Das Dorf in der Stadt

Wie Menschen verschiedenen Alters in den Claudius-Höfen zusammenleben

Moderne, helle Wohnungen, die barrierefrei gestaltet sind und die unterschiedlichsten Bedürfnisse erfüllen. Nicht am Stadtrand gelegen, sondern mittendrin – und trotzdem ruhig. Ein Leben, das nicht allein und abgeschieden ist, sondern gemeinsam mit anderen Menschen jeden Alters stattfindet, mit und ohne Behinderung, als Gemeinschaft und doch selbstbestimmt. Geht das? Und wenn ja: Wie sieht das aus?

Die Claudius-Höfe in Bochum, in die im Jahr 2012 die ersten Menschen einzogen, sind ein Beispiel dafür, wie gemeinschaftliches Mehrgenerationen-Wohnen im Stadtzentrum aussehen kann – und wie es tatsächlich funktioniert. Rund 180 Mieter leben heute in der Wohnanlage, die bereits mit vielen Preisen und Urkunden bedacht und von der NRW-Ministerin Svenja Schulze als „Ort des Fortschritts“ ausgerufen wurde.
Nach mehr als vier Jahren ist es Zeit, eine Bilanz zu wagen: Wie empfinden die Menschen, die hier leben, ihr neues Zuhause? Haben sich die anfänglichen Erwartungen und Wünsche an das innovative Wohnkonzept erfüllt? Was ist vielleicht doch anders geworden als erwartet? Vier Bewohnerinnen und Bewohner sprechen über ihre Erfahrungen und Eindrücke, die sie in ihrer neuen Heimat gewonnen haben.

Ein gutes Gleichgewicht aus Nähe und Anonymität

Helga und Klaus Wengst, 72 und 74 Jahre alt, leben seit 35 Jahren in Bochum. Im Herbst 2012 zog das Ehepaar aus ihrem Haus am Stadtrand in ein sonnendurchflutetes Appartement in den Claudius-Höfen. Für Klaus und Helga Wengst war der Schritt eine bewusste Entscheidung, mit der sie auch heute noch sehr glücklich sind.

 

 

Im Interview erzählt Klaus Wengst über das Zusammenleben in den Claudiushöfen Bochum (Untertitel zuschaltbar durch Klick auf das Untertitel-Symbol unten rechts; Qualität veränderbar durch Klick auf „Einstellungen“ - Rad-Symbol unten rechts daneben).

Klaus Wengst berichtet: „Meine Frau und ich haben früher in einem ehemaligen Pfarrhaus mit großem Garten am Stadtrand in Bochum-Laer gelebt. Ich habe dort Wein angebaut, wir konnten regelrecht den Klimawandel beobachten, weil die Ernte jedes Jahr besser wurde. Aber ich wusste: Das kann und will ich nicht ewig machen. So ein Haus und vor allem ein großer Garten machen sehr viel Arbeit, außerdem zog es mich immer öfter Richtung Innenstadt. Eines Tages erzählte mir Helga von einem Wohnprojekt, von dem sie über ihre Gesangslehrerin erfahren hatte. Ganz in der Nähe des Bahnhofs sollte ein generationenübergreifendes ‘Dorf in der Stadt‘ entstehen, in dem verschiedene Menschen aller Altersgruppen – mit und ohne Behinderung – in ihren eigenen Wohnungen leben sollten. Ich war sofort Feuer und Flamme und wollte unbedingt mehr wissen. Also habe ich mich informiert – und fand die Idee immer toller, je mehr ich erfahren habe.

„Wir haben uns aktiv in die Planungen eingebracht.“

Wir haben uns direkt beworben und anschließend auch in die Planungen eingebracht. Genau das war auch von Anfang an erwünscht, außerdem sollten sich die zukünftigen Mieter schon vorher kennenlernen. Wir sind schon bei den ersten Vorbereitungstreffen dabei gewesen. Eine Ingenieurin begleitete das Ganze und überlegte mit uns gemeinsam, wie und was genau geschehen sollte. Ab diesem Zeitpunkt dauerte es noch ganze vier Jahre bis zum Einzug – das hätte ich gerne viel schneller gehabt, ich konnte es wirklich kaum erwarten.

Weil wir zu den ersten und damit zur Kerngruppe der Mieter zählten, durften wir bei vielem mitreden und auch darauf einwirken, wie sich die spätere Mietergemeinschaft zusammensetzen sollte. Heute sind ein Drittel der Bewohner in den Claudius-Höfen zwischen 40 und 60 Jahren alt, ein Drittel sind „Oldies“ jenseits der 60 – so wie wir (lacht). Das letzte Drittel sind jüngere Menschen. Wir wohnen hier also mit Familien, Senioren, Studierenden und Kindern zusammen, darunter auch Menschen mit Behinderung. Das ist eine schöne Mischung.

Wir haben unsere Entscheidung nie bereut, ganz im Gegenteil. Wichtig war uns, dass das hier keine „Kommune“ ist. Es muss viel Nähe zu anderen, aber auch genug Abstand geben. Das hat sich bewahrheitet. Im Grunde funktioniert dieses Wohnprojekt wie ein normales Wohngebiet auch, aber eben mit einer stärkeren gemeinschaftlichen Idee dahinter. Jeder kann selbst entscheiden, wie viel Kontakt sie oder er zu den anderen möchte, wobei wir uns schon sehr bewusst dafür entschieden haben, hier zu leben. Es war ja nie die Idee, dass wir hier einziehen und dann isoliert bleiben. Das hätten wir auch woanders haben können.

Aber: Alle Menschen haben unterschiedliche Interessen. Ich bin zum Beispiel Wissenschaftler mit Leib und Seele, war früher Professor für das Neue Testament und Judentumskunde hier an der Ruhr-Universität. Ich habe meinen Beruf immer geliebt, mittlerweile bin ich im Ruhestand, arbeite aber weiterhin an meinen Themen, wann immer ich Zeit finde. Zugleich ist die Gemeinschaft ein wichtiger Teil des Konzepts. Ob das gut klappt, ist von allen abhängig, die hier leben. Ich finde, dass es insgesamt gut funktioniert. Mir macht es viel Spaß, mich für die Gruppe zu engagieren, zum Beispiel in Form des Kulturvereins, den ich gleich zu Anfang mitgegründet habe: „KuKuC“, das ist die Abkürzung für „Kunst und Kultur in den Claudius-Höfen“. Auch viele andere Mieterinnen und Mieter – wenn auch nicht alle – bringen sich immer wieder ein mit ihren Ideen oder besonderen Angeboten. Und was mit das Tollste für mich ist: Ich hätte vorher nicht gedacht, dass hier so viele Kontakte und echte Freundschaften entstehen würden. Ich bin sehr glücklich, hier zu leben.“

Helga Wengst hat alle Zweifel über Bord geworfen und fühlt sich in der Hausgemeinschaft wohl.

Helga Wengst erzählt: „Ich brauchte etwas länger als mein Mann, um mich mit der Idee der Claudius-Höfe anzufreunden. Meine Gesangslehrerin hat eine Tochter mit Down-Syndrom. Sie erzählte mir von dem geplanten Wohnprojekt, bei dem sie ihr mittlerweile erwachsenes Kind als Mieterin anmelden wollte. Ich trug das an Klaus weiter, der direkt begeistert war. Ich war von der Idee auch sehr fasziniert, hatte aber Angst, dass mir diese Wohnform viel zu bestimmend sein würde. Ich wollte mir meine Freunde selbst aussuchen und sie nicht ‘aufgedrückt‘ bekommen. Die Mieter sollten sich zwar vorher kennenlernen, aber ich hatte Zweifel, denn es war ja dem Zufall überlassen, wen wir dort treffen würden. Man verabredete sich ja nicht, weil man gemeinsame Interessen und Leidenschaften hatte, wie das bei Freunden der Fall ist. Zugleich hatte ich in unserer alten Nachbarschaft viele Kontakte in der Gemeinde und durch die Kirche. Ich hatte Sorge, dass diese Freundschaften durch den Umzug verloren gehen könnten. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass sich die Bedenken sehr bald in Wohlgefallen auflösen würden.

„Nach einem halben Jahr war ich richtig angekommen. Ich habe viele neue Freundinnen und Freunde dazu gewonnen.“

Als wir hier eingezogen sind, habe ich mich noch nicht so richtig heimisch gefühlt, sondern mehr wie in einer schönen Ferienwohnung. Nach einem halben Jahr war ich dann aber richtig angekommen. Ich habe hier ganz wider Erwarten neue Freundinnen gefunden, also Menschen dazugewonnen und nicht alte Kontakte durch neue ersetzt. Das war alles auch kein Zwang, sondern eine freiwillige Möglichkeit und für mich eine echte Bereicherung. Rückblickend bin ich sehr glücklich, dass wir diesen Schritt gemacht haben. Auch die Tatsache, dass alle Wohnungen barrierefrei gebaut sind, hat sich schon als großer Vorteil für mich erwiesen. Anfangs fand ich das ungünstig, weil dadurch viel Platz für den Flur und das Badezimmer verloren geht, den ich zum Beispiel lieber im Wohnzimmer gehabt hätte. Aber dann bin ich gestürzt und brauchte mehrere Wochen lang einen Rollstuhl. Wäre die Wohnung dafür nicht so passend geschnitten und eingerichtet gewesen, wäre ich alleine nicht klargekommen. So ging das wirklich gut, und das ist auch in Zukunft ein wichtiges Argument für uns, hier zu leben. Wir werden ja beide nicht jünger (lacht).

Was auch toll ist: Ich empfinde hier entgegen meiner anfänglichen Sorge keinen sozialen Druck, mich dauernd einbringen oder mit allen gleichermaßen Kontakt haben zu müssen. Es ist ohnehin so, dass sich nicht immer alle treffen. Es haben sich ganz natürlich verschiedene Gruppen gebildet. Manche Mieter sieht man nie, wohl auch wegen der unterschiedlichen Tagesgewohnheiten; mit anderen haben wir regelmäßig Kontakt. Dieses Wohnprojekt bietet aber eben trotzdem die Möglichkeit, sich über diese Kleingruppen hinweg zu begegnen. Der Gemeinschaftraum zum Beispiel ist für alle da. Er ist in der Miete enthalten und dort finden regelmäßige Treffen, zum Beispiel Kaffeestunden oder Kurse statt. Nur, wenn er privat gemietet wird, zum Beispiel für eine Familienfeier, muss eine kleine Gebühr bezahlt werden, die aber trotzdem sehr günstig ist. Solche gemeinschaftlichen Orte dienen hier als Treffpunkt, der im wahrsten Sinne des Wortes naheliegend für alle ist. Mir fällt da unsere 85-jährige Nachbarin ein, die früher Volkstänze unterrichtet hat. Sie hat im Gemeinschaftsraum einmal einen Tanzkurs angeboten. Dort tauchte dann wirklich sehr gemischtes Publikum aus den Claudius-Höfen auf, von jung bis alt, auf Beinen und sogar im Rollstuhl. Das war sehr schön.“


 


 

Die Claudius-Höfe in Bochum bestehen aus Wohnungen und Apartments, einem Hotel, einem Restaurant, einem Bistro sowie mehreren Gemeinschaftsräumen. Zu Fuß liegt die Anlage nur ein paar Minuten vom Hauptbahnhof entfernt – ein Dorf in der Stadt also, in dem das Wohnen für Menschen mit und ohne Behinderung aller Altersgruppen und Lebenssituationen möglich wird. Insgesamt 180 Menschen leben heute hier. Die Claudius-Höfe sind zudem klimafreundlich gebaut, der Verbrauch für Heizung und Wasser ist durch die Bauweise niedrig, der Energiemix ist nachhaltig. Eigene Solaranlagen stützen das Konzept zusätzlich. Eine weitere Besonderheit: Die Mieter wurden von Anfang an in die Planungen einbezogen. Sie durften mit entscheiden, wie ihr neues Zuhause aussehen und funktionieren sollte.