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Johann Carl Wezel, Rezension zu Sprickmanns Essay
Etwas über das Nachahmen allgemein, und über das Göthisieren insbesondre


Der Verfasser fragt: Ich möchte gern wissen, was Göthisiren heißt? – Wenn dem Verfasser meine Beantwortung seiner Frage nicht zu gering ist, so kann ich ihm mit dem Begriffe aufwarten, den ich aus Beyspielen abstrahirt habe. Bey der Gelegenheit wollen wir die ganze poetische Ketzergeschichte unsrer Zeiten mitnehmen.
     Vermuthlich wird es keinem unter den Lesern unbekannt seyn, daß gegenwärtig auf unserm Parnasse ein großer Haufe Ketzer herumtobt, die eine gänzliche Anarchie der gesunden Vernunft unter uns einzuführen drohen. Sonst nannte man sie GLI INEBRIATI, verdeutscht die besoffnen Geister: ihre ganze Krankheit besteht in einer immerwährenden Berauschung: sie thaten einen Zug aus der Hippokrene, die Schwäche ihres Gehirns ertrug die Stärke des Getränks nicht, und sie wurden trunken. Diese besoffnen Geister theilen sich in zween Hauptäste: einige fahren auf Donnerwagen, reuten auf Lichtstrahlen, und gehn von Stern zu Stern spatzieren, schreyen allen Leuten ins Ohr, daß sie sich freuen Deutsche zu seyn, und schelten jeden einen Dumkopf, der nicht mit ihnen einerley Sache auf einerley Art bewundert, anstaunt: sie nennen sich die Auserwählten. Eine Nebensekte von ihnen machen die Verdammten – arme Geschöpfe, die sich nicht zur poetischen Begeisterung
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empor schwingen können, und daher nur mit einem prosaischen Rausche vorlieb nehmen müssen. Als eine zweyte Nebensekte rechnen einige Geschichtschreiber noch die Hechelmänner, Bänkelsänger und Pöbeldichter hieher, die dem Volke schwache Lieder mit starken Reimen, versificirte Schimpfwörter zum Gebrauch der Fischweiber, bep*ßte [*) Ganz neulich habe ich in einem Almanach eine Pachterinn zu ihrem Manne sagen sehen: Sieh, wie mich der Junge benetzt hat, und in einem andern Matzfotz und ähnliche Süßigkeiten des Fischmarkts. Gütiger Apoll! haben denn die Leute gar kein Gefühl von poetischer Würde?] Hexameter und andre kernhafte Verslein für Schenken und Gastwirthe vorsingen: allein warum sollen nun diese Versmänner eine eigne Klasse haben? lieber mache man einen Limbus von Verdammten aus ihnen, da sie doch eigentlich weder für Himmel noch Hölle passen.
     Der zweyte ketzerische Hauptzweig besteht aus grimmigen Leuten, Menschenwürger genannt: sie bringen entweder andre Menschen, oder sich selbst um: jenes heißt schäkespearisiren, dieses göthisiren. Jene vergießen Menschenblut wie Wasser, und quälen die Leute, die sie morden, daß es ein Jammer ist; gemeiniglich müssen sie toll werden und dann von ihrer Feder sterben. Die von der göthisirenden Art sind meistens die grausamsten Mörder ihrer selbst: sie würgen unbarmherzig ihr liebes bischen Menschenverstand und zwingen sich
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so nonsensikalisch zu seyn, daß man sie für geborne Narren halten sollte, und es sind doch gemachte.
     Nunmehr Herr Autor, thun Sie Ihre Frage noch einmal: was heißt göthisiren? – Es heißt, wie Göthe, denken, empfinden und reden wollen, ohne Göthe zu seyn; es heißt sich seine Fehler geben, weil man sein Gutes nicht erreichen kann: es heißt, unwissend bewundern, weil man nicht mit Unterscheidung loben kann; oft heißt es auch nur, schlechtes Deutsch schreiben und elende Knittelverse machen, wie G.
     Der zweyte Theil dieser Abhandlung enthält eine drollichte Untersuchung, ob Göthe der größte Dichter ist, und man fodert uns auf (S. 1051.) den Mann zu zeigen, der in seiner Sphäre mehr als er in der seinigen war, oder der in dieser Sphäre mehr als er ist. – Ich halte es für Indiskretion über den Rang eines lebenden Schriftstellers, besonders in Vergleichung mit andern lebenden Schriftstellern, öffentlich zu sprechen, und lehne also für meinen Theil die Ausfoderung aus guten Gründen ab. Dafür wollen wir lieber untersuchen, was eigentlich den vollkommnen Dichter macht: die Merkmale desselben will ich von solchen abziehen, die bisher von mehr als einer Nation für große Dichter erkannt worden sind.
     Das erste Merkmal ist ein schneller, weit umfassender Beobachtungsgeist, eine allgemeine Receptivität der Seele, daß sich ihr in und außer dem Menschen alles richtig eindrückt, was nur ein Gegenstand des innern und äußern Sinns seyn kann.
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     Das zweyte ist richtige Darstellungskraft wahrer veredelter Natur.
     Das dritte Kunst, Kritik, Geschmack, oder wie man’s sonst nennen will. Die Sache selbst ist ein gewisses scharfes, schnelles, sicheres Gefühl von Schicklichkeit, Ordnung, Eleganz; ein Gefühl, das dem Plane Proportion und Ordnung – den Charakteren, Situationen und leidenschaftlichen Aeußerungen den angemeßnen Grad giebt, dem Ausdrucke Wahrheit, Richtigkeit und Schönheit ertheilt, und über alles eine gewisse Veredlung verbreiten lehrt, daß es Natur und doch nicht rohe Natur ist. Man hat seit einiger Zeit geglaubt, daß übertriebner Grad in den Schilderungen der Leidenschaften, und plumper Ausdruck der rohen Natur das Kennzeichen des eigentlichen Dichtergenies sey: aber wer wird Leuten glauben, die nie räsonnirten, sondern blos verschrieen, was ihnen fehlte, und Fehler, über die sie sich nicht zu erheben vermochten, für Vollkommenheiten ausgaben?
     Das vierte endlich ist ein stufenweises Wachsthum der dichterischen Kräfte und der dichterischen Kunst. Die Dichtkunst erfodert Studium nicht sowohl derer, die vor uns geschrieben haben – wiewohl das nicht zu verschmähen ist – sondern unermüdete Reflexion, fortgesetzte Beobachtung, beständiges Raisonnement über die Kunst. Wer nach zwey, drey, halb oder ganz gelungenen Versuchen, schon bis zum tiefsten Abgrunde weit unter die Mittelmäßigkeit herabsteigt, der hatte wahrscheinlicher Weise nur die Fieberhitze des
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Genies, aber nicht sein hellflammendes Feuer in sich: waren seine Versuche sehr glücklich, so kann man vielleicht dichterische Anlage in ihm vermuthen, aber er ist darum kein Dichter. – Blödsichtige Menschen erblicken freylich oft einen neuen Stern am Himmel, und genau untersucht, findet sichs, es war – eine Sternschnuppe. Ein Dichtertalent, lebhafter Ausdruck gehabter oder vorgezeichneter Empfindungen, macht noch keinen Dichter der ersten Größe: um Jemanden dazu zu erheben, müssen sie sich alle in ihm vereinigen.
     S. 1051. Ich glaube zu sehr an hohe Urgenien, die ganzen Nationen den Weg weisen sollen. – Wer wird das läugnen? Gottsched bezeugt es: er zeigte den Weg, blieb eigensinnig und kraftlos stehen, wo er ausgieng, und Apollo verwies ihn endlich gar des Landes. Jemand schrieb mit Röthel unter sein Porträt: ET IN PARNASSO EGO.


Kommentar

D1: Neue Bibliothek 32, 1781, Nr. 1, S. 72–76.

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auf unserm Parnasse: Der Gipfel des Parnassos bei Delphi galt als Sitz der Musen.
Hippokrene: „ein Brunnen auf dem Helikon [ein Berg in Böotien, der ebenfalls als Sitz der Musen galt] […] Es wurde geglaubet, wer aus solchem Brunnen tränke, der würde sogleich ein Poet.“ (Hederich 1275)
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Hechelmänner: „Hechelmann […] der hecheln [Gerät zur Flachsreinigung] fertigt oder feil hat […] nach dem ruf, mit dem sie in mangelhaftem deutsch ihre waare anbieten, verzeichnet Stieler […] auch ihren namen als hekelmausefall; heckelemeusefallenmacher.“ (Grimm IV/II/2 737) Wezel spielt hier offensichtlich auf das „mangelhafte Deutsch“ an.
bep*ßte Hexameter: Das aus der Antike übernommene Versmaß des Hexameters war eigentlich der gehobenen Stillage vorbehalten.
Matzfotz
: „Der Matz […] in den niedrigen Sprecharten, ein einfältiger, blödsinniger, weibischer, dummer Mensch, in verächtlichem Verstande, und von beyden Geschlechtern. Im gemeinen Leben pflegt man dieses Wort in weiterer Bedeutung mit vielen andern zu verbinden […] Matzfotz, (welches man wohl im Scherze von der zu Dresden befindlichen Bildsäule des Matthias Voetius abzuleiten pflegt“ (Adelung III 113).
Gütiger Apoll!] „Uebrigens hält man […] die Poesie und Musik […] für seine [Apollons] Erfindung, oder er wird doch für einen sonderbaren [herausragenden] Meister in diesen […] Wissenschaften gerühmet […] und daher auch als ein Gott und Vorsteher derselben […] zuförderst aber der 9 Musen verehret.“ (Hederich 333)
Limbus: Teil der Unterwelt; christliche Bedeutung: „LIMBUS INFANTUM, (nach dem röm. kathol. Glauben) der abgesonderte Ort neben der Hölle, Höllen-Rand für ungetauft gestorbene Kinder, die erst hier, von der Erbsünde gereinigt, des Himmels fähig werden; L. PATRUM, eine ähnl. Vorhölle für die Seelen der Väter des A. T. vor ihrer Befreiung durch Christi Höllenfahrt.“ (Heyse II 39)
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elende Knittelverse machen, wie G.: „Der Knüttelvers […] ein Nahme der vor Opitzens Zeiten [Martin O. (1597–1639), Reformer des deutschen Verses] üblichen kurzzeiligen Verse, besonders so fern sie ohne dichterische Schönheit gemeiniglich aus platter holperiger gereimter Prose bestanden; daher man in weiterer Bedeutung auch wohl ein jedes solches schlechtes Gedicht, besonders wenn die gewöhnliche Folge der Wörter darin aus den Augen gesetzet wird, ein Knüttelgedicht, und die Verse, woraus es bestehet, Knüttelverse zu nennen pfleget. Entweder von den kurzen, holperigen, gemeiniglich vierfüßigen Zeilen, oder auch von den Knoten oder Holpern, d. i. Fehlern wider die gewöhnliche Folge der Wörter.“ (Adelung II 1675) – „Daraus geht hervor, daß Wezel Goethes Neueröffnetes moralisch-politisches Puppenspiel (Leipzig u. Frankfurt: Weygand, 1774) gekannt haben muß, welches die Knittelversdichtungen ‚Jahrmarktsfest zu Plundersweilern‘ und ‚Ein Fastnachtsspiel vom Pater Brey‘ enthielt.“ (Wezel II 763)
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räsonnirten: „raisonniren, verständig betrachten, verständig reden, urtheilen und schließen“ (Heyse II 292).
verschrieen: „Verschreyen […] In ein übles Geschrey, d. i. einen üblen Ruf, bringen“ (Adelung IV 1129).
beständiges Raisonnement über die Kunst: „Raisonnement […] Nachdenken“ (Moritz III 314).
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Gottsched […] ET IN PARNASSO EGO: Johann Christoph Gottsched (1700–66), genoß im 18. Jahrhundert hohes Ansehen wegen seiner Theaterreform, verlor als Dichter aber schnell an Bedeutung. Darauf spielt hier die scherzhafte Abwandlung des Zitats Et in Arcadia ego! ‚Auch ich war in Arkadien!‘ an (ursprünglich eine Inschrift des Malers Bartolommeo Schidone auf einem seiner Gemälde, das einen Totenkopf zeigt [um 1600]).