Textilland Westfalen

01.01.2007 Arnold Lassotta

Im Verlauf des 19. und frühen 20. Jh.s entwickelte sich Westfalen vom Agrar- zum Industrieland. Die Textilindustrie - auch allgemein als Leitindustrie der industriellen Revolution bekannt - spielte dabei eine führende Rolle. Selbst später von Bergbau und Schwerindustrie geprägte Städte wie Recklinghausen oder Bochum begannen den Start ins Industriezeitalter als Textilindustriestädte. Vorindustrielle Grundlagen dafür waren Flachsanbau, Leinengarnspinnerei und Leinenweberei sowie Wollverarbeitung, die sich bis ins frühe Mittelalter nachweisen lassen. Im 16. Jh. kam mit der Baumwolle ein weiterer, fortan immer wichtiger werdender Rohstoff hinzu. Niederländische Kaufleute, meist Religionsflüchtlinge, führten ihre Verarbeitung im Westmünsterland ein und organisierten die neue Produktion gleich als Exportgewerbe, ähnlich wie sie im Ostwestfälischen die Herstellung feiner Leinengewebe initiierten. Gleich ob Baumwolle oder Leinen - wichtigster Abnehmer westfälischer Gewebe waren in den folgenden Jahrhunderten die Niederlande. Von hier aus wurde die Ware weiter nach Übersee exportiert. In den Export gingen seit dem 16. Jh. auch feine Leinengarne aus dem Ravensbergischen, die nach ihrer Veredlung in Elberfelder Bleichereien und Zwirnereien in der blühenden Spitzenherstellung der Niederlande verarbeitet wurden.

Westfalens Textilgewerbe zeigte so schon früh protoindustrielle Züge - günstige Voraussetzung für seine Überleitung in die neuen, von England kommenden industriellen Produktionsformen seit Beginn des 19. Jh.s. Dies geschah in Westfalen mit zeitlicher Verzögerung gegenüber anderen Regionen, etwa Sachsen oder dem Rheinland -, vielleicht weil hier das niedrigere Lohnniveau ein längeres Standhalten der Heimarbeit gegenüber der schon industriellen Konkurrenz ermöglichte. Seit der Mitte des 19. Jh.s war die Industrialisierung nicht mehr aufzuhalten, auch wenn vor allem in Ostwestfalen zunächst erheblicher Widerstand von den betroffenen Spinnern und Webern geleistet wurde. In der Regel kam das Kapital für die neuen Fabriken aus den durch die heimgewerbliche Produktion erzielten Handelsgewinnen sowie aus Beteiligungen von Verwandten, Freunden und über Heiratsbeziehungen, seltener aus der Akquirierung von Fremdkapital durch Gründung einer Aktiengesellschaft. Die Ravensberger Spinnerei in Bielefeld ist für letzteres ein besonders eindrucksvolles Beispiel.
Abb. 1: Textilfirma Huesker in Gescher (Foto: Chr. Schneider)

Die Industrialisierung bewirkte einen immensen Strukturwandel, verbunden mit einem bis dahin nicht gekannten Bevölkerungswachstum. Landwirtschaftlich geprägte Dörfer wurden zu Fabrikdörfern, kleine Ackerbürgerstädte zu Industriestädten mit riesigen Fabrikarealen und Arbeitersiedlungen. Dabei entwickelte die neue Industrie gewaltige Dimensionen: Zeitweilig konzentrierte sich etwa im Raum Gronau die bedeutendste Baumwollspinnerei-Kapazität auf dem europäischen Festland. Namhafte Industriearchitekten aus England, Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz errichteten eindrucksvolle Bauten, die das Bild der Städte trotz vieler Abbrüche bis in die Gegenwart prägen (Bielefeld, Gescher, s. Abb. 1, Gronau, Ochtrup, Dülmen, Rheine, Bocholt). Für weite Landesteile war die Textilindustrie schlechthin identitätsstiftend, erkennbar an der engen und Generationen überdauernden Bindung der Arbeitnehmer an "ihren" Betrieb und an spezifischen Formen der Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur, aber auch an einer unternehmerischen Mentalität, der es noch im Überlebenskampf gegen die Folgen der Globalisierung nicht um persönliche Bereicherung, sondern um die Arbeit "an einer als richtig erkannten Sache" ging und geht.

Dass von der Textilindustrie auch Impulse für Folgeindustrieen ausgingen, z.B. den Maschinenbau, kann hier nur erwähnt werden.

Nicht alle Gebiete Westfalens wurden von der Entwicklung gleichmäßig berührt. Vielmehr bildeten sich wieder besondere textilindustriell geprägte Regionen. Die bedeutendsten waren und sind z.T. bis heute:

Abb. 2: Standorte der westfälischen Textilindustrie: Zahl der Betriebe, der Beschäftigten und Jahresumsatz (2004) (Entwurf: A. Lassotta, Quelle: Verband der Nordwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie e.V., Münster)

Die Produktion zeigte dabei eine außerordentliche Vielfalt. Wurde das Westmünsterland mit seiner Baumwollindustrie, abgesehen von einigen Leinen- (Borken, Nordwalde, Laer) und vor allem Juteenklaven (Ahaus, Mesum, Emsdetten), bis in die Gegenwart zu einem Zentrum der Heimtextilherstellung, war Ostwestfalen das klassische Leinenland, in dem nicht nur gesponnen und gewebt, sondern in einer bedeutenden Wäscheindustrie (Bielefeld, Herford) auch weiterverarbeitet wurde. Der Weltruf des Bielefelder Leinens hallt bis heute nach.

Südwest-Westfalen zeigte das Bild einer äußerst differenzierten Textilindustrie, einerseits im Umfeld der weit ausstrahlenden Wuppertaler Produktion von Bändern, Borten und Posamenten, andererseits mit einst weltberühmten Stoffdruckereien entlang der Flüsse Ruhr, Lenne und Volme.

Im Sauerland schließlich entwickelte sich vor allem die Wollindustrie.

Kleinere Produktionszentren wie das münsterländische Sassenberg mit seiner einst bekannten Strickgarnproduktion (Gebrasa-Wolle) oder der Raum Warendorf-Freckenhorst werden von dieser schematischen Einteilung nicht erfasst.

Eigentlich wurde in Westfalen "fast alles" hergestellt: Wollsocken und Schlafdecken, Leinendamast höchster Qualität und Putztücher, künstlerische Stoffdrucke und Jutesäcke, Frottierware und Kokosmatten, - selbst Seide und Möbelplüsche gehörten zum Produktionsspektrum. Die Nachkriegsentwicklung mit der Ansiedlung neuer Produktionen, z.B. Damenstrümpfe, auch außerhalb der klassischen Zentren bereicherte noch diese Palette.

Der Strukturwandel der letzten Jahrzehnte unter dem Einfluss weltweiter Konkurrenz und eines unerhörten technologischen Fortschritts - er trifft nicht nur Westfalen - hat das weit über 100 Jahre gültige Bild erheblich verändert. Traditionelle Produktionen wurden aufgegeben oder ins Ausland verlagert, die Zahl der Betriebe und Beschäftigten geht noch immer zurück. Gleichwohl ist Westfalen bis in die Gegenwart Textilland (Abb. 2). Vor allem technische Textilien für alle Anwendungen von der Autokupplung bis zum Windrad, vom Geotextil bis zum Schweißeranzug werden verstärkt hergestellt und nachgefragt, und die Produktion wird durch immer neue Ideen bis hin zu "intelligenten" Textilien bereichert.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007