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Mitteilung vom 28.06.10

LWL-Veröffentlichung
¿Schützenvereine im Nationalsozialismus¿: Gleich-schaltung und ¿Ertüchtigung der Jugend¿ mündeten in Ausbildung für den Krieg

Westfalen (lwl). Schützenvereine haben als Orte, in denen die lokale Gemeinschaft praktiziert wird, nach wie vor hohe Attraktivität. Doch trotz eines äußerst ausgeprägten Traditionsbewusstseins klaffen mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus große Lücken im eigenen Geschichtsbild. Diese Lücke will der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) jetzt schließen: Unter dem Titel ¿Schützenvereine im Nationalsozialismus. Pflege der ¿Volksgemeinschaft¿ und Vorbereitung auf den Krieg (1933-1945)¿ hat er jetzt eine Studie des Historikers Henning Borggräfe herausgegeben.
Wichtigstes Ergebnis:
Die ¿Gleichschaltung¿ wurde zwar eindeutig von der NS-Führung eingeleitet und vorangetrieben, bei den Schützen gab es aber auch erhebliche Elemente der Selbstmobilisierung.

Viele Vereine klammern die Jahre nach 1933 weiträumig aus oder beanspruchen eine Opfer-rolle für sich. Dabei berührten die auch in der historischen Forschung bisher kaum untersuchten Schüt-zenvereine mit der Gemeinschaftspflege und dem Schießen zwei Kernziele des Regimes: die Realisierung der ¿Volksgemeinschaft¿ und die Vorbereitung auf den Krieg. ¿Borggräfe leistet mit seiner Untersuchung einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach den konkreten Handlungsspielräumen der Menschen im Nationalsozialismus. Sie fragt nach der Bedeutung des Handelns ¿normaler Deutscher¿ im NS-Staat und nach der Wirkungsmacht der ¿Volksgemeinschaft¿¿, so Thomas Küster vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte.

Borggräfe schildert, wie sich die Schützenvereine organisatorisch in die reichsweiten Verbandsstrukturen einfügten und mit dem Nationalsozialismus arrangierten. Er beschreibt, wie sie sich nationalsozialistische Ziele aneigneten und gleichzeitig ihre eigenen Bestrebungen verfolgten. Dieser sich wechselseitig beeinflussende Vorgang trug nach Borggräfes Urteil dazu bei, die NS-Herrschaft zu stabilisieren. Als Beispiele für die Entwicklung in Westfalen dienen ihm ausgewählte Schützenvereine aus Lünen, Hattingen und Lippstadt.

So versperrte beispielsweise der Westfälische Schützenbund bereits im Frühjahr 1933 jüdischen Bürgern den Beitritt in den Verband und die Übernahme von Vorstandspositionen. Zur Jahreswende 1933/34 schlossen dann viele Vereine ihre jüdischen Mitglieder ganz aus. Für die Vereine selbst blieb mit Ausnahme der Umstellung auf das ¿Führerprinzip¿ und der Eingliederung in einen neuen Verband strukturell zunächst einmal vieles beim Alten. Auf personeller Ebene belegt die Studie, dass die Schützen zunehmend mit der NSDAP kooperierten, denn die Vereinsmitglieder sahen mit dem neuen Regime die Möglichkeit gekommen, die alte Konkurrenz zwischen jenen, die den Schwerpunkt der Vereinsaktivitäten auf die Wehrhaftmachung legten, und jenen, die ihre Aufgabe in der Gemeinschaftspflege vor Ort sahen, nun jeweils für sich zu entscheiden.

Borggräfe untersucht vor allem die Ausrichtung der Schützenfeste und internen Vereinsveranstaltungen. Er dokumentiert, dass die symbolische Herstellung der ¿Volksgemeinschaft¿ und das ge-meinsame Bekenntnis zum ¿Führer¿ in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft feste Bestandteile jedes Schützenfestes waren. Das gilt insbesondere für die traditionsorientierten Vereine, die der von den Schießsportlern dominierten Verbandsentwicklung skeptisch gegenüberstanden. Allerdings wehrten sich viele Vereine erfolgreich gegen die von der Verbandsführung verlangte Anpassung ihrer Vereinskultur an nationalsozialistische Muster, etwa in der umstrittenen Frage der Einführung neuer Einheitsuniformen.

Hintergrund
Bereits in der Spätphase der Weimarer Republik verstanden die Schützen ihren Sport aber auch als Dienst für das Vaterland, indem sie etwa eigene Jugendabteilungen einrichteten, deren Wehr-sportprogramme die im Versailler Vertrag festgeschriebene Begrenzung der Armeestärke unterlaufen sollten. Nach der Machtübernahme nutzte die Hitlerjugend diese Vorarbeiten und entwickelte unter Mitwirkung der Schützen ein flächendeckendes Ausbildungsprogramm zur Wehrertüchtigung der Jugend. Die schießsportlich orientierten Schützen setzten sich für die am Militärgewehr orientierte Vereinheitlichung der Waffen, den Schieß-standausbau und die Annäherung der Schießpraxis an den Kriegseinsatz ein. Seit Kriegsbeginn organisierte die SA dann gemeinsam mit den Schützen ein Massenausbildungsprogramm, in dem alle Männer vor der Einberufung zur Wehrmacht in dreimonatigen Wehrertüchtigungskursen kriegsfähig gemacht werden sollten. Bis zum Frühjahr 1942 hatten SA und Schützenvereine auf diese Weise über zwei Millionen Männer ausgebildet.

Unter den Bedingungen des Krieges stellten viele Vereine ihre Arbeit 1941/42 ein, einige waren aber nachweislich noch bis Ende 1944 aktiv. Das offizielle Ende ereilte den Deutschen Schützenverband und die Schützenvereine erst nach der Kapitulation. Infolge des Alliierten Kontrollratsgesetzes Nr. 2 vom 10. Oktober 1945 zur Auflösung der NSDAP und aller ihr angeschlossenen Organisationen wurden sie verboten.

Der Autor:
Henning Borggräfe studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Das vorliegende Buch basiert auf seiner Master-Arbeit. Derzeit untersucht er am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Ruhr-Universität Bochum im Rahmen seiner Dissertation die Funktion historischer Expertise und die Bedeutung der Interessenvertretung von Betroffenen in der Auseinandersetzung um die Entschädigung von NS-Verfolgten seit den 1980er Jahren.

Henning Borggräfe
Schützenvereine im Nationalsozialismus.

Pflege der ¿Volksgemeinschaft¿ und Vorbereitung auf den Krieg (1933-1945)
Forum Regionalgeschichte, Bd. 16
Ardey-Verlag, Münster 2010, ISBN 978-3-87023-110-1
128 S., brosch., 12,90 Euro


Pressekontakt:
Markus Fischer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235
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Foto zur Mitteilung
Öffentliche Inszenierung von ¿Volksgemeinschaft¿ und ¿Hitler-Mythos¿: Die Krönung auf dem Rathausbalkon beim Schützenfest in Lünen 1934.
Foto: Stadtarchiv Lünen



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