[256]
Meine Geschichte
3.
Meine akademischen Jahre
176568
Von meinem 16ten bis zum 19ten Jahre
Die schleunige Hülfe, die man mir von Hause zu schaffen gewußt hatte,
milderte bald das Furchtbare in dem Bilde, das ich mir von dem Zustande meiner
Familie machte. Jetzt war die lebhafte Idee, die mich beschäftigte, diese,
daß ich nun zu einem traurigen, öden Leben ginge. Ich suchte die
Heimreise solang zu verzögern als möglich. Ich hoffte, ich weiß
nicht was, von Franziska, machte, ich weiß nicht, welche Anschläge
und drang darauf, sie außer dem Kloster allein zu sehen.
Meine Mutter willigte ein, daß ich einige
Wochen in Bonn blieb, teils um mir da, wie ich ihr das so vorzustellen gewußt
hatte, Verbindungen zu verschaffen, die mir einmal an unserem Hofe nützlich
werden möchten, teils auch, weil ich von Mannheim aus über meine Gesundheit
geklagt hatte. Ich hatte in Bonn Assignation auf Wochengelder. Gleich die ersten
Tage gab ich ein Konzert in meinem Logis; man sagte mir eine Menge Schmeicheleien
über meine Flöte; bald gab ich jeden dritten oder vierten Tag Konzert;
die
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Musiker erzählten davon in der Stadt. An einem Tag besuchte mich ein gewisser
Herr Meyer (Hofjuwelier), der auch ein Liebhaber der Musik war; auch er schmeichelte
meiner Eitelkeit und lud mich auch auf ein Konzert in seinem Hause ein. Ich
ging hin und sah seine Schwester Karoline.
Ich sah sie, und dieser Anblick erregte einen
neuen Tumult in meiner Seele. Sie spielte das Klavier sehr brav; ich spielte
ein Konzert, über welches sie mir viel Liebes sagte. Franziskas Betragen,
ihre Weigerung, mit mir außer dem Kloster zusammenzukommen, ihre Sprödigkeit
und Kälte hatten schon angefangen, mir Langeweile zu machen. Karolinens
freundliches, zwangloses Betragen, ihre Kunst, ein gewisser Zug von Gefühl
in ihrem Gesichte nahmen mich ein. Ich besuchte sie am folgenden Tage, endeckte
immer mehr Liebes an ihr, fand an ihr Spuren einer Bildung des Geistes, die
ich bisher noch an keinem Mädchen gekannt hatte. Unser gemeinschaftlicher
Geschmack an Musik zog uns näher an und gab uns Anlaß, uns einander
mehr zu sein. Von der andern Seite scheuete ich die Heimreise so sehr, und ahndete
doch immer mehr Langeweile in Bonn; ich verglich Karoline mit Franziska: schöner
war diese, aber in ihrem Betragen wie weit jene über sie; wie gefühlvoller
ihr Herz für das, wofür ich so ganz Gefühl war! Wie reizender,
wie füllender ihr Umgang! Die Stunden in ihrer Gesellschaft gewannen immer
an Reiz für mich, wie die Langeweile der übrigen zunahm.
Auch über meine Art, von Weibern zu denken,
hatte sich jene Revolution vorbereitet, die ich oben andeutete; und sie äußerte
schon auf mein Betragen gegen Franziska und Karoline ihren Einfluß. Sie
hatte meine Gefühle von Ehrfurcht für die Würde des Weibes herab,
und meine Begriffe von männlicher Hoheit in dem Verhältnisse der Geschlechter
hinaufgestimmt; und diese Revolution war, was man wohl nicht leicht erwarten
sollte, das Werk von Richardsons Klarissa. Ich will mich bemühen, die eigene
Art der Einwirkung dieses Romans auf mein Gemüt in ihrem Gang zu entwickeln.
Ich las diesen Roman zum erstenmal in Mannheim:
las ihn in einer Lage, die mein Gemüt ihm ganz öffnete; in einer Stimmung
von Wehmut, die zu den gegenwärtigen Gefühlen so gern aus dem Vergangenen
die Erinnerungen tief genossener, nun entflohener Freuden zurückruft; ich
hatte Liebe genossen, aber noch mehr geschwelgt in ihren Vorgefühlen. Das
erwachte nun alles in mir und gab den Enpfindungen meiner schmerzlichen
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Lage noch den Zusatz eines schmachtenden, darbenden Verlangens und meinem Sinne
und meiner Einbildungskraft eine volle Gespanntheit, einen Drang nach Liebe,
der mit Gier nach Bildern griff, an die er sich haften könnte.
In dieser Stimmung erschien nun Klarissa vor meiner
Seele! Ich hatte Romane gelesen, Komödien gelesen und gesehn, und in ihnen
manche Seite des weiblichen Herzens, die meine hohen Begriffe von weiblicher
Würde hätten herabstimmen können; aber diese Begriffe lagen in
einem Ideale, das aus zu heiligen Gefühlen zusammengewebt war, als daß
irgendein Bild weiblicher Schwachheit ihm hätte schaden können. Ich
hatte in der Erfahrung Weiber kennengelernt, die bis zu allen Abscheulichkeiten
sinnlicher Wollust herabgesunken waren. Sowenig nun mein Ideal dieser Erniedrigung
fähig war, so gewiß ich das fühlte und wußte, so gewiß
fühlte und wußte ich auch, daß auch nicht einmal die gewöhnliche
Theater und Romanliebe auf dieses Ideal paßte. Euere Sophien und Julien,
sagte ich zu meinen Dichtern, wenn ich das Leben ihrer Darstellung unwiderstrebbar
fühlte, mögen freilich so sein! Für sie seid ihr wahr! Aber es
gibt eine Weiblichkeit, die ihr nicht kennt: die das nicht ist, auf die all
euere Darstellung nicht paßt. Ich kannte nur dreierlei Klassen weiblicher
Geschöpfe: eine niedrigste aus eigener Erfahrung, eine mittlere aus Dichtern
und eine höchste, engelnahe Klasse aus meiner Phantasie. Noch kein Dichter
hatte mir ein Wesen aus dieser letzten Klasse gegeben, die einzige Cidli ausgenommen,
an der aber meine Irreligion den Eindruck schwächte. Alle übrigen
waren Mittelwesen, bei denen ich mich zwar mit Freude, selbst mit dem Wunsche
des Genusses, wie sie zu genießen gaben, verweilen konnte, von denen ich
aber in stillern, bessern, eigenern Stunden zu meinem Ideale zurückflog.
Aber nun Klarissa! Zum erstenmal ein Wesen,
das meinem Ideale näher war; war sie es nicht ganz selbst, so hatte sie
aus meinen Liebesträumen doch so viel, daß ich sie Schwester der
Geliebten meines Sinnes nennen konnte. Ich setzte sie bald in diese höhere
Familie und lernte an ihr nun selbst mein Ideal, fürchtete mich nicht mehr
wie vorhin, an diesem mich zu versündigen, wenn ich von ihm wahr glaubte,
was Richardson mir an dem seinigen zeigte.
Die beiden ersten Teile dieses Werks, die sich
ganz mit der Darstellung dieses Charakters beschäftigen, las ich zum ersten
Male mit der ach! mit der unnennbaren Freude des Friedens, was so nie
gefunden war. Es
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war wie ein Wiedersehn, ein Wiedersehn des Geliebten! In jedem Brief ein Zug,
an dem ich sie näher erkannte! So ist sie! wußte ichs
nicht, hätt ich allen den Dichtern, von denen keiner mir Kundschaft
von ihr hatte geben können, zurufen mögen! Wußt
ichs nicht, daß sie ist! daß sie ist, wenn ihr sie schon nicht
kanntet.
Ich las langsam und beschauend und hatte Freude
ohne Namen an dem allmählichen Auswickeln der Engelgestalt, die ich nun
erst deutlicher kennenlernte, die solang, so unverdrängbar vor meiner Seele
geschwebt hatte, aber in Schleiern und Hüllen, die sich jetzt zum ersten
Male entfalteten.
Ich selbst hatte das an meinem Ideale nie recht
begreifen können, wie so ein Wesen lieben könne. Und doch war Liebsamkeit
eines seiner wesentlichsten Züge. Lieben muß es können. Aber
wie? Wie lieben? Wes Sinnes ist Lieben in so einem Engel? Ganz begriff ich auch
das in diesen ersten Teilen an Klarissa noch nicht; aber genug, sie liebte,
und nie ging ich in die folgenden Teile mit der Hoffnung über, das begreifen
zu lernen.
Das war der erste Eindruck dieses Werks auf mich
beim ersten Lesen der beiden ersten Teile; ein Eindruck, von dem sich wohl jene
Revolution, die ich zu erklären suche, noch nicht erwarten läßt.
Aber nun! Den Geliebten dieses Mädchens, Lovelace, hatt ich
in den beiden ersten Teilen von mancher glänzenden Seite kennengelernt.
Ich erwartete, an ihm einen Mann zu finden, der so ein Wesen lieben könnte,
der mir das Wie der Liebe so eines Wesens zeigen sollte. Was an ihm nicht glänzte,
das nannt ich Verleumdung, und erwartete nun mit Sehnsucht ihre Beschämung.
Ich war dazu gestimmt, in dem Manne, dem so ein Wesen wie Klarissa sich so hingab,
den Mann der Männer zu finden, war also durch sie selbst für ihn eingenommen,
eh er noch erschien. Meine Phantasie hatte angefangen, an seinem Bilde mit Liebe
zu malen, und nun, da er selbst auftrat, arbeitete sie mit Liebe fort, und vollendete
das Bild zur lebendigsten Anschauung! Und er ward mein Liebling! Alles an ihm
und an mir stimmte dahin, mir ihn werter zu machen.
Zuerst, so unerschöpflich an leidenschaftlichen
Einfällen und so unerschöpflich zugleich an Kraft, jeden dieser Einfälle
auszuführen! Im Kleinen hatt ich das auch schon getrieben,
daß ich, zusammengezogen auf die einzige Gegenwart, ohne Rücksicht
auf Vergangenheit, ohne Vorblick auf Zukunft, für den einzigen Genuß
des Augenblicks, Glück und Unglück auf eine Karte gesetzt hatte! Wie
reizte michs an ihm im Großen.
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Ich lag unter der Qual von Vorwürfen über Ausschweifungen, zu denen
ich in solchen freiwilligen Betäubungen hingestürzt war: mich quälte
das, und er so stolz in Taten, gegen die alles, was ich noch hatte tun
können, so kleines Kinderspiel war! Er zeigte mir also, wie ich diese quälenden
Gefühle abweisen könnte: er zeigte mir Rat und Hülfe gegen mich
selbst.
Und nun vollends seine Superiorität überall!
Ich hatte das Vergnügen zu herrschen, jedes Kreises Mittelpunkt
zu sein, im Kleinen auch schon so entzückend empfunden, und hier dann nun
der Mann, dem sich alles beugte, unwiderstehlich jedem Herzen, ob es in einer
weiblichen, ob es in einer männlichen Brust schlüge! Mein Herz teilte
sich zwischen den beiden großen Angelegenheiten, höhere Liebe zu
sehn, und das Geheimnis der Geheimnisse, die große Kunst des Lebens, der
Menschenherrschaft, zu lernen.
Das Bild war vollendet! Groß, schön,
mutvoll und stark, voll Anmut und Freiheit, Stolz gegen Stolz und edel im Gefühle
seiner Kraft, gegen unverhehlte Schwachheit: Herrscher, wo er auftrat, und der
Huldigung gewiß! So schwebte er mir vor, ein Ideal, das ich zwar nicht
zu erreichen hoffte, dem ich mich aber zu nähern streben wollte.
Zwar manches auch, wofür ich erschrak in
meinen Tiefen! Manche Stunde, wo zum Beispiel Klarissas Bild mir wieder näher
trat und lieb und gut in bängster Wehmut mich gleichsam fragte: aber verdient
ich das? kannst du das rechtfertigen an dem Manne? Aber ich wußte
mich dann zu täuschen, als ließe sich das von ihm trennen, und ich
wies die Klagegestalt dann sanft zurück: ich will Lovelace sein, aber nicht
Lovelace gegen dich!
So stand es mit mir, als ich das Werk zum ersten
Mal durchgelesen hatte. Sein Tod, das edle, große, männliche, wie
ich es nannte, seiner letzten Auftritte, versöhnte so ganz jeden Unwillen,
der zuweilen in mir gegen ihn aufgewallt war.
Ich war zu voll, zu selig vor diesen Bildern gewesen:
ich las das Werk gleich zum zweiten Male. Welche Veränderung im Eindruck!
Ich fand der Briefe in den ersten Teilen jetzt
so viele; ich wollte ihn haben, ihn, meinen Liebling, und jeder dieser vielen
Briefe hielt mich von ihm. Ich fand diese Briefe bald im Tone so einförmig,
und diesen Ton so im Widerspruch mit meinem Gefühle für meinen Liebling;
ewiges Sperren gegen den Mann, den alles lieben sollte, wie ich ihn liebte.
Ich las noch in der vollen Nachempfindung des tiefen, erschütternden
Eindrucks, den das Bild seines edlen, schrecklichen Ausgangs auf mich gemacht
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hatte. Wo die Rede nur von ihm war, war dieses Bild mir wieder innigst gegenwärtig,
und in solchen Gefühlen fand ich in diesen, in jenen von Klarissas Bedenklicheiten
den Grund zu diesem traurigen Schicksale meines Geliebten. Faßte also
Laune gegen sie, und fand sie ein wenig und immer ein wenig mehr übertrieben.
Lovelace erschien wieder, und ich trat in sein Gefolge; ich kam in den
Ton meiner wilden Tage zurück, reihte mich immer näher an ihn an und
machte mich in Gedanken und Wunsch zum Gefährten seiner Unternehmungen.
Freilich war es viel, was er von Klarissa foderte, aber mein Liebling
was durfte er nicht fodern? Wagt ich es noch nicht, ihm immer laut recht
zu geben, so gestand ich mir doch bald, Klarissa liebe ihn nicht, wie er es
verdiene; ich fand eine Art von Ungerechtigkeit gegen seine Verdienste an ihr,
und meine Verliebtheit mit jeder Bereitwilligkeit, alles an ihm zu lieben, nahm
mit jedem Hinblick zu! Noch ein Zusatz von Leichtsinn und ein zweiter von gereizter
Sinnlichkeit, und mein Held hatte recht!
Die Wirkungen dieser Revolution in mir zeigten
sich sehr bald. Schon gegen Franziska fand ich beim ersten Wiedersehn nicht
jenes erste Gefühl von Ehrfurcht mehr in mir. Klarissa hatte mir gezeigt,
daß auch Mädchen, gegen die ich bisher solche Gefühle gefühlt
hatte, Herzen hätten, die lieben könnten, und Lovelace, daß
man diesen Herzen Liebe abfodern dürfte. Meine Eitelkeit fühlte in
mir schon einen Mann, der sich diesem Helden nähern könne, und im
Willen schon sich ihm genähert hätte: also auch genähert seinen
Verdiensten und den Rechten, fodern zu dürfen wie er! War ich noch unter
ihm, o so war Franziska doch nach dem Ausspruch dieser Eitelkeit noch tiefer
unter Klarissa.
Franziskas Kälte empörte mich. Das DEBELLARE
SUPERBAS leuchtete mir so ein, war nun so mein geworden und, wäre
es mir gelungen, sie aus dem Kloster allein zu haben, wer weiß, wieweit
mich meine Zerrüttung getrieben hätte. Zum Glück gelang mir das
aber nicht.
An einem Abend erhielt ich durch Einschluß
meiner Mutter einen Brief von meiner Tante an Franziska. Es war gerade an einem
Abend, wo ich, gestärkt in der Anbetung meiner selbst durch Karolinens
freundliches Betragen, gegen Franziskas trotzigen Widerstand in wildem Aufruhr
war. Ich hielt den Brief gegen das Licht und las meinen Namen. Sogleich macht
ich Anstalt zu einem Amalgama, drückte die Petschaft ab, erbrach den Brief
und las dann. Meine Tante lobte Franziska, daß sie sich von mir zurück
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halte, nach hundert fatalen Nachrichten sei ich ein erzliederlicher, verderbter
Mensch usw.
Ich schäumte nach Rache; ich fragte meinen
Helden, was er in der Lage würde getan haben? Ach, er! Durch
tausend Schlösser und Riegel hätte er Wege gefunden, Rache und Schande
zur Strafe über sie, in das Innerste des Heiligtums zu bringen, in dem
sie nicht aus Liebe, die sich selbst fürchtete aus Verachtung
gegen mich so unerbittlich sich verschlossen hielt. Tausend Möglichkeiten
fielen mir ein, die aber nur Möglichkeiten blieben, und am Ende schränkte
sich meine Rache darauf ein, den Brief, nachlässig wieder zugemacht, so
daß sie sehen konnte, daß ich ihn erbrochen und gelesen hatte, ins
Kloster hinzuschicken und Franziska nicht mehr zu sehen.
Dieser Bruch, der vor wenigen Wochen noch für
mich ein Unglück gewesen wäre, das ich nicht zu verschmerzen gewußt
hätte, ward mir jetzt sehr leicht. Franziskas Betragen hatte meine Eitelkeit
so empfindlich gekränkt, und Karolinens Betragen bot mir so schmeichelnden
Ersatz! Die Reize ihres Umgangs, ihrer Kunst, ihres Geistes, hatten meiner Neigung
zu ihr eine Wärme gegeben, die ich selbst jetzt erst recht gewahr nahm,
jetzt, da Franziska zwischen ihr und mir weggebannt war.
Ihr gab ich mich jetzt ganz hin.
Aber nun hatte ich gegen Karoline nie jene Ehrfurcht,
jene Unmöglichkeit, wieder geliebt zu werden, Gegenliebe erwarten, verdienen,
fodern zu können, gefühlt, die in meinem Verhältnis mit Franziska
solang mein Jammer und meine Wonnen gewesen waren. Von dem Abend unserer ersten
Bekanntschaft an hatte ich gegen Karoline mich mehr als Lovelace, mehr im Rechte
zu fodern gedacht: aber nur noch nicht gefodert um Franziskas willen. Jetzt
hielt mich nichts mehr ab, und ich verstattete meiner Eitelkeit den Versuch
meiner Kräfte und die Wahl Karolinens zum ersten Abenteuer meines ersten
Ritterganges.
Bisher war der Ton meines Lebens mit ihr nur ein
stilles Aufnehmen süßer Eindrücke gewesen. Jetzt strebte meine
Eigenliebe nach Genüssen, die nicht freiwillig angeboten, die nur errungen
und erkämpft werden müßten.
Die ersten Angriffe geschahen schnell und ungestüm
und hatten Erfolge, die mir meine Meinung von mir selbst immer mehr bestätigten.
Die ersten Schritte in kleineren Freiheiten geschahen
schnell, ich wurde
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mit jedem Tage wagender, Karoline mit jedem nachgebender, jede zugestandene
Freiheit beschleunigte die folgende.
Diese Schwäche ihres ersten Widerstandes
brachte eine Menge trauriger Wirkungen hervor.
Zuerst hegte und nährte sie meine Eitelkeit
zu schnellstem Wachstum. Was von ihrer Seite Schwachheit war, das schrieb ich
der unwiderstehlichen Wirkung meines Ichs zu. Über jeden Gewinn sang meine
Eigenliebe Triumphlieder.
Aber die Gewohnheit zu siegen verringerte nach
und nach den Wert der Siege. Meine Phantasie schilderte sich eine Welt von Hindernissen,
die sich meinen Wünschen hätten entgegenwerfen können, und die
es so süß gewesen sein würde zu bekämpfen. So aufgehalten
zu werden bei jedem kleinen Fortschritt, und dann doch durch alles das durchdringen
bis zum Ziele! Ja, das mußte süß und groß sein, und am
Ziele dann Gefühle geben, die des Kampfes wert wären!
Karoline verlor dadurch unersetzlich! Welch ein
Wesen war Klarissa gegen sie. Konnte ich in allem Glücke meiner Unternehmungen
mich gegen Lovelace stellen? Was gab mir Karoline zu unternehmen?
Aber doch auch wieder von einer andern Seite war
und blieb sie doch immer das Wesen, das mir nicht hatte widerstehen können,
das so schnell, so innig mich geahndet, gefühlt, gefaßt hatte, und
welches, hingerissen von diesen Ahndungen und Gefühlen, lieber alles als
durch verstellten Widerstand mich hatte verlieren wollen!
So kämpfte meine Eitelkeit mit sich selbst;
aber auf die Länge konnte doch keine ihrer Entscheidungen für Karoline
gute Folgen haben.
Trauriger noch war die Folge, die Karolinens Schwachheit
auf meine Sinnlichkeit hatte. Ich hatte schon Wollust genossen in tausenderlei
Gestalt, aber nur immer noch mit feilen Buhldirnen: eine Wollust, die mir nur
im Augenblicke viehischer Empörung Genuß und im folgenden Ekel gegeben
hatte. Karolinens Schwachheit bot mir ganz andere Genüsse dar. Sie deckte
mir über manche Reize den Schleier auf, unter welchem zwar meine Phantasie
sich wohl lüstern hingeschlichen hatte, von welchen ich aber jetzt zum
erstenmal gegenwärtige Gefühle erhielt, in denen ich nun schwelgte
und herumwühlte.
Bisher also waren meine Gefühle für
Weiber zwei äußerste Extremen
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gewesen: entweder hinreißende, witternde Wollust oder liebende, zurückzuckende
Ehrfurcht. Meine Einbildungskraft, beschwängert von den Bildern des Schauspiels
und der Romane, hatten diese Extremen wohl schon einander genähert,
aber das waren doch immer nur Bilder der Phantasie gewesen. Jetzt wurde diese
Herannäherung, diese Vermischung auch Gefühl. Jetzt fing physischer
Genuß an, mir ein Bestandteil, wenigstens ein möglicher Bestandteil
im Gefühle der Liebe zu werden; ich fing an, Buhlerei mit Wesen als möglich
zu begreifen, an die sonst mein kühnster Wunsch sich nicht zu versündigen
gewagt hätte! Liebe des Himmels und der Erde schmolzen in der Glut der
Wollust zusammen. Auch weiß ich für die ersten folgenden Jahre nur
eine einzige Ausnahme, unter so vielen Fällen nur einen einzigen Fall,
wo ich wieder in erster Reinheit liebte; das war aber auch der Fall einer Liebe,
die schon in den Jahren jener Extremen, in den Jahren der ersten Reinheit begonnen
hatte.
Jeder Genuß, den Karoline mir gab, hatte
für mich einen gewissen Reiz von Neuheit, der ihn desto tiefer meinem Gedächtnis
einprägte. Der Grund meiner Seele wurde dadurch immer unreiner, immer angefüllter
mit Erinnerungen, die sich nun bei jedem Anlasse auch desto lebhafter aufregten,
je lebhafter sie im gegenwärtigen Gefühle gewesen waren.
In dieser Lage ward mein ganzer Umgang mit Karoline
täglich mehr bloß zu einem Spielwerk des Mutwills. Der Grad von Herzlichkeit,
von zärtlicher Hinbeugung und Verehrung, die ich noch im Anfang unserer
Bekanntschaft für sie gefühlt hatte, der aber freilich nie dem Maximum
meines Gefühls für Mariane sehr nahe gekommen war, nahm immer mehr
mit jedem Nachgeben ab. Reize des Geistes, der Empfindsamkeit, der Kunst, die
ich in den ersten Tagen an ihr so liebte, wurden jetzt fast bloß zur Erholung,
zur Erhöhung des Reizes im physischen Genusse oder zur Unterhaltung in
Stunden des gleichgültigern Umgangs herabgewürdiget und gemißbraucht.
Das Feuer meiner Sinnlichkeit ergriff in ihrer Empörung alles zur Nahrung
ihrer Flamme, und verzehrte jedes bessere Gefühl in der Glut der Leidenschaft.
Endlich fehlte mir nur noch das äußerste,
letzte! Soll ich auch das fodern? Meine Eigenliebe und meine Sinnlichkeit
entschieden die Frage bald mit einem ungestümen, diktatorischen Ja!
Aber! zum ersten Male seit lange, zum ersten Male in diesen Tagen des
Taumels fanden sie einen Widerspruch, der sie aufhielt! Der Widerspruch
einer Stimme, die oft
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gegen sie gesprochen hatte, die aber immer von ihnen betäubt war, und doch
jetzt jetzt am Ziele zu laut rief.
In einer tiefern Tiefe meines Gedächtnisses
lagen Erinnerungen oder Erdichtungen ganz anderer Freuden, als in denen ich
mich jetzt berauschte: Bilder der ewigen Schönheit von der Reinheit und
Unschuld, Bilder der Freuden, die ich so oft vorgenossen hatte in unsterblichen
süßen Gefühlen; Bilder der höchsten Erdenseligkeit in Vereinigung
der Liebe und Tugend. Sie waren tief hinabgesunken, diese Bilder, aber doch
so tief noch nicht, daß sie sich gar nicht mehr hätten regen können.
So kamen Stunden, jetzt, da die erste Glut der Leidenschaft durch zu leichte
Siege mehr gekühlt war, kamen Stunden, wie die Stunden des ersten Entstehens
und Schaffens jener Bilder gewesen waren! Stunden der Stille und der Eingewiegtheit;
Stunden des Naturgenusses an schönen Abenden, in schönen Gegenden;
Stunden der Tränen nach der ewig entflohenen süßen reinen Kindheit
meines Gefühls! Und jene Bilder erhoben sich aus ihrem Grabe in dieser
Tiefe meiner Seele und schwebten vor meinem Blick vorüber, wie aufgestandene
Geister, feierlich warnend und machtvoll; daß ich nicht oft in erdrückendster
Wehmut meine Hände gegen sie ausstreckte! Und Karoline war das Wesen nicht,
das ihnen Leben der Wirklichkeit geben konnte! Jedes Nachgeben, das in andern
Stunden meiner Eitelkeit so schmeichelnd, meiner Sinnlichkeit so süß
war, ward ein Ankläger gegen sie und ein Peiniger gegen mich, daß
ich klagte, laut und gepreßt, hätt ich, ach! hätt
ich Karoline nie gesehen!
Und der Wunsch war nicht mehr zu erhören!
Ich rang endlich nach einem Vielleicht, das helfen
möchte in dem quälenden Zweifel an aller Hülfemöglichkeit!
Und ich fand dies Vielleicht, oder ich erträumte es: ein Vielleicht, mit
dem sich alles Eitelkeit und Wollust und Tugend begnügen könnten!
Vielleicht vielleicht ist Schwäche der Liebe mit Stärke der
Tugend zu vereinigen! Wenn jene wich, im leichtern Angriff, so siegte vielleicht
diese im letzten!
Das Resultat dieses Krieges in mir war, der Angriff
sollte geschehen! Und würde sie unterliegen, so sollte auf ewig gebrochen
sein!
Der Angriff geschah, und wurde zurückgeschlagen.
Die Art sogar, wie Karoline sich dabei nahm, gab
meiner Neigung zu ihr neuen Zuwachs. Nichts von trotzender Stärke. Geständnis
der Furcht vor sich selbst, Bitten um Schonung, nicht zum Scheine nur, nicht
Bitten
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mit dem Wunsche, nicht erhört zu werden, oder mit Zuversicht auf die Kühnheit
und Leidenschaft des Liebenden, daß sie versagen werde, was nur Bitte
der Ziererei war: Bitten um Schonung, in denen ich den vollen Ton der Wahrheit,
der sich selbst fühlenden, für sich selbst zitternden Liebe zu erkennen
glaubte.
Diese Szene gab Karolinen fast auf einmal alles
in meinem Herzen wieder, was sie allmählich verloren hatte, sie rührte
mich so innigst, daß ich ihr gestand, die Stunde des Nachgebens würde
die letzte unsers Sehens gewesen sein.
Ich weiß nicht, ob ich nicht noch zu unerfahren
war, die Folgen einzusehen, die dieses Geständnis für mich haben konnte,
wenn Karolinens Liebe ein Spiel einer andern Neigung war, oder ob meine Rührung
oder meine Eitelkeit mir nicht erlaubten, so von ihrer Liebe zu denken; oder
ob endlich alles folgende, was freilich eine Wirkung dieser Offenherzigkeit
sein konnte, in der Tat keine Wirkung derselben, vielleicht eine natürliche
Folge ihrer Verhältnisse ohne irgendein Zutun von Schlauheit oder Kunst
war.
Nicht lang nachher bat mich Karolinens Bruder,
ihn auf einer kleinen Reise nach Köln zu begleiten. Ich tat das. Auf dem
Wege nahm er sich, als drückte ihn etwas schwer und, gleichsam nach einem
langen Kampfe, nach öfterm Anfangen und Unterbrechen, stellte er mir endlich
vor: er habe in Bonn als ein Ausländer, dem es in den Augen der Eingebornen
zu gut gehe, eine Menge von Feinden, deren Neid jeden seiner Schritte verfolge
und bei jedem Anlasse alle Künste der Verleumdung gegen ihn aufbiete. So
murmle jetzt schon die ganze Stadt über den vertrauten Umgang seiner Schwester
mit mir. Der eine Teil schreie über Buhlerei, der andere werfe dem Mädchen
künstliche Entwürfe, einen jungen fremden Mann in ihre Stricke zu
fangen, vor. Er selbst, so sehr er hoffe, von der Reinheit unsers Umgangs und
meiner Absichten überzeugt sein zu dürfen, könne mir nicht bergen,
daß, zärtlich und weich, wie er das Herz seiner Schwester kenne,
er oft für ihre Jugend, für die meinige, für unsere Liebe zittere.
Sein Gewissen mache ihm über die Beförderung unserer Bekanntschaft
oft die bittersten Vorwürfe! Oft im Begriff sie abzubrechen, hätten
die Tränen seiner Schwester, ihr Flehen, ihre Beteurungen, daß das
Wohl ihres Lebens so einzig und ewig an dem Glücke meiner Liebe hange,
ihn abgehalten; aber länger dürfe er nicht schweigen! Ich müsse
und werde ihm, dem Bruder meiner Geliebten, der zugleich ihr Vater sein müsse,
die Forde
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rung einer Erklärung zugute halten, wohin es mit der Fortsetzung dieses
Umgangs, der mich so auffallend von der Heimreise zurückhalte, gezielt
sei!
Dem bloßen Zeitvertreib die Ehre eines Mädchens
aufzuopfern, das mich so innigst, so hingegeben liebe, das sei ein Gedanke,
den er gegen mich nicht fassen könne. Solle gleichwohl der Reiz, mich so
lieben zu lassen, mich verführt haben, so hoffe er, seine Vorstellung würde
mir die Augen öffnen! Ich würde meine Schwachheit selbst verdammen,
und seine Schwester für ihre Liebe nicht so hart an allem, was einem Mädchen
auf Erden das Kostbarste sein müßte, strafen wollen! Ich würde
dann die Not einsehen, diesen Umgang abzubrechen.
Ich liebte den Mann nicht sehr. Er hatte vieles,
was mich zurückstieß; aber in dieser Vorstellung lag doch viel Wahres!
Karoline war mir unendlich teuer geworden nach
jener Szene. Sie hatte mich mit neuen Banden an sich gefesselt, als die ersten
oft schon dem Zerreißen nahe waren. Sie war freilich nicht wie das Ideal
der reinen Liebesträume meiner Jugend; aber der letzte Widerstand war doch
der Zug einer edlern Seele! Die wonnige Schwachheit im Nachgeben entschuldigte
meine Sinnlichkeit mit der Süße des Genusses und meine Eitelkeit
mit der schmeichelnden Macht meiner Einwirkung auf sie. Und dann war mir jenes
Ideal in diesen Genüssen fremder geworden; ich hatte es oft abgewiesen,
wenn es in der Gesellschaft meines Gewissens kam, mich zu stören. Karoline
hatte durch ihre letzte Standhaftigkeit zugleich meiner Eigenliebe, meinem Hang
zur Wollust und dem letzten schwachen Reste meiner Tugend genug getan. Wie teuer
sie war, fühlte ich nie inniger als jetzt, da ich ihr entsagen sollte.
Es blieb nur ein einziges Mittel übrig, die
Erklärung nämlich, daß ich sie heiraten würde, ich hatte
den Gedanken oft gedacht, aber bis auf diese letzte Szene immer mit geheimem
Widerspruch. Auch diesen hatte die letzte Szene geschwächt, aber noch nicht
ganz gehoben. Er lag noch größtenteils in meinen äußern
Verhältnissen.
Zuerst meine Mutter. Ich wußte, wie sie
das aufnehmen würde; hatte sie bei Gelegenheiten, wenn einmal irgendein
junger Mensch auf Akademien geheiratet hatte, sich so deutlich dagegen erklären
hören! Sie hatte so einen gewissen Familienstolz; sprach so gern von den
vornehmen Verbindungen meiner väterlichen und ihrer eigenen Familie. Sie
bauete auf meine künf
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tige Heirat so gewiß einen Teil ihrer liebsten Hoffnungen, und nun dieser
liebenden Mutter nach all dem, was sie für mich gelitten und getan hatte,
auch noch die Ankündigung einer Heirat mit einem fremden, armen Mädchen
mitzubringen!
Dann meine häuslichen Umstände! Zwar
ihre ganze wahre Lage kannte ich nicht. Die Möglichkeit so öfterer,
so nachdrücklicher Hülfe, wie meine Mutter sie mir oft verschafft
hatte, beruhigte mich oft in Augenblicken des Zweifels. Aber glänzend konnte
ich sie doch auch nicht vermuten. Und was blieb mir dann übrig? Advokatur
ums Brot! Ein Leben also, das ich unter allen am meisten verabscheute, zu dem
ich mir so gar bewußt war, nicht einmal die nötigsten Kenntnisse
mitzubringen.
Diese Aussichten hatten mich immer abgehalten,
die Liebe anzubieten, was brüderliche Vorsorge mir jetzt gleichsam abdrang.
Aber jetzt ging ich zur Betrachtung dieser Gründe aus dem Gefühle
meiner Liebe zu Karoline, aus dem Mitgefühle mit ihrem Jammer, aus dem
Vorgefühle des meinigen, wenn ich sie verlassen sollte, über.
Die Abneigung meiner Mutter, sagt ich jetzt
zu mir selbst, gründet sich doch nur auf Vorurteile, und Vorurteile lassen
sich besiegen. Und wenn das auch nicht wäre, was soll ich hier diesen Vorurteilen
aufopfern? Das Glück meines Lebens ist in dem Glücke eines Mädchens,
das ich liebe! Und wenn Karoline recht hat, über die Ungerechtigkeit des
Glücks und der Geburt zu klagen, darf ich ihr das Recht geben, auch noch
über die Ungerechtigkeit des Menschen zu klagen? Und welches Menschen?
Des geliebtesten unter allen, auf dessen Redlichkeit sie so liebend alles Wohl
und Weh ihres Lebens hingesetzt hat! Und was ist Unterschied der Geburt noch
vollends außer dem Adel, bei welchem ständische oder andere Vorteile,
die zugleich Vorteile für das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft
sein können, ein solches Vorurteil rechtfertigen oder entschuldigen mögen.
Der Unwille meiner Mutter wird sich besänftigen lassen, eher vielleicht
als beängstigte Liebe es zu hoffen wagt. Freilich werden meine Umstände
mir das Leben sauer machen; aber, fragt ich mich selbst, kannst du den
Gedanken ertragen, jemals deine Hand zu verkaufen? Würdest du dich in irgendeiner
Not entschließen, dem Reichtum ohne Liebe ein Herz zu geben, das Liebe
so dürftig braucht? Und wenn du also dennoch einmal in die Sklaverei des
Advokatenlebens dich schwingen sollst gelingen wird dies gewiß,
flüsterte mein Stolz mir zu! Und dann verdienst du mit dem
Brote für dich auch leicht das Brot für ein
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geliebtes Weib. Sie wird neben dir sitzen und dich erquicken in der Tageslast,
und du wirst wenigstens wissen, wofür du arbeitest.
Mit solchen Gründen widerlegte oder betäubte
ich mich selbst, und der Ausspruch nach diesen Beratschlagungen war, daß
ich bei der Heimreise nach Bonn Karolinens Bruder erklärte, es sei mein
fester Entschluß, seine Schwester zu heiraten.
Aber nun! So fest dieser Entschluß auch
war, so traf michs doch, daß Karolinens Bruder jetzt darauf drang,
daß ich mich vor meiner Abreise förmlich mit ihr vor einem Notar
und Zeugen verloben sollte. Schon an sich beleidigte mich dieses Merkmal von
Mißtrauen, so sehr der Mann auch dagegen protestierte, so sehr er auch
beteuerte, seine ganze Absicht sei nur Beruhigung seines Gewissens und Sicherheit
für seine Schwester. Und selbst auf Karoline fing ich, bei allem Anschein
einer unbefangenen Offenheit, von Zeit zu Zeit an, mißtrauisch zu werden.
Ihr hatte ich noch nie von meinen häuslichen
Umständen auch nur so viel gesagt, als ich ziemlich genau davon wußte,
obschon ich ihr auch nie von Reichtümern ausdrücklich vorgelogen hatte;
aber meine Aufführung tat diese Lüge anstatt meine Zunge. Ich zog
immer in Bonn angewiesene Wochengelder und bezahlte davon nie etwas im Gasthofe.
Ich machte also mit jenen Geldern ziemlichen Aufwand, gab oft Konzerte, traktierte,
lud Karoline und ihren Bruder zu Spaziergängen, zu Spazierfahrten ein,
die mit Aufwand verknüpft waren und gab ihnen dadurch ein Recht, auf einen
gewissen Grad von Reichtum zu schließen. Jetzt fiel mirs zum erstenmal
ein, ob auch das vielleicht Einfluß auf die Gewissenhaftigkeit des Bruders
haben möchte? Ob wohl nicht gar sie selbst es war ein entsetzlicher
Gedanke! nicht gar sie selbst Plane gemacht oder mit verabredet hätte
ein Gedanke, den sie mit allen Beteuerungen, daß sie es nicht verlange,
nur gezwungen von dem Eigensinn des Bruders, nachgäbe, und auch mich nachzugeben
bitte, nicht ganz überwinden konnte.
Meine Eitelkeit kam indes diesen Beteuerungen
zu Hülfe. Noch kann ich selbst nicht ganz und gewiß sagen, was Wahrheit
war, ob sie sich nicht vielleicht selbst täuschte! Genug, auch dieser Gedanke
wurde in mir niedergeschlagen und die Sache vollzogen!
Ich setzte ein förmliches Verlobnis auf,
und ich und Karoline unterzeichneten die Schrift. Wir ließen einen Notar
kommen, sagten vor ihm und zwei Zeugen aus, daß dieses Papier einen Vertrag
enthalte, an den
[270]
wir uns feierlich wollten gebunden haben. Die Schrift wurde dann vernäht,
und der Vorgang vom Notar beurkundet. Karolinens Bruder nahm die Urkunde zu
sich; eine ähnliche von ihr für mich zu fodern, verstattete entweder
meine Eitelkeit oder mein grenzenloses Zutraun zu ihrer Liebe nicht.
Von dieser Zeit an drang Karolinens Bruder immer
mehr auf meine Heimreise. Ich mußte mir erst noch wieder einen Wechsel
von Hause kommen lassen, der aber nicht hinreichte, und dem wieder ein anderer
nach Düsseldorf folgte.
Vom Abschied sag ich nichts; auch von der
Reise nichts. Von Düsseldorf aus schrieb ich zum erstenmal an Karoline,
und schrieb in wahrer leidender Trennung.
Und so kam ich endlich nach vielem Ach und Weh
am 29. Oktober 1768 zu meiner Familie zurück. Bei meinem Anblick
war auf einmal alles vergessen und vergeben. Alles weinte: aber es waren Freudentränen
über die Zurückkunft des verlornen Sohnes.
4.
Von meiner Zurückkunft von der Universität bis zu meiner Heirat
176871
Von meinem 19ten bis zu meinem 22sten Jahre
Die erste Not, die ich nach meiner Zurückkunft hatte, war, meiner Mutter
die Geschichte meiner Ausschweifungen so vorzudichten, daß ich es wenigstens
wagen durfte, sie anzusehn. Ich hatte schon oft in meinen Briefen um Geld solcher
Umstände eine Menge erlogen, jetzt brachte ich das alles in Zusammenhang.
Die ersten Tage mußte ich unter dem Vorwand
der Unpäßlichkeit das Haus hüten, weil ich völlig in Gestalt
des verlorenen Sohnes zurückkam, ohne Wäsche, ohne Kleid, in dem ich
mich hätte zeigen dürfen.
Von Göttingen waren Verschläge mit Büchern
angekommen. Es waren die Bücher, die ich Schücking anvertraut hatte.
Statt der übrigen erhielt ich bloß die Nachricht, daß Springer
selbst ins Gedränge gekommen war,
[271]
Göttingen hatte verlassen müssen, und, um sich zu retten, meine Bücher
versetzt hatte.
Also gerade die Bücher waren dahin, durch
die ich jetzt gehofft hatte, das Versäumte zu ersetzen! Und dafür
eine Sammlung von Werken um mich her, die mich reizten und so oft und solange
von ernstlichen Arbeiten abgezogen hatten. Indes mußte doch zu jenem Endzweck
jetzt wieder Rat geschafft werden, und er wurde geschafft. Ich schaffte mir
die nötigsten juristischen Werke an. Nach und nach fing ich auch in der
Tat an, etwas zu arbeiten, aber auch erst recht zu fühlen, was ich versäumt
hatte. Aber mit meinem guten Mute gelang mirs bald besser, als ich es
anfangs fast nur gehofft hatte. Indes ekelte mich vor Advokatur, und wenn meine
Mutter das Lied davon anstimmte, sucht ich sie mit der Vorstellung aufzuhalten,
daß ich zuvor in aller Ruhe meine Inauguraldissertation ausarbeiten müsse;
daß mir diese, wenn sie gelinge, den Weg zu einer Beförderung bahnen
könne, usw. Ich schrieb nun wirklich eine Inauguraldissertation, DE
SUCCESSIONE CONJUGIS SUPERSTITIS IN BONA PRAEDEFUNCTI SEC. ORD. POLITICAM MONASTERIENSEM.
Ich muß gestehen, daß ich sie noch jetzt mit Vergnügen ansehe,
wenn ich bedenke, daß ich damals ohne alle Logik und Philosophie, fast
ohne alle Kultur des Verstandes, doch mit dieser Ordnung schreiben konnte, die
wirklich darin herrscht.
Im Herbste 1769 reiste ich nach Holland, über
Arnheim und Harderwijk, um da mich promovieren zu lassen. Ich hatte meine eigene
kindische Freude daran, bei dem Professor, der mich promovierte, den Scharlatan
zu machen und mit Gelehrsamkeit zu prahlen, die doch im Grunde erbärmliches
Flickwerk war.
Am 24sten September kam ich des Abends in Harderwijk
an, und am 25sten reiste ich, legitime promotus, zu Schiffe nach Amsterdam ab.
Man muß das Possenspiel, das man dort mit dieser Zeremonie spielt und
den kaufmännischen Geist, mit dem man die Doktoralwürde behandelt,
kennen, um das zu begreifen.
Ich lebte die beiden Tage in Harderwijk höchst
wild. Ich war an einen jungen Menschen empfohlen, durch den ich mehrere Studenten
kennenlernte. Ich trug ein reiches Kleid und ließ aufgehen. Das war einigen
elenden Burschen ein Signal, mich im Rausche zu bestehlen. Von einem Wechsel,
mit dem ich nach Abrechnung der Promotionsunkosten, Holland durchreisen sollte,
brachte ich kaum so viel davon, daß ich über Amsterdam nach Hause
[272]
reisen konnte. In Amsterdam blieb ich nur zwei Tage, ging zur See nach Zwoll,
hungerte unterwegs und kam am zehnten Tag nach meiner Abreise ohne einen Heller
in der Tasche zu Hause wieder an.
Mit Karoline hatte ich diese ganze Zeit hindurch
einen ordentlichen Briefwechsel geführt. Ihr Bruder und sie selbst fingen
bald mit Nachdruck an, darauf zu dringen, daß ich Anstalten zur Vollziehung
meines Versprechens machen sollte.
Es war mein ewiger Gedanke hin und her, wie ich
meiner Mutter die Sache beibringen sollte. Ein Ungefähr löste die
Aufgabe auf und machte meiner Mutter die Geschichte auf eine Art bekannt, die
für sie nicht schmerzlicher hätte sein können.
Ein naher Vetter, der Rat Bruchhausen (seine Mutter
war meines Vaters Schwester), heiratete. Ich war mit meiner Mutter und meinem
Bruder auf der Hochzeit. Ich machte mich abends in der Frohheit vom Wein an
die Schwester der Braut, die einzige in der Gesellschaft, mit der ich mich abgeben
mochte. In der Begeisterung der Festesfreude schwatzte ich dem Mädchen
allerhand Schönes vor. Mein Bruder, der unter den Vertrauten meiner Liebe
war, kam dazu und, verleitet entweder von einer kleinen Eifersüchtelei
oder geöffnet zum Scherz durch einen halben Rausch, sagte er mit einer
bedeutenden Miene zu mir: Wenn das deine Karoline hörte!
Karoline! Kaum war das Wort aus seinem Munde,
so faßte das Mädchen es auf, dem es wohl ungelegen genug kommen mochte,
und im Augenblick darauf lief das Wort durch die ganze Gesellschaft. Man brachte
mir ihre Gesundheit zu, man trank eine zweite auf das Wohl des ersten Paars,
das dem Bräutigam folgen würde. Ich sperrte mich nicht, um
mich nicht noch weitern Neckereien auszusetzen; ich gestand, daß Karoline,
ein Mädchen in Bonn, meine Braut sei.
Meine Mutter sperrte sich in meinem Namen mit
aller Heftigkeit der Wut, worin der bloße Gedanke der Möglichkeit
eines solchen Unglücks sie gebracht hatte. Sie sprach von Universitätsstreichen,
von leichtfertigen Verführerinnen, schlauen Buhldirnen usw.
Das hielt ich nicht aus. Auf einmal stand Karoline
da im Bilde vor mir, fliehend an meine Brust zum Schutze der Beschimpfung!
Und nun erklärt ich laut und zuversichtlich, daß sie die Meinige
sei und bleiben solle, trotz alles Widerstandes, gegen den ich alle Wut der
Liebe hätte.
[273]
Die Szene war schrecklich für meine Mutter! Die Gesellschaft trennte sich
bald. Die Heftigkeit, mit der ich gesprochen und mich gebärdet hatte, hatte
mich nun vollends berauscht. Auf dem Wege und zu Hause setzte ich meine Beteuerungen
fort. Meine Mutter, gleich heftig im ersten Zorne, sprach von mütterlichem
Fluche, und ich drohte dagegen mit allem, was Verzweiflung eingeben kann: mit
Gift und Dolch. Es war eine entsetzliche Nacht.
Am andern Morgen hatte sich meine Wut mit meinem
Rausche gelegt; bei meiner Mutter hatte der Schlaf wieder mütterlichere
Gefühle erregt; der geheime Rat meiner Tanten riet auf Sanftmut; ich war
kränklich, litt unter den Nachwehen der gewaltsamen Erschütterung;
der alte Grundsatz der Schonung wurde durch mein blasses Aussehen und die stille
Melancholie, in der ich bisher gelebt hatte, wieder rege, und so wurde von der
Sache gar nicht wieder gesprochen. Meine Mutter, froh, daß die Sache nur
noch nicht durch eine förmliche Heirat entschieden war, faßte gern
den Trost, den ihre Freunde ihr gaben, daß die Leidenschaft bei mir selbst
verrauchen würde; sie arbeitete indes in der Stille, um der Zeit zu Hülfe
zu kommen; sie schrieb an Karoline, verbat sich unsern Briefwechsel, bot Leute
auf, zu denen ich Zutrauen hatte, um mir die Folgen dieser Übereilung darzustellen.
Sie tat alles; ich weiß nicht, ob nicht hin und wieder zuviel.
Sie hat ihren Endzweck erhalten! Ich habe das
Band zerrissen.
Wie es zuging, was mich nach und nach bestimmte,
welche Kräfte in mir das bewirkten, und wie sie endlich Karoline ganz aus
meinem Herzen hinausrissen, das will ich erzählen, treu, wie ich es noch
weiß.
Zuerst war diese ganze Liebe zu Karoline von der
Art, daß eine lange Entfernung ihr notwendig nachteilig werden mußte!
Diese Neigung hatte keine jener innigen Empfindungen gehabt, die Marianens erster
Anblick vormals in mir aufgeregt, und die ihr Bild selbst so aus der Ferne,
bloß wie es in meiner Phantasie stand, immer ernährt hatte: Nichts
von jenem unnennbaren, reinen Himmelanstreben, das mich so oft bei dem bloßen
Gedanken an Mariane begeistert hatte.
In dem einsamen Leben, das ich jetzt lebte, kamen
die Stunden höherer Spannung mir oft wieder. Ach, und Karoline war mir
dann nicht alles, was ich dann brauchte! Sie konnte mir nicht sein, nicht leisten,
nicht geben, was ich in solchen Stunden von Weibesliebe als möglich begriff
und mit diesem Begreifen zugleich auch foderte. Ich hatte es oft in solchen
Stunden
[274]
gefühlt, daß sie nicht mit mir fliegen konnte! Bei aller süßen
Wärme ihres Gefühls, die mir so wohl und behaglich tat, wenn ich mit
ihr auf Erden blieb, fühlte ich es doch oft sehr unsanft, daß sie
in höhern Flügen nicht mit fort konnte.
Sie hatte mehr Weite als Tiefe und Höhe,
und so schön und reizend diese weite Fläche war, so begnügte
sie mich doch nicht, und dieser Mangel verleitete meine Phantasie dann, sich
eine Seele von gleicher Tiefe und Höhe zu schaffen und sich dann mit diesem
Selbstgeschöpfe in zauberischen Träumen einzuspinnen, aus denen das
Erwachen Karolinen nicht vorteilhaft sein konnte.
In bessern Stunden der Wehmut vollends, wo die
Erinnerungen meiner frühen, reinern Jugend mich an sich zogen und meine
ganze Seele bebend und strebend sich zurücksehnte in die liebe schuldlose,
heilige Kindheit ach, in solchen Stunden war Karolinens Bild ein Peiniger
für mich: es brachte Erinnerungen mit, die ich ewig hätte auslöschen
und abkaufen mögen aus meinem Leben.
In Stunden des gelassenern Daseins sehnte ich
mich wohl oft nach ihr, nach jener Unterhaltung, die mir ihr Umgang, ihr Geist,
ihr Reiz, ihre Talente, ihre Kunst, ihr Gefühl gegeben hatten; aber auch
bald fast nur in solchen Stunden und endlich also nur in Stunden der Langeweile.
Was sie mir in solchen Stunden gewesen war, das
sagte mir dann die Erinnerung oft nach ihrer Art lebhaft genug. Aber das waren
doch nur Erinnerungen. Ich litt um ihretwillen entsetzlich in einer Familie,
die mich unaussprechlich liebte, und die ich dafür mit Kummer lohnte. Jeden
Augenblick quälte mich jedes Gefühl, das mir begegnete, jeder Winkel,
wo ich hintrat, mit bittern Vorwürfen, und diese leider waren Gefühle;
und gegen diese ewigen gegenwärtigen, immer schmerzendern Gefühle
hielten es jene nur dann und wann wiedererweckten, sich täglich schwächenden,
täglich gleichgültigern Erinnerungen nicht lange aus.
Karoline hatte durch das ewige Andringen zur Erfüllung
meines Versprechens unglaublich verloren. Briefe waren doch in dieser Trennung
das einzige, was ihr Bild in meiner Seele wieder anfrischen mußte, und
ich scheuete bald den Anblick eines Briefes von ihr, weil ich den Inhalt vorher
fürchtete, und ich darin getrieben wurde, mit meiner Mutter die Szene zu
eröffnen, vor der ich so zitterte. Mit ihren Briefen fing ich bald an,
die
[275]
Erinnerung an sie zu scheuen, weil auch jede Erinnerung an sie mir vorhielt,
daß es doch einmal zu dieser Szene kommen mußte.
Selbst die letzte Probe ihrer Tugend im äußersten
Angriff, die so sehr zu ihrem Vorteil auf mich gewirkt hatte, verlor nach und
nach ihre Kraft in dem bloßen Zurückdenken. Und am Ende blieb bei
dem allen nicht das Problem ihrer Tugend noch immer unaufgelöst?
Selbst die Stunden der Eitelkeit, wenn mein Lovelacismus
in mir wieder aufloderte, wie war Karoline jetzt so ganz anders als damals,
wo sie das Ziel meines ersten Zuges ward! Ein herrlicher Lovelace, sagte ich
mit Beschämung zu mir, der sich von dem ersten besten Mädchen, welches
Lovelace vielleicht seinem Gefolge überlassen hätte, an den Rocken
und ins Ehjoch spannen läßt.
Unter der Hand erfuhr ich dann auch wohl manches,
was ihrer Geschichte vor meiner Bekanntschaft einen zweideutigen Anstrich gab.
Manches von diesem manchen mochten wohl Erfindungen geheimer Künste sein;
aber es erinnerte mich dann doch auch oft an Züge, die mir jetzt merkwürdiger
vorkamen als vormals, da ich sie in Bonn sah oder hörte. Doch darf und
kann ich nicht sagen, daß ich jemals eine Ausschweifung von ihr nur mit
irgendeinem Grade von Gewißheit gehört hätte. Aber mißtrauisch
ward ich doch jetzt. Schon selbst ihr Alter sie hatte einige Jahre vor
mir voraus , und unsere Liebe sollte ihre erste Liebe gewesen sein, das
hatte sie mir so oft beteuert! Diese Verstellung oder diese Lüge war doch
Verstellung oder Lüge! Also lag doch Verstellung und Lüge in ihr!
In der Schwachheit ihres ersten Nachgebens, welches
nun in der Entfernung mir keinen Genuß mehr gab, fand mein Mißtrauen
bald Bestätigung jeder Verleumdung und jeder nachteiligen Wahrheit.
Das ganze Benehmen ihres Bruders zeigte mir jetzt einen förmlichen Plan
zur Versorgung seiner Schwester, und das ihrige unmöglich wars
doch nicht, daß zwischen ihr und dem Bruder eine Verabredung gewesen war,
und bald, da ich Gründe gegen sie suchte, war mir das nicht einmal unwahrscheinlich
mehr.
Bald kam noch ein Zufall hinzu, der meine Eitelkeit
aufs neue gegen diese Verbindung empörte. Einer meiner Bekannten hatte
in Würzburg geheiratet. Solange sein Vater lebte, durfte er seine Frau
nicht kommen lassen. Jetzt starb dieser, und die Frau kam. Vor ihrer Erscheinung
hatte alles mit dem jungen Manne gehalten. Jetzt fanden viele, dieses Geschöpf
[276]
hätte so ein Opfer, das sogar vielleicht dem Vater das Leben gekostet hätte,
nicht verdient. Schönheit und Geist von diesem Grade wären auch unter
unsern Mädchen wohl zu finden gewesen. Meine Karoline war mir in
den ersten Tagen unserer Bekanntschaft sehr reizend erschienen. Sie war groß,
schlank, nicht hager, ohne fett zu sein; ihre ganze Gestalt und ihr Gang insbesondere
hatten etwas Großes, Deutsches! Ihre Gesichtsbildung fand ich reizend,
ohne sie im eigentlichen Sinne schön zu finden. Ihr blaues Auge blickte
schmachtend und süß unter den langen, dunkelbraunen Augenwimpern
hervor, ihre Stirn war angenehm gewölbt, ihre Nase fein und groß,
ihre Farbe, Farbe der Fülle. Ihre ganze Miene in Stunden der Liebe so schmelzend,
und in Stunden des Ernstes so gut, so empfänglich! Ihre Lippe besonders,
voll ohne fleischig zu sein, lieblich geschweift, hatte den ganzen Ausdruck
zuckenden Gefühls! Der ganze Ton des Gesichts und der Bildung war weibliche
Stärke mit aller weiblichen Sanftheit; sprach so laut von Treue in Mitaufnehmen
und Mittragen und kündigte Mut und Liebe an! Aber bei dem allen
als ich nun jene Frau sah, konnte ich mir doch wenigstens das nicht leugnen,
daß auf gleichgültige Zuschauer, auf Menschen, die nur bloß
Äußeres und nicht im äußern Alphabet das innere suchen,
aber Karoline den Preis gewinnen würde, obschon ich im engen Zirkel Karoline
nur durch einen Vergleich mit ihr würde beleidiget haben. Aber die Folge
war doch, daß ich mich nun fragte, was werden diese Menschen sagen, wenn
du nun mit Karoline hervortrittst?
Und nun ich darf das nicht leugnen, was
mich am innigsten mit bestimmte, das lag in einer andern Seite meines Selbsts!
Mariane! So gebunden, als ich zurückkam,
so wars doch meine erste Frage gewesen, wer sie heiraten würde, und
man wußte, was ich kaum zu glauben vermochte, von keinem.
Ich sah sie in dem ersten Jahre gar nicht; aber
es kamen doch Momente der Spannung, und der Gedanke an sie stieg in mir auf;
ich wies ihn ab, aber er kam wieder; er ließ sich nicht abweisen und
ihm ward abgetan. Und er kam öfterer und immer öfterer! Und bald in
seiner Gesellschaft ein anderer ach! ein Gedanke, der schaudernd und
fragend durch mein innerstes Mark fuhr! Es war der Gedanke einer Möglichkeit!
ach! einer Möglichkeit! Zum ersten Male! Mariane war frei
vielleicht!
Mit dem Gedanken flog ich in höhere Welten
hin! In Paradiese der Liebe und aller seligen Träume! Von ihr geliebt
zu werden! Von ihr
[277]
von ihr! ich hatte mich selbst nicht mehr bei dem Gedanken, taumelte
in süßem Wahnsinn und vergaß mein Leben!
Ich kämpfte gegen den Gedanken mit Macht,
als er zuerst in mir aufstieg, ich fühlte, was er über Karoline bringen
würde und kämpfte für sie noch mit treuer Liebe. Aber indes wirkten
jene vorigen Gründe in der Stille fort, und je mehr diese gewannen, desto
offnern Eingang fand zugleich dieser Gedanke an Mariane, und je öfterer
er gedacht ward, desto schneller wuchs er an Macht und Stärke.
Ein gewisser geheimer Zug näherte mich Marianens
Bruder, der schon vormals vor meinen akademischen Reisen mein Freund gewesen
war. Zwar in seinem Hause wagte ich keinen Besuch; aber ich zog ihn an, daß
er mich fast täglich begleitete auf meinen Spaziergängen. Dieser Umgang,
obschon ich es nie wagte, seine Schwester nur zu nennen, erneuerte doch mit
jedem Tag den Gedanken jenes gefährlichen Vielleichts. Die Bilder der Seligkeit,
in die der Gedanke mich hineinriß, wurden mir geläufiger; diese Phantasien
voll Himmel erhielten allgemach längere Dauer, ich wurde vertrauter mit
ihnen, scheute mich immer weniger, sie zu heften.
Mariane hatte eine jüngere Schwester, auch
ein gar liebes Mädchen, jetzt gerade getreten in die ersten Tage ihrer
vollsten, schönsten Blüte, und dieser Engel hatte sich an Schücking
hingegeben. An ihn, mit dem es meine Eigenliebe keinen Augenblick ertrug, sich
zu vergleichen. Mariane, sagte sie, sei immer unendlich mehr als ihre Schwester
Amalie, so bist du doch auch unendlich mehr als S.
Mit jedem, jedem Tag gewann das süße,
schreckliche Vielleicht an Stärke! Was vormals in den genossensten Augenblicken
meines liebendsten Dichtens, wenn in dem innersten Heiligtum meiner Seele Marianens
Bild auf seinem Altare stand und alle meine Sinne und Kräfte vor dem Bilde
niederlagen in aller Verlorenheit lebendiger Anbetung, was ich dann nicht zu
glauben fand, nicht zu denken, daß es je dem Engel gefallen könnte
in diesem Heiligtume, ihm gefallen könnte meines Daseins Opfer! Das ich
denken dürfte, erhört und angenommen für sie leben zu können,
leben auch für ihr Glück, das, das, ach! das ward mir eine Möglichkeit,
gegen die sich bald kein Zweifel mehr waffnete.
Es war oft meine Qual gewesen, dieses Vielleicht
ihrer Gegenliebe, als ich es noch nicht zu denken wagte; es wurde mir jetzt
eine Hölle, da es mir zu spät begreiflich ward!
[278]
Es wäre also eine Möglichkeit gewesen, und ich ich selbst hatte
sie zerstört! Freventlich zerstört, freventlich von mir geworfen,
aller, aller Erdenseligkeiten seligste, höchste, unausführbarste!
Und für wen?
Wenn ich nun so dalag in mir selbst in süßester
Verstrickung und Himmel und Erde mir verschwand, und all mein Leben und Sein
so allgenügsam zusammenlag in dem einzigen Gefühl ihrer Liebe! Dann
donnerte mich das auf: dennoch! dennoch unmöglich! und für wen?
Und der trunkene Gedanke sollte dann zurück auf Karoline! Da sich halten,
da sich fesseln, der Gedanke, der Marianens Liebe gedacht hatte! Sollte aus
dem Himmel mit ihr zurück zur Erde mit Karoline!
Das gab einen Jammer und aus dem Jammer einen
Widerwillen, der mit jedem Tag entscheidender wurde. Meine Mutter war wieder
so ganz Mutter. Aber sie litt in der Stille, daß ihr Leben sichtbar zu
Grabe welkte. Sie tat, was sie konnte, und oft mehr, als sie sollte, um mir
Freude zu gewähren. Ich erfuhr mit jedem Tag näher, was es ihr gekostet
hatte und kostete, mich durchzuschleppen, sie entzog sich, um mir zu geben,
ich sah sie entbehren, damit mir nichts fehle! Und für das alles
ein langsames Gift aus meiner Hand!
Es kam endlich eine Szene, die den letzten Ausschlag
gab. Eines Tages, wo meine Mutter glaubte, daß ich einen Brief von Karoline
erhalten hätte, kam sie zu mir herauf und sagte mir weinend, wenn es sein
müßte, so möchte es sein. Sie wollte mich nicht zu Grabe bringen!
Aber leben mit dem Mädchen, das könne sie nicht. Sie wolle uns also
geben, was sie habe, und dann fern von ihren Kindern hingehn und zu vergessen
suchen, daß sie Kinder gehabt habe. Ihre Schwester Lippers würde
ihr für die wenigen Tage das Gnadenbrot wohl geben. Nach einer Pause
voll Tränen fiel sie mir zu Füßen und bat mich noch einmal abzustehn!
Ich riß mich los, wild und empört,
und lief zum Hause hinaus, kehrte spät zurück, schloß mich ein
und blieb den andern Tag auf meinem Zimmer, hörte Mutter und Tante an meiner
Türe flehen, antwortete nicht, schloß nicht auf. Man brach die Türe
auf.
Erschüttert hatte mich diese Szene gewiß
tief und innig, aber ich muß doch gestehen, nicht so sehr, als ich mich
stellte. Aber der Erfolg war doch immer der, daß ich Karoline aufgab!
Ich schrieb ihr, daß es der Tod meiner
[279]
Mutter sein würde, daß ich den Schritt als einen übereilten
Schritt zurücktun müßte.
Die Art, wie Karoline sich bei diesem Schritte
nahm, machte mir ihn bald leichter und sicherte mich vor Anwandlungen der Reue.
Von ihrem Bruder sag ich nichts. Sein Betragen war Wut, Stolz, Grobheit.
Das hatte ich erwartet; aber sie selbst! Freilich waren ihre ersten Briefe nach
der Aufkündigung bloß Bitten und Jammern; aber dann kam doch ein
Brief, in dem sie mit dem Gericht drohte, und nicht lange, da tat sie einen
Schritt, der doch immer wenigstens einer Gewalt glich.
An einem Abend kam Marianens Bruder zu mir und
zeigte mir einen Brief vom Sekretär des Ministers von Fürstenberg.
Ich habe Sprickmanns Braut gesehn, schrieb er, sie ist bei
mir gewesen, um mich zum Patron gegen ihn bei dem Herrn Minister zu machen.
Denken Sie, welche schöne Gelegenheit ich gehabt hätte, dem jungen
Herrn das Sinciput zu verzieren!
Dieser Brief und alles an ihm, Ton und Inhalt,
brachte mich in Wut! So also, darf so ein Mensch von dem Mädchen reden,
das dein Weib werden soll? Und dieser Schritt selbst nein, das
Mädchen meiner Liebe hätte den Schritt nicht tun können. Untreu
hätte ihr das Leben kosten können, aber sich an höhere Gewalt
wenden, das konnte nur das Mädchen, das einen Mann gefangen hatte, und
ihn nun nicht lassen wollte, weil sie so bald keinen wieder zu fangen hoffen
durfte: ihn also lieber wider sein Willen haben will, als gar keinen.
Ich schrieb ihr das, und ihrem Bruder erwiderte
ich Stolz mit Stolz und Grobheit mit Grobheit.
Nach meiner Zurückkunft aus Holland sah ich
die Sache für ganz geendiget an. Es kamen noch Briefe. Ich schrieb endlich,
daß ich nicht mehr anworten würde und antwortete nicht mehr.
Desto ungehinderter überließ ich mich
jetzt meinen Träumen an Mariane. Bald setzt ich es bei mir fest,
ihren Bruder in seinem Hause zu besuchen: Sie sie zu sehen! Und
sah sie doch noch lange nicht. An stillen Abenden, wenn ich mit ihrem Bilde
allein war und mich nicht zu lassen wußte in der Überfülle von
Seligkeit, die mein Gefühl überströmte bei dem Gedanken ihrer
Liebe, ach, dann rief tausenderlei in mir, daß ich hin sollte, und ich
versprach dann, morgen, morgen! Und wenn dann nun morgen
[280]
kam, und ich nun Anstalt machte, mir Wort zu halten ich ging hin, kam
an die Straße dann war es unüberwindliche Zauberei, die mich
nicht wieder ließ. Das Bild ihrer Würde fand wie ein schützender
Engel mit dem Flammenschwert vor dem Eingang dieses Paradieses, daß ich
Unheiliger nicht hineintreten sollte.
Endlich einmal ergriff ich Mut und drang durch.
Ein Zufall gab meinem Besuch einen Anstrich von Notwendigkeit oder freundschaftlicher
Pflicht. Das Paket meiner Inauguraldissertationen war angekommen, und ich brachte
ihrem Bruder ein Exemplar.
Ich ging hin, zitternd im Angriff von tausend
und tausend furchtbar süßen Ahndungen ich war da, hatte die
Schelle in der Hand und hätte zurück mögen! Ich stieß mich
selbst weiter: schellte es war geschehen! Ich foderte meinen Freund,
trat auf den Vorplatz, die Magd warf die Türe eines Zimmers auf
da saß sie! Sie mit ihrer Mutter, ihrer Schwester, ihrem Bruder und noch
einem Anverwandten, der zum Besuch da war.
Sie, sie in all ihrem für mich so unnennbaren
Reize! Sie ganz! betäubend mit Blitzesschnelle durchfuhr michs!
Zitternd in allen Tiefen trat ich näher, sprachlos und verwirret stand
ich einen Augenblick da, mit einem letzten Reste schwankendes Bewußtseins.
Aber wie in äußerster Not, wenn zur
Rettung nur ein einziges übriges Mittel ist, das im Stande der Ruhe und
Überlegung das vollste Gefühl unseres Könnens unmöglich
finden würde, oft nur letzte Anstrengung und Konzentration unserer Kräfte
Wunder tut, so ergriff mein Geist diesen letzten Rest schwankenden Bewußtseins
und schwang sich aus dem Abgrund der Verwirrung auf freies Feld. Aber der gewaltsame
Schwung warf mich über das Ziel einer gelassenen Stille hinaus, warf mich
gerade auf das entgegengesetzte Extremum der Ausgelassenheit hin. Was diesen
Sprung, der mir damals überhaupt nicht ungewöhnlich war, diesmal befördern
mochte, war vielleicht der Umstand, daß ich wußte, daß man
diesen Ton zum voraus von mir erwartete. Schücking hatte von mir erzählt,
was sich nur erzählen ließ; Witzelei war im ganzen Tone meines Umganges
damals herrschend; man erwartete dort im Hause an mir einen Menschen von schnurriger
Laune, und ich gab mich ihr dann auch ganz hin.
Ich fing mit einer Spöttelei über meine
eigene Verwirrung an, die mit allgemeinem Lachen laut applaudiert wurde. Dann
erzählte ich ihnen, es
[281]
gefiele mir da recht gut; aber spielen müßten sie nicht, oder um
Klumpsackspielen ich würde tun, als wenn ich da zu Hause wäre.
Ob man bald Kaffee trinke? Ich foderte eine Pfeife Tobak und einen
Lehnstuhl, denn beim Rauchen und beim Kaffee müßte ich bankklammern.
Und so ging das in einem Strome fort: alles war wie in der Komödie, und
so saß ich in der ersten Viertelstunde da beim Anschein nach frei
wie ein Held, aber in der Tat, im Innersten meiner selbst in einer Beklemmung,
worin ich alles aufbieten mußte, mich nur zu halten. Ich hielt es bis
am späten Abend aus: Ich konnte nicht bleiben und nicht gehn.
Als ich wieder allein war wie eine drückende
Welt fiel mir die Last des Zwanges ab, aber dafür dann! Ich hatte
sie also gesehn! Sie sie! Zum ersten Male in der Nähe! Sie hatte
mich angesehen! Ihr Auge war über mich hingefahren! hatte sich geheftet
an mir! Ihr Mund hatte mir gelächelt: es hatte mich angeweht von ihr, von
ihrem Odem! Ach, und wie sie so alles war, und alles noch viel bestimmter, ganz
die Gestalt, in die ich mein Ideal gekleidet hatte, und die ich mir nicht so
in allem, nicht so in ganzer Individualität hatte zu schaffen gewußt!
Welche Nacht auf diesen Besuch! Wie das in mir wogte, hin und her! Welch eine
Ebbe und Flut von Gefühlen und Phantasien, von Hoffnungen, Entwürfen
und Entschlüssen! Zu Tausenden faßt ich sie und verwarf sie
zu Tausenden! Oder sah sie verschlingen im Strudel der Unmöglichkeit.
Ich ging die ersten Tage nicht wieder hin. Zwar
munterte mich das auf, daß S. mir des andern Tages erzählte, wie
sie alle so ihre große Freude an mir gehabt hätten, aber daß
Mariane mich begriffen, an diesen Sprüngen der Laune die Peitsche der Verwirrung
erkannt, meines Zustandes Sinn verstanden, unter den Witzeleien auf Spuren von
Gefühl gefaßt hatte, das konnte mir Schücking nicht sagen. Und
ohne diese Gewißheit konnte ich mich nicht entschließen, wieder
zu erscheinen. So da sein, wie ich gewesen war, das konnt ich, das wollt
ich, das durft ich nicht; und wie denn?
In der Zeit dieser Unentschlossenheit war ein
Ball. Ich hörte, daß Mariane da sein würde. Aber ich konnte
mich nicht entschließen, hinzugehn; so laut mein Herz es foderte. Ungewiß
schwankte ich hin, hörte die Musik, da ist sie! Ich konnte da sein, sie
sehn, sie sprechen vielleicht ach vielleicht und konnte
doch nicht! Unentschieden zitterte ich die Treppen hinauf, stand da und
stürzte mich mit Gewalt hinein in den Saal.
[282]
Der erste Anblick da war sie! Da schwamm sie im Tanze vor mir her in
unaussprechlicher Anmut! Ich hätte zurückprallen mögen! Aber
im Vorbeischweben sah sie mich an, und ihr Blut lächelte mir ein
freundliches Willkommen! Wie mich das griff und schüttelte! Ein
paar Gläser Punsch vollendeten den Taumel; bald hatte ich den Mut, ihr
näher zu treten, sie aufzufodern zur Menuett! Wie ich da stand!
wie ich war! Ihre Hand ihre Hand in der meinigen! Wie mir das durch mein
ganzes Leben strömte, in all seine Winkel! Ich bat mir einen englischen
Tanz aus; erhielt einen spätern, weil sie für die ersten sich versagt
hatte! Mit einer andern zu tanzen, eine andere nur anzurühren, mit dieser
Hand, die die ihrige gehalten hatte, war mir undenkbar, wie mutwillige Sünde!
Ich folgte ihr immer; war, wo sie war, verschlang sie mit aller liebendsten
Gier und berauschte mich ungestört in dem freien Anschaun all ihrer Reize.
In jeder Zwischenzeit war ich bei ihr, und ihr schien das lieb zu sein. Ihre
Freude sogar schien mir minder lebhaft, minder teilend den allgemeinen Jubel:
ihre Seele mehr in sich zurückgezogen, im Innern ihrer selbst beschäftiget
womit? ach! es war eine Hoffnung in mir, die davon etwas wissen wollte,
aber ich wagte es nicht, ihrem leisen Lispeln zu horchen.
Die Zeit des englischen Tanzes kam, die mir versprochen
war! Aber ich war so in dem Taumel all meiner Sinne, daß ich nicht
konnte! Ich saß neben ihr. Alles stellte sich! Sie ermahnte mich, Platz
zu nehmen ach! ich kann nicht, lispelte ich leise, und sie! O
Wonne, Wonne! Es sei ihr auch lieber, sagte sie, den Tanz so mit mir
zu tanzen! Was das Wort aus mir machte! Ich hatte mich schon bemüht,
auszuspähen, welchen Eindruck meine erste Erscheinung gemacht hatte. Ich
zitterte vor einem Verdacht von Leichtsinn, von Gefühlsmangel! Ich sagte
ihr das jetzt geradezu! Aber nichts von alledem, was ich gefürchtet hatte!
Sie kenne mich besser, sagte sie, als ich es vielleicht glaube! Das strömte
in meine Seele wie ein Balsam voll Kühlung! Sie kannte mich also
war ich auch, ohne sie zu kennen, ihr nicht fremd gewesen! Ich riet auf ihren
Bruder, der ihr wahrscheinlich von dem Tone meines Lebens, von der Art meines
Aufnehmens, von meinem Leiden gesagt hatte.
Wie mich alles ergriff, was sie mir sagte, von
Sein und Scheinen, von Rettung seiner Gefühle gegen Herabwürdigung
und seiner Achtung gegen fremde Mißkennung! Jeden Augenblick ergriff ich
jedes Wort, um mich
[283]
näher zu ihr hinzuschwingen und ließ den Faden fallen, konnt
ihn, ach, nicht halten.
Sie fragte mich endlich selbst nach der Lage meiner
Bonnischen Geschäfte. Ganz abgetan, sagte ich! Sie wünschte
mir Glück!
Ganz weiß ich nicht, antwortete
ich, ob ich das so annehmen kann. Und warum nicht? Das Mädchen
liebte mich; es war eine Zeit, wo ich das ganze Glück einer solchen Überzeugung
genoß! Und für so ein Glück darf ein Mensch wie ich wohl keinen
Ersatz hoffen. Sie verstand das nicht. Ich phantasierte ihr dann
ein langes von meinem Bedürfnis zu lieben vor, von der ersten, einzigen
Erdenseligkeit, geliebt zu werden: Und werde ich je? fragte ich.
Auch das begriff sie nicht! Ich sagte ihr in aller Wärme
meines Taumels, wie ich liebte, was allein ich Liebe nennen könnte und
so je wiedergeliebt zu werden! Das sollte ich ich, von irgendeinem Wesen,
das ich lieben könnte, hoffen dürfen? Noch einmal sagte sie,
das sei ein Kleinmut, den sie an mir nicht begreifen könne. Sie,
Sie nicht begreifen? Und könnten Sie mir dafür bürgen?
Sicher, sagte sie! Sicher, rief ich, und
voll, wie die Seele war, ergriff ich ihre Hände! Ich weiß nicht,
wie ich mich hielt, daß ich nicht vor ihr hinsank auf meinen Knien! Ich
küßte ihre Hand, es war mir, als sollte ich meine Seele auf dieser
Hand aushauchen!
Sie bat mich, mich zu mäßigen, und
trug mir selbst an, sie vom Balle nach Hause zu führen, aber jetzt sollt
ich sie lassen.
Ich gehorchte! Mein Blick mußte ihr sagen,
was ich war! Ach, ich wußte das selbst nicht! Nie, nie war ich das gewesen.
Ich sah nicht, ich hörte nicht! Strotzte über den Saal daher, wie
der Herr der Welt! Alle Kräfte und Gefühle in allen Tiefen meines
Wesens tanzten ihren Jubeltanz nach der einzigen, himmlischen Musik dieses Sicher!
Sicher sicher! sagte ich jeden Augenblick.
Tränen drangen sich hervor. Freunde kannten mich nicht! Ich taumelte
wie berauscht! Zu ihr hin, von ihr zurück! Seliger war wohl kein
Geschöpf auf Erden in diesem Augenblicke!
Und nun der Gang nach Hause mit ihr durch die
Nacht! Wir langsamer, die andern voraus! Und nun so das geliebteste aller Wesen
an meiner Seite! Sie, um die so jahrelang mein liebender Gedanke schüchtern
und ehrfurchtsvoll umhergeschlichen war, jetzt so nahe, so an meiner Seite!
[284]
Und dann noch die Zeit des Teetrinkens in ihrem Hause! Und dann endlich die
Stunden des ersten Alleinseins wieder in so neuen Gefühlen! Ich kannte
mich nicht, war wie umgeschaffen. Meine Hoffnung, ehemals so kränklich
geboren, dann solange fortschmachtend, ohne Nahrung zur Kraft, war plötzlich
zu einem mutvollen, starken Jüngling geworden! In ihr fühlte ich mich
groß und machtvoll und lebend, wie ich noch nicht gelebt hatte.
Ich ließ den Anlaß zum Besuch auf
den Abend nicht vorübergehen; ging hin und war nun alle Abende da. Die
öffentlichen Konzerts. [Hier bricht die Handschr. ab.]
Kommentar
D1: Marianne Beyer (Hg.): Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Leipzig
1936 (= Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst und Kulturdenkmäler
in Entwicklungsreihen. Reihe Deutsche Selbstzeugnisse, Bd. 9), S. 256.284.
256
Franziska: Einige Monate vor seiner Abreise nach Göttingen war
eine Muhme mit ihrer Enkelin Franziska nach Münster gekommen und Sprickmann
hatte sich in diese ländliche Unschuld verliebt. Der Muhme wäre eine
Verbindung der jungen Leute recht gewesen, aber Spr. wußte nichts davon
und wagte keine Annäherung. Franziska ging nach Bonn in eine Klosterpension.
(Beyer 327).
Anschläge: Der Anschlag [
] überlegter Entschluß,
durchdachter Entwurf, am häufigsten, obgleich nicht eben nothwendig, im
nachtheiligen Verstande, eines Entwurfes zum Bösen (Adelung I 387).
Meine Mutter: Anna Maria Theresia geb. Pictorius, Tochter des münsterischen,
als Schloßerbauer bekannten Architekten und Oberstleutnants Gottfried
Laurenz P., die zu Münster um 1804 mit 90 Jahren starb. (Beyer 327)
Assignation: eine Anweisung od. Übertragung, Etwas zu bezahlen,
ein Anweisungsbrief (Heyse I 88).
257
Richardsons Klarissa: Samuel Richardsons Briefroman Clarissa, or The
History of a Young Lady (1747/48).
258
Sophien und Julien: Wohl Anspielung auf Johann Timotheus Hermes. Roman
Sophiens Reise von Memel nach Sachsen (176973) und Rousseaus Julie ou
la nouvelle Héloïise (1761).
Cidli: Unter diesem Namen besang Klopstock seine spätere Frau Meta
Moller. Vgl. etwa seine Ode An Cidli.
261
DEBELLARE SUPERBAS: lat. die Stolzen bezwingen.
Anstalt zu einem Amalgama: Das Lösen des Briefsiegels (amalgamiren
[
] verschmelzen, Heyse I 42).
264
Buhlerei: Liebe, verliebter Umgang (Adelung I 1250).
267
Vorstellung: Die Vorstellung [
] eine Rede, wodurch man bey jemanden
eine thätige Erkenntniß der Umstände und Folgen einer Handlung
zu bewirken sucht. (Adelung IV 1304)
269
traktierte: Tractiren [
] bewirthen, verpflegen (Moritz IV 149).
Plane: Pläne: Der Plan, [
] PLUR.
die e. (Adelung III 777)
270
Zurückkunft des verlornen Sohnes: Vgl. Lk 15:1132.
Schücking: Christoph Bernhard Schücking (175378) starb als junger
Jurist in Münster. Er versuchte sich neben Spr. als Theaterdichter. (Beyer
327)
271
DE SUCCESSIONE
[
] MONASTERIENSEM: lat. Über
die Erbfolge des hinterbliebenen Gatten in die Güter des verstorbenen nach
Münsterischem Rechts. S.s Doktorarbeit ist 1769 bei Moojen in Harderwijk
erschienen.
ließ aufgehen: Aufgehen [
] Aufwand machen, Aufwand haben.
(Adelung I 494f.)
275
ins Ehjoch spannen: An demselben Joch ziehen: dasselbe Schicksal
mit jem. teilen [
] Im selben Sinne spricht man auch vom [
] Ehejoch (vgl.
den lat. Ausdr. für Ehe: coniugium, d. h. wörtl.: Zusammenjochung,
die Vereinigung zu einem Paare); entspr.: sich ins Ehejoch, ins Joch der Ehe
spannen lassen. (Röhrich I 465)
Erfindungen geheimer Künste: Ränke, Intrigen.
276
Mariane: Als er noch Schüler war, sah Spr. Marianne Hosius an einem
Abend in der Tür des Schauspielhauses. Sie war damals 17 Jahe alt, blühend
und gesund und Braut eines vornehmen Beamten, eines Mannes von Vermögen.
(Handschrift, S. 15.) (Beyer 327)
277
Marianens Bruder: Johann Eustach Hosius, der zugleich mit Sprickmanns
Bruder Bernhard Kanonikus an der St.MartinerKirche zu Münster war, oder
Johann Bernhard Hosius, Rat und Referendarius der münsterischen Regierung.
(Beyer 327)
279
Patron: Im gemeinen Leben nennt man noch einen jeden, besonders Höhern
und Vornehmern, der unser Bestes aus Wohlwollen befördert, seinen Patron,
wofür man jetzt in der anständigern Sprechart lieber das Wort Gönner
gebraucht. (Adelung III 673)
das Sinciput zu verzieren: Sinciput [
] das Vorderhaupt, der
Vordertheil des Kopfs. (Heyse II 377). Also wohl einen Schlag ins Gesicht
zu versetzen.
280
wie ein schützender Engel mit dem Flammenschwert vor dem Eingang dieses
Paradieses: Vgl. Gen 3:24.
281
Klumpsackspielen: KLUMPSACK [
] nordd. gleich plumpsack,
mit klump ist der klumpige knoten im taschentuche gemeint (Grimm V/I
1294).
282
Menuett: Der Charakter des Tanzes zeugt von der Erziehung am Hofe
Ludwigs XIV., sein Charakter ist pedantische Courmacherei. Die Form des
Tonstücks selbst besteht aus zwei Theilen (Reprisen) von 8 Takten, im 3/4
Takt mit gleichmäßiger Viertelbewegung und fühlbaren Einschnitten
jedes Mal im 4ten Takt. (Conversationslexikon V 159)
englischen Tanz: Anglaise, der engl. Contretanz, ein lebhafter,
leichter Tanz von 4 oder 6 Touren. Die Musik dazu besteht aus zwei Wiederholungen
von 8 Tacten von 2/4 oder 3/4. (Conversationslexikon I 118)