwecken genutzt.
Foto: Alltagskulturarchiv, LWL/Grobbel

Foto zur Mitteilung
An Michaelis begann die "Hütefreiheit": Hütekinder entzünden ein Kartoffelkrautfeuer (Sauerland, um 1950)
Foto: Alltagskulturarchiv, LWL/Grobbel


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