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Presse-Infos | Der LWL
Mitteilung vom 07.11.02
Gernheimer Glas, historische Fotos, Ortsgrundrisse und ein Testament
Neue Studioausstellung im Westfälischen Industriemuseum
Petershagen (lwl). Silberbesteck, ein ¿Faulenzer¿, ein Königin-Luise-Portrait und Kohle ¿ nur vier von insgesamt 275 Posten aus dem Testament von Clementine Schrader. Die Witwe des letzten Gernheimer Glashüttendirektors Wilhelm Schrader (1827-1889), die 1909 in Bielefeld verstarb, hinterließ ihren neun Kindern das gesamte Inventar der Wohnung am Siekerwall 3b in Bielefeld: vom Mobiliar, zu dem auch die ¿Faulenzer¿ genannte Chaiselongue gehörte, über Gemälde und Glas bis hin zum letzten Kohlenvorrat. Dr. Thomas Parent, stellvertretender Direktor des Westfälischen Industriemuseums, hat das Testament im vergangenen Jahr im Nachlass von Prof. Werner Gössling, einem Enkel von Clementine Schrader, entdeckt. ¿Es vermittelt einen facettenreichen Einblick in die Wohn- und Lebenskultur der langjährigen Gernheimer Unternehmerfamilie Schrader¿, erklärt der Wissenschaftler.
In einer Studioausstellung in der Glashütte Gernheim wird das Dokument jetzt erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Museum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) zeigt von Sonntag, 17. November, bis zum 12. Januar unter dem Titel "Gernheimer Glas, historische Fotos, farbige Ortsgrundrisse und ein Testament" Neues aus der Geschichte des historischen Glasmacherortes an der Weser.
Wenngleich Clementine Schrader bereits 1879 aus Gernheim fortgezogen war, dürfte doch manches Utensil bereits im dortigen ¿Herrenhaus¿ Verwendung gefunden haben. So erinnern zwei Nähtische und ein Nähkorb daran, dass die Fabrikantenfrau in jüngeren Jahren den Töchtern der Gernheimer Glasmacher Handarbeitsunterricht gegeben hatte. Und der Buchbestand, der auch Literatur in englischer Sprache umfasste, deutet auf die internationalen Geschäftskontakte hin, die von der Gernheimer Glashütte nachweislich gepflegt worden waren.
Die Gernheimer Studio-Ausstellung präsentiert darüber hinaus sehr alte, bislang unbekannte Daguerreotypien (Vorläufer der Fotografie), die Mitglieder der Familie Schrader portraitieren. Das wertvollste Bild stammt von ca. 1850. Es zeigt Otto Schrader mit seiner Frau Auguste und den Töchtern Sophie und Elisabeth. Otto Schrader (1786-1864) war ein jüngerer Bruder des Gernheimer Glasfabrikgründers Fritz Schrader und Vater des letzten Gernheimer Glashüttenchefs Wilhelm Schrader.
Von Elisabeth Schüffner stammen zwei großformatige Gernheimer Ortsgrundrisse. In ihrer dilettantischen Zeichen- und Maltechnik wirken diese Planzeichnungen etwas schülerhaft, in ihrer anmutigen Wasserfarben-Kolorierung allerdings durchaus ansprechend. ¿Der besondere Wert der ¿Schüffner-Pläne¿ besteht in ihrer Informationsfülle¿, erläutert Thomas Parent. Anhand der Gebäudebeschriftungen ¿ Gemengehaus, Tafelturm, Kühlofen, Schleiferei, Einbinderei, Packhaus etc. ¿ lassen sich die wesentlichen Produktionsschritte der Gernheimer Glasherstellung exakt verorten. Und zahlreiche weitere Schriftzüge informieren über die Lebensbedingungen der Glasmacherfamilien. So gibt es auf dem weitläufigen Gernheimer Ortsgelände neben Arbeiter-Wohnungen auch ein Backhaus, ein Waschhaus, ein Trockenhaus und an zwei Stellen eine ¿Bleiche¿ für die Wäsche.
Sehr differenziert sind auch die diversen Ländereien auf den Schüffner-Plänen dargestellt. Weideflächen wurden leuchtend- oder hellgrün koloriert, Nutzgärten oder Felder ¿ darunter ein ¿Arbeiter-Feld¿ und eine Anbaufläche für Gemüse - zumeist blaugrün eingefärbt. Auf einem der Pläne sind hinter der Mindener Chaussee auch die einzelnen Pachtland-Streifen für Glasmacherfamilien eingezeichnet. Parent: ¿Alle diese Ländereien dokumentieren, wie wichtig ortsnaher Garten- und Feldbau sowie Viehhaltung für den Speisezettel der Gernheimer Bevölkerung waren.¿
Besonders detailreich hat sich Elisabeth Schüffner den Anlagen hinter dem Fabrikanten-wohnhaus gewidmet. Schriftzüge markieren hier Linden, eine Dornenhecke und einen Nußberg. Außerdem ein Gewächshaus, Quitten, Obstbäume und Rosenbüsche. Eine Eschenlaube lud an Sommerabenden zum Verweilen ein. Ein Plan markiert am Weserufer auch ein Badehaus, und Rudolf Schrader (geb. 1863), ein Vetter von Elisabeth Schüffner, erinnerte sich noch 1933 daran, dass die Gernheimer Fabrikanten-Kinder an manchen Sommertagen dreimal täglich im Fluss baden durften.
Die Ortsgrundrisse und die Daguerreotypien wurden dem Westfälischen Industriemuseum von Ingrid Patzer, einer Großnichte von Elisabeth Schüffner, geschenkt. Das Testament der Clementine Schrader sowie weitere Dokumente stiftete Frau Dr. Gößling-Ebhardt dem Museum. ¿Für uns sind die Dokumente wichtige Mosaiksteine in der Gernheimer Geschichtsforschung¿, betont Thomas Parent. Am Eröffnungstag (17.11.) wird er um 11 Uhr anhand der Ausstellungsstücke über Aspekte der Gernheimer Unternehmer-, Fabrik- und Ortsgeschichte sprechen. Zu der öffentlichen Veranstaltung sind Besucher herzlich willkommen.
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