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Presse-Infos | Kultur
Mitteilung vom 10.04.15
Bevölkerung und Migration in Westfalen
Eine Region mit langer Wanderungsgeschichte
Münster (lwl). Westfalen feiert in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag: Mit der Konstituierung der preußischen Provinz Westfalen während des Wiener Kongresses 1815 wurde der Flickenteppich der westfälischen Territorien dem Königreich Preußen zugeschlagen. Fernab gängiger Bilder wie Schinken und Pumpernickel, Hermannsdenkmal und Wasserburgen oder wogenden Kornfeldern vor Zechentürmen war und ist die Region in den vergangenen 200 Jahren von zahlreichen Besonderheiten und Gegensätzen geprägt. Dazu zählten immer wieder auch politische, konfessionelle und soziale Konflikte. Im Rahmen des 200. Jubiläums der Region Westfalen greift der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) verschiedene Aspekte der Geschichte auf.
Geringe Lebenserwartung im 19. Jahrhundert
Eine durchschnittliche Lebenserwartung von 40 Jahren, jedes dritte Kind stirbt vor seinem fünften Geburtstag, fast 40 Prozent der Bevölkerung jünger als 15: Was nach den demographischen Verhältnissen eines Entwicklungslandes klingt, beschreibt Zustände, wie sie in den 1880er Jahren in Westfalen herrschten. Zum Vergleich: Heute werden Männer im Schnitt 77, Frauen mehr als 82 Jahre. Die Kindersterblichkeit beeinflusst die durchschnittliche Lebenserwartung nur noch minimal, und die unter 15-Jährigen machen nur noch 13 Prozent der Bevölkerung aus.
¿Blickt man zurück auf die Bevölkerungs- und Migrationsgeschichte Westfalens stellt man fest: Fast alle Trends haben sich in den vergangenen 200 Jahren umgekehrt¿, sagt Dr. Markus Küpker, Experte für Demographie- und Migrationsgeschichte und Mitautor des Bandes ¿Westfalen in der Moderne 1815-2015¿ und fügt hinzu: ¿Aus einer wachsenden und sehr jungen Bevölkerung wurde eine schrumpfende und zunehmend ältere. Aus phasenweise starker Abwanderung wurde Zuwanderung, wodurch ein Großteil der Bewohner Westfalens eine Wanderungsgeschichte haben.¿
Gleichzeitig stieg die Bevölkerungszahl stark an. Zur Zeit der Gründung Westfalens 1815 lebten in der Provinz rund 1,1 Millionen Menschen, überwiegend in Dörfern. 100 Jahre später, vor Beginn des Ersten Weltkriegs, waren es schon knapp 4,5 Millionen Menschen. Dieser demographische Wandel hatte vor allem zwei Ursachen: eine hohe Geburtenrate und die Zuwanderung.
Einer hohen Geburtenrate stand zunächst eine hohe (Kinder-)Sterblichkeit gegenüber. Seit den 1860er Jahren senkten verbesserte Ernährung, Hygiene und Fortschritte in der Medizin die Sterblichkeit und bescherten den Menschen eine höhere Lebensdauer. Im 19. Jahrhundert brachte eine Frau noch durchschnittlich fünf Kinder zur Welt, es herrschte hohe Kindersterblichkeit, Möglichkeiten der Familienplanung waren begrenzt. Zudem war Kinderarbeit oft ein fester Bestandteil der Haushaltsökonomie - in Zeiten fehlender staatlicher Altersversorgung und Pflegeversicherungen bot eine hohe Kinderzahl relative Sicherheit im Alter.
Migration gewinnt an Bedeutung
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Bevölkerungsentwicklung immer weniger durch die Sterblichkeit und Fruchtbarkeit, sondern durch die Migration beeinflusst. Die Städte wuchsen infolge der Industrialisierung zunächst durch die Nah- und Binnenwanderung: Junge Menschen zogen auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Städte. So verzehnfachte sich beispielsweise die Bevölkerung Dortmunds zwischen 1860 und 1914 auf über eine Viertelmillion. Ab 1870 kam die Einwanderung aus den preußischen Ostgebieten hinzu, sodass das Ruhrgebiet bis 1910 bereits 400.000 polnischsprachige Bewohner zählte.
Dramatisch waren die Folgen des Zweiten Weltkriegs: Emigration und Deportation von Juden und politisch Verfolgten auf der einen Seite, hunderttausende Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter andererseits. Wie viele Menschen in Westfalen während des Krieges ihr Leben verloren, lässt sich kaum abschätzen. Nach 1945 kehrten die verschleppten Menschen wieder in ihre Heimatländer in Osteuropa zurück. Von dort kamen wiederum Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen. Mit der Anwerbung von ¿Gastarbeitern¿ aus Südeuropa und der Türkei seit der Wirtschaftswunderzeit in den 1960er Jahren veränderte sich die Bevölkerungsstruktur der Region abermals nachhaltig.
Bevölkerungsrückgang seit 1998
Seit 1998 sterben in Westfalen mehr Menschen als geboren werden. Nur durch die anhaltende Zuwanderung, die aktuell unter dem Eindruck weltweiter Krisen und großer Armut wieder stark zunimmt, wird dieser Trend abgefedert. Dennoch verzeichnet Westfalen seit 2003 einen Bevölkerungsrückgang. ¿Die Entwicklungen der vergangenen 200 Jahre verliefen keineswegs linear. Es gab große Konjunkturen, Wellen und Brüche¿, so Küpker. Seine Prognose lautet daher, dass die Zuwanderung, von der Westfalen in den vergangenen 150 Jahren immens profitiert hat, auch künftig eine große Rolle spielen wird.
Dass diese Entwicklungen auch in der Region spürbar sind, hebt LWL-Direktor Matthias Löb hervor: ¿Der demographische Wandel ist für Westfalen-Lippe eine Herausforderung, aber auch eine Chance, die die Kommunen gestalten müssen. Der LWL wird sie dabei unterstützen, damit die soziale, psychiatrische und kulturelle Versorgung der Menschen gewährleistet bleibt.¿
Hintergrund
2015 jährt sich die Konstituierung der preußischen Provinz Westfalen zum 200. Mal. Damit wurde erstmals ein politischer Raum mit klaren Grenzen, einer einheitlichen Verwaltungsorganisation und später einer politischen Stimme geschaffen. Das Gründungsjahr geht auf die Vereinbarungen des Wiener Kongresses zurück, der nach zwei Jahrzehnten Krieg und der Niederlage Napoleons eine territoriale Neuordnung Europas festlegte.
Einen Tag nach seiner Schlussakte, am 10. Juni 1815, wurde die territoriale Neuordnung bestätigt. Bereits am 30. April 1815 hatte der preußische Staat die neue Organisation der Provinz Westfalen beschlossen. Dies ist der Beginn der Gründungsphase, die bis 1817 andauerte. Mit der Gründung Nordrhein-Westfalens am 23. August 1946 wurde die Provinz Westfalen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst und die Region zum Landesteil.
Karl Ditt (u.a.):
Westfalen in der Moderne 1815-2015. Geschichte einer Region
(Aschendorff Verlag)
864 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-402-13023-0
Preis: 29,95 Euro
Der LWL beteiligt sich außerdem an der Sonderausstellung "200 Jahre Westfalen. Jetzt!" vom 28. August 2015 bis zum 28. Februar 2016 im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte. Mehr zum Projekt unter: http://www.200JahreWestfalen.Jetzt
Pressekontakt:
Frank Tafertshofer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235 und Kathrin Nolte, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Telefon: 0251 591-5706, kathrin.nolte@lwl.org
presse@lwl.org
Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.
Das Presseforum des Landschaftsverbandes im Internet: https://www.lwl.org/pressemitteilungen