Ortswüstungen in Westfalen

01.01.2009 Rudolf Bergmann

Inhalt

Die Wüstungsforschung hat seit dem Beginn des vorigen Jh.s wesentliche Impulse von der Historischen Geographie erhalten. Im Fokus des Interesses standen im Mittelalter aufgegebene Orte (Ortswüstungen) und Relikte aufgegebener agrarischer Nutzflächen (Flurwüstungen). Ortswüstungen sind in Westfalen vornehmlich in der Krisensituation des 14. Jh.s entstanden und in einer bandartigen Zone verbreitet, die sich vom Siegerland bis in den Raum Minden erstreckt (Abb. 1). Insgesamt hat die in Westfalen häufig als Vorgang einer Siedlungskonzentration abgelaufene Wüstungsbildung einen direkten Einfluss auf die Entstehung ländlicher Siedlungsformen gehabt: Nicht zufällig stimmt daher das Hauptverbreitungsgebiet der Ortswüstungen in Westfalen weitgehend mit der Verbreitung heutiger "Waldgebirge"-Großweiler und des "Börde"-Siedlungstyps mit Großdörfern (s. Beitrag Henkel) überein.

Abb. 1: Verbreitung von Ortswüstungen in Westfalen (Entwurf: R. Bergmann, LWL-Archäologie für Westfalen; Quellen: Bergmann 1989 u. 1993, Dahm/Lobbedey/Weisgerber 1998, Gerking 1995, Henkel 1973, Stephan 1978/79, Wöhlke 1957 u. a.)

Ursachen der Wüstungsbildung

Wesentlichen Einfluss auf das Wüstungsgeschehen hatte die Pestepidemie des Jahres 1349, der eine Phase von Missernten und Hungersnöten, verbunden mit ungünstigen Witterungsereignissen, vorausging. Die nach Europa eingeschleppte Pest führte zu einem Bevölkerungsrückgang von schätzungsweise rd. 30 %. Aufgrund der sehr verschiedenartigen und auch kleinräumig variierenden naturgeographischen Ausstattung von Agrarräumen setzten im Verlauf der negativen demografischen Entwicklung Bevölkerungsbewegungen ein, die von Ungunsträumen in Richtung naturräumlich besser ausgestatteter Räume verliefen. Die Entsiedlung vollzog sich in Westfalen weiterhin unter dem Druck eines regional unterschiedlich intensiv ausgeprägten Fehdewesens, das die Verlagerung der Siedlungsentwicklung von ungeschützten Kleinsiedlungen in Zentralorte des ländlichen Raumes und Städte beschleunigt hat. Im Umfeld von Städten konnte der Vorgang der Entsiedlung bereits in der ersten Hälfte des 13. Jh.s einsetzen, erstreckte sich über einen längeren Zeitraum und mündete zeitlich in die spätmittelalterliche Hauptwüstungsphase des 14. Jh.s. Zu dem vielschichtigen, sich in seinen Auswirkungen partiell überlagernden Bündel der Wüstungsursachen fügte sich ab ca. 1360/70 eine durch den Bevölkerungsrückgang ausgelöste Agrarkrise hinzu, mit der das Wüstungsgeschehen seinem finalen Punkt zustrebte.

Raumbezogene Folgen der Wüstungsbildung

Betrachtet man das Entsiedlungsgeschehen in seinen räumlichen Auswirkungen, so lässt sich in Grundzügen ein bestimmtes Muster erkennen: Besonders häufig aufgegeben wurden während der Ausbauphase des ausgehenden 8. bis 9./10. Jh.s entstandene Weiler zumeist des Namenstyps "-hausen", "-shausen" und "-inghausen". Orte mit schwer deutbaren oder allgemein als "alt" angesehene Ortsnamen, bei denen es sich häufig um Siedlungen handelt, von denen die Welle der karolingisch-ottonischen Neugründungen ihren Ausgang nahm, sind erheblich seltener dauerhaft wüstgefallen. Jedoch wurden vornehmlich im 14. Jh. auch derartige Orte vom allgemeinen Wüstungsgeschehen erfasst, und zwar insbesondere innerhalb der Stadtfeldmarken und in solchen Kleinregionen, die sich im Spätmittelalter nahezu flächendeckend entvölkert haben.

Die westfälische Wüstungsregion

In Westfalen-Lippe sind durch Geländearbeiten rund 300 Ortswüstungen archäologisch lokalisiert. Die Gesamtmenge der in historischen Quellen nachgewiesenen aufgegebenen Orte ist erheblich höher. Ein krasses Missverhältnis von historisch nachweisbaren Ortswüstungen und topografisch eindeutig lokalisierten besteht in den Kreisen Siegen-Wittgenstein, Olpe und dem Altkreis Minden. Innerhalb dieser weitgehend unerforschten Regionen ist mit qualitativ herausragend gut erhaltenen Bodendenkmälern zu rechnen; exemplarisch für Siegen-Wittgenstein sei auf die Ortsstellen Wibelhausen und Bubenhausen, die ergrabene Bergbauwüstung Altenberg wie auch die Kirchenwüstung Wegebach hingewiesen (Abb. 1).

Rund ein Viertel der lokalisierten Ortsstellen befindet sich im Hochsauerlandkreis. Unter diesen sind markante Kirchenstellen wie die der Kirchortwüstung Neghere und die Wüstung Nieder-Upspringen mit einer der wenigen baulich erhaltenen Wüstungskirchen Westfalens. Archäologische Untersuchungen haben stattgefunden in dem einstigen Dorf Twesini unweit von Marsberg mit dem Nachweis einer Verhüttung von Kupfer und innerhalb der Kirchenstelle Dorpede bei Marsberg-Westheim. Die Masse der Ortswüstungen des östlichen Hochsauerlandkreises entfällt auf seit dem 9. Jh. entstande "-inghausen"-Kleinweiler wie Reninghausen, in dem archäologisch ein steinwerkähnliches Gebäude dokumentiert werden konnte. Beiderseits des Rothaargebirgskammes verwaldeten im 14. Jh. infolge der massiven Entsiedlung ausgedehnte Terrassenackerfluren.

Für die Kernzone der Bördenlandschaft um Geseke im Kreis Soest lässt sich eine bereits während der Merowingerzeit einsetzende mittelalterliche Besiedlung erkennen. Derartige Altsiedlungen waren zwischen Erwitte und Salzkotten zumeist am Hellweg-Dauerquellhorizont aufgereiht. Der Wüstungsvorgang erstreckte sich hier über mehrere Generationen. Die aus dem heutigen Siedlungsbild weitgehend eliminierten Ausbauweiler karolingisch-ottonischer Zeitstellung hingegen nahmen Siedlungsstandorte zweiter Wahl an den Rändern der Lösslehmplatten nördlich des Dauerquellhorizontes und im Karstgebiet der Plänerkalke südlich der Quellenlinie ein. Die Wüstungsbildung vollzog sich im Geseker Hellwegraum unter dem Druck von Fehden als in den Schriftquellen überlieferter Ballungsprozess unter weitgehender Beibehaltung grundherrschaftlicher Besitzverhältnisse.

Im Verlauf von Fehdehandlungen zerstört wurden im frühen 13. Jh. Elsinchusen, Kr. Soest, und um 1332 Diderikeshusen, Kr. Paderborn, mit ihren archäologisch untersuchten, unbefestigten Niederadelssitzen. In dem in der Niederbördenregion gelegenen, im Verlauf eines ländlichen Siedlungskonzentrationsprozesses aufgegebenen Kleinweiler Esperike, Kr. Paderborn, wurde ein Areal exemplarisch untersucht und eine Gehöftanlage mit einschiffigem Haupthaus, Scheune und Grubenhäusern nachgewiesen. Großflächig archäologisch erforscht ist die am Schnittpunkt zweier Fernwege nahe der ehemaligen Almefurt des Hellweges gelegene Dorfwüstung Balhorn bei Paderborn. Im Sintfeld als Teilraum der Paderborner Kalkhochfläche setzte der zweistufige Wüstungsprozess zunächst lokal begrenzt zu Anfang des 14. Jh.s mit einer Siedlungskonzentration im Umfeld der Städte ein. Durch eine regionale Massierung des Fehdewesens maßgeblich beeinflusst war eine etwa 1380 beginnende Phase der Entstehung von Totalwüstungen, in deren Verlauf vertriebene Landbewohner aus Gründen des Selbstschutzes eine dörfliche Wehranlage in der Ortswüstung Knickenhagen errichtete. Diese blieb unvollendet und der Raum des Sintfeldes entvölkerte sich schließlich nahezu vollständig, wobei eine Migration der ländlichen Bevölkerung in umliegende und weiter entfernte Städte erfolgte. Als bedeutendes Bodendenkmal im Kreis Paderborn sei auf die Stadtwüstung Blankenrode mit ihrer im Verlauf eines Feuers zerstörten Stadtburg hingewiesen.

In der Kernzone der Warburger Börde im südlichen Kreis Höxter sind sowohl seit der Merowingerzeit bestehende Dörfer als auch im 13. Jh. gegründete Hagenhufensiedlungen von der spätmittelalterlichen Wüstungsbildung erfasst worden. Markante Relikte abgegangener Dörfer sind die archäologisch untersuchte Ruine der Assler Burg in der Wüstung Aslen und die Turmruine der sog. Emmerke Kirche. Die westliche und nördliche Randzone der Bördenlandschaft sind Rodungsgebiete der Karolingerzeit mit zahlreichen wüstgefallenen Weilern des "-husen" und "-shusen" (bzw. "-essen") -Typs. Ausgedehnte fossile Flursysteme haben sich im Bereich der Kirchortwüstung Eddessen erhalten, deren Kirchenstandort heute von der Klus Eddessen eingenommen wird. Mehrjährig archäologisch untersucht wurde der um 800 n. Chr. westlich der Bördenzone angelegte Kleinweiler Rozedehusen bei Bonenburg, der im ausgehenden Hochmittelalter durch das Zisterzienserkloster Hardehausen zu einer nach geplantem Grundriss erbauten Grangie umgeformt wurde. Der von Laienbrüdern bewirtschaftete klösterliche Großgutsbetrieb wurde aufgegeben, als in der ersten Hälfte des 14. Jh.s im Schutz einer Spornburganlage das Dorf Bonenburg entstand.

Prospektionsfunden zufolge setzte die mit der Entstehung zunächst kleiner Orte verbundene mittelalterliche Besiedlung des Altkreises Höxter im 7. bis 8. Jh. ein. Für das 9. Jh. ist ein erhebliches Bevölkerungswachstum festzustellen; vereinzelt bestanden bereits im späten 10. Jh. Dörfer mit 30 bis 40 Höfen. Nachdem das Besiedlungsmuster des ländlichen Raumes im Hochmittelalter keine wesentlichen Veränderungen erfuhr, ist von der Mitte des 12. Jh.s an eine archäologisch dokumentierte, sich in der ersten Hälfte des 13. Jh.s tendenziell verstärkende – zunächst partielle – Wüstungsbildung zu beobachten, durch die um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s erste totale Ortswüstungen entstanden sind. Die Wüstungsvorgänge erreichten um die Mitte des 14. Jh.s ihren Höhepunkt und im Wesentlichen auch Abschluss; als besonders wüstungsanfällig erwiesen sich naturräumlich schlechter ausgestattete Kleinräume. Als Musterbeispiel einer städtischen Ein-Straßen-Anlage ist die im Spätmittelalter aufgegebene, umwallte, zweitorige, im Osten von einer Stadtburganlage geschützte Stadtwüstung Stoppelberg bei Steinheim anzusehen. Deren Wohngebäude waren zu beiden Seiten der die Plananlage längs durchziehenden Marktstraße angeordnet und sind in Relikten heute noch erhalten.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2009