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Presse-Infos | Der LWL

Mitteilung vom 29.03.07

Unfallkreuze sind neue Form der Trauer ¿ LWL-Buch fasst Forschung zusammen

Münster/Westfalen (lwl). Jeder Autofahrer hat sie schon einmal gesehen, mittlerweile sind sie schon zu einer traurigen ¿Alltagsstraßenrand-Erscheinung¿ geworden. So bezeichnet die Volkskundlerin Dr. Christine Aka die Unfallkreuze an den Straßen, die an das Schicksal von Menschen erinnern sollen, die hier zu Tode kamen und gleichzeitig die Trauer der Angehörigen ausdrücken. Aka muss es wissen, sie hat in einem vierjährigen Projekt 250 Unfallkreuze in ganz Westfalen-Lippe erforscht. Das Ergebnis dieser Pionierarbeit gibt die Volkskundliche Kommission für Westfalen beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) jetzt als Buch unter dem Titel ¿Unfallkreuze ¿ Trauerorte am Straßenrand¿ (299 Seiten, 19,90 Euro) heraus.

Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 6000 Menschen im Straßenverkehr, viele von ihnen sind jung. ¿Dieser Tod vor der Zeit schockiert. Freunde, Nachbarn und oft auch Angehörige versuchen an der Unfallstelle die Realität zu begreifen, denn der Unfallort zeigt, dass das Unfassbare tatsächlich geschehen ist. In den Tagen danach werden solche Orte des Todes dann zu Orten der Trauer. Blumen, Spielzeug, Erinnerungsobjekte und Briefe, dazu oft ein einfaches Holzkreuz, markieren die Stelle. Solche Unfallkreuze sind nach dem Verkehrstod junger Menschen fast selbstverständlich geworden¿, hat Aka beobachtet.

Bei zahlreichen Interviews mit Angehörigen und Freunden von Verkehrsopfern hat Aka erfahren, dass die Unfallkreuze die Ausdrucksform eines neu entstandenen Trauerrituals sind. Die Unfallorte erzählen von den Toten, von ihren Freunden und Hobbys und davon, wie die Zurückgebliebenen mit ihrer Trauer umgehen. ¿Der Ort, an dem jemand gestorben ist, ist dabei nicht nur eine Stätte des Totengedenkens, für viele Angehörige und Freunde wird er zu einem Ort der Nähe und der emotionalen Verbindung zu dem Verunglückten¿, so Aka.

Im Interview mit Aka beschreibt ein Freund eines Verunglückten das so: ¿Ich weiß nicht, aber für mich ist der Körper nur so eine Hülle, so was wie Hardware, die ist dann irgendwann kaputt, aber das bin nicht ich, also meine Seele, oder wie ich das nennen soll, oder meine Person. Was die mit meinem Körper machen, das ist mir ganz egal. Ich will aber nicht auf so einem doofen Friedhof sein, mit einem Stein, alles so ordentlich und alles so tot. Da gehe ich nie hin, alle tun so würdig, so voll Pietät. Das finde ich so überflüssig und unecht. Und er [der Verunglückte] will bestimmt auch nicht dieses öde Verhalten, der war so lebendig, so 100.000 Volt, und der will sicher, dass man da an ihn denkt, wo Leben ist.¿

Das Gefühl, dem geliebten Menschen nah zu sein, sei für junge Menschen an der Stelle des Trauerkreuzes am größten, da dies der Ort sei, an dem die Verunglückten ihre letzten Augenblicke und Emotionen erlebt hätten. Den Friedhof mieden jungen Menschen weil er für sie für Verwesung und Vergänglichkeit stehe, während er für die ältere Generation ein wichtiger Ort der Ruhe und Erinnerung sei, so Aka.

Auf die Frage, warum die Angehörigen ein Kreuz an der Unfallstelle aufstellten, antworteten alle gleich: Es solle ein Mahnmal sein, lautete stets die Antwort. ¿Doch wenn man sich intensiver mit den Menschen unterhält, bemerkt man, dass die Kreuze vielmehr Zeichen für die Angehörigen selber sind, um ihrer Trauer einen Ort zu geben¿, hat Aka in ihren Gesprächen erfahren.

Die Unfallkreuze am Straßenrand haben auf den ersten Blick große Ähnlichkeit mit Friedhofsgräbern. Doch auf den zweiten Blick unterscheiden sie sich deutlich: Ihre Gestaltung unterliegt keinen ästhetischen Einschränkungen. Jeder Trauernde bringt das an die Unfallstelle, was seinem Gefühl und seinen Vorstellungen nach einen Symbolwert für die Trauer besitzt und seine Beziehung zu dem Toten ausdrückt. Neben Spielzeug und Briefen kann das auch schon einmal ein Autorückspiegel sein. ¿So treten Freunde und Angehörige mit den Toten in Kontakt, auch wenn sie nicht mehr antworten. Sie kommunizieren mit vielen Mitteln wie zum Beispiel per Brief oder indem sie aus dem Auto Lieblingslieder abspielen oder nur gedachte Dialoge führen. Treffen an den Unfallkreuze haben manchmal zeremoniellen Charakter, wenn Freunde hier gemeinsam Gaben bringen, Zigaretten rauchen oder Bier trinken¿, berichtet Aka von ihren Interviews.

Das alles macht nach Akas Ansicht deutlich, dass sich ein gesellschaftliches Bedürfnis entwickelt hat, die Trauer öffentlich zu machen und neue Formen von Trauer zu entwickeln. ¿Die Briefe, Gaben und Geschenke sind Ausdruck dafür, dass Angehörige und Freunde die Beziehungen zu dem Verunglücktem fortsetzen wollen und sie an ein Weiterleben der Toten glauben. Diese Jenseitsgläubigkeit bleibt jedoch unspezifisch und individuell. Sie hat keine feste Struktur, ist nicht kirchlich gebunden und von keiner bestimmten Lehre oder von festen Dogmen geformt. Dabei entwickeln sich häufig aus verschiedenen spirituellen Überzeugungen Patch-Work-Religionen¿, erklärt Aka.

Christine Aka:
Unfallkreuze. Trauerorte am Straßenrand.

(Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, Band 109)
Verlag Waxmann, 2007, 299 Seiten, 45 schwarz-weiße und 76 farbige Abbildungen
ISBN 978-3-8309-1790-8, 19,90 EUR.

Pressekontakt:
Markus Fischer, Tel. 0251 591-235
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Foto zur Mitteilung


Foto zur Mitteilung
Die Unfallkreuze wollen Mahnmal in der Öffentlichkeit sein, tatsächlich dienen sie aber auch dazu, der Trauer einen Ort zu geben, wie hierbei Hohenholte (Kreis Coesfeld).
Foto: LWL



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