Naturgefahren in Westfalen

09.11.2016 Karl-Heinz Otto

Inhalt

Laut Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft (2015) sind die Anzahl und Schwere der durch Naturereignisse ausgelösten extremen "Naturkatastrophen" in den letzten Jahrzehnten weltweit gestiegen (BMZ 2015, S. 1). Abbildung 1 bringt diese Entwicklung auch für Deutschland und Nordrhein-Westfalen deutlich zum Ausdruck. Hierin sind alle Schadenereignisse in Deutschland von 1970 bis 2014 aufgeführt, von denen auch Nordrhein-Westfalen betroffen war.

Abb. 1: Schadensereignisse in Deutschland 1970–2014. Anzahl der Ereignisse, die auch Nordrhein-Westfalen betroffen haben (Stand 07/2015) (Quelle: Munich Re, NatCatSERVICE)

Verursacht wird der generelle Anstieg der "Naturkatastrophen" einerseits durch die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels und andererseits durch die vielerorts steigende gesellschaftliche Verletzlichkeit (Vulnerabilität). Im einzelnen sind die Gründe für die höhere Katastrophenanfälligkeit vielfältig: das Fehlen weitgehender Vorkehrungen für den Bevölkerungsschutz und unzureichende Frühwarnsysteme, defizitäre Gesundheitssysteme, Fehlentwicklungen, ungenügende umweltrechtliche Vorschriften und mangelnde Verwaltungskapazitäten, rasche Verstädterung sowie rasant ansteigende Bevölkerungsdichten (BMZ 2010, S. 3; Bündnis Entwicklung Hilft/UNU-EHS 2014, S. 6).

Schaut man sich in Abbildung 1 die Schadensereignisse der vergangenen zehn Jahre (von 2004 bis 2014) genauer an, dann erkennt man, dass Nordrhein-Westfalen in diesem Zeitraum von allen dort aufgeführten Naturgefahren getroffen wurde, d.h. von geophysikalischen, meteorologischen, hydrologischen und klimatologischen Ereignissen. Die geophysikalischen Schadensfälle beschränken sich bezogen auf den genannten Zeitraum allerdings auf lediglich ein einziges Ereignis, einem Erdrutsch im Jahr 2012. Dieses Naturereignis verursachte lokale Schäden bei geparkten Pkw. Die große Mehrheit der Schadensereignisse in Nordrhein-Westfalen waren meteorologische (insgesamt 93). Mit deutlichem Abstand folgen dann die klimatologischen (insgesamt 13) und hydrologischen (insgesamt acht) Naturgefahren.

Tab. 1: Rangliste der fünf teuersten Schadensereignisse in Deutschland 1970 bis 2014, die auch Nordrhein-Westfalen betroffen haben (Quelle: Munich Re, NatCatSERVICE 2015)

Sturm Kyrill

Das monetär teuerste Naturereignis in Westfalen war der Wintersturm Kyrill, der vom 18.–19.01.2007 auch über Westfalen hinweg wehte (Tab. 1; s. Beitrag Schmidt).

Dieser Orkan, der in Böen Windgeschwindigkeiten bis zu 225 km/h erreichte, beeinträchtigte das öffentliche Leben in weiten Teilen Europas. Er forderte insgesamt 49 Todesopfer und führte zu erheblichen Sachschäden, zur vorzeitigen Schließung von Kindergärten, Schulen, Universitäten, Behörden und Betrieben sowie zu erheblichen Beeinträchtigungen im Energie- und Verkehrssektor. Über 1 Mio. Menschen waren zeitweilig vom Strom abgeschnitten, Flüge mussten gestrichen, Fährverbindungen eingestellt und Straßen gesperrt werden. Der Bahnverkehr wurde in einigen teilen Mitteleuropas nahezu vollständig eingestellt, so dass zehntausende Reisende betroffen waren. Katastrophale Folgen hatte der Orkan in Westfalen vor allem für die dortigen Forstbestände. Allein in Wittgenstein, im Sieger- und Sauerland traten mit 12 Mio. m3 oder 25 Mio. Bäumen etwa die Hälfte des deutschen sowie über ein Drittel des europäischen Verlustes (30 Mio. m3) auf.

Unwetter in Münster

Als besonders prägnantes Beispiel für ein lokales Schadensereignis in Westfalen kann das Unwetter am 28.–29.07.2014 in Münster gelten. Durch dieses schwere Unwetter kam es in weiten Teilen von Münster zu gewaltigen Überschwemmungen, die die Stadt für Wochen in einen Ausnahmezustand versetzten.

In nur sieben Stunden verzeichnete die Messstelle auf der Hauptkläranlage eine Niederschlagsmenge von 292 l/m2 – einer der höchsten Niederschlagswerte in ganz Deutschland seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1891. Die gemessene Niederschlagsmenge war damit fast viermal so hoch wie der langjährige Mittelwert für den gesamten Monat Juli (76 l/m2).

Die extrem hohen Windgeschwindigkeiten in der Anfangsphase des Unwetters haben zu massiven Schäden am Baumbestand geführt. Teilweise stürzten Bäume und große Äste auf Fahrzeuge, in denen sich auch Personen aufhielten. An der Himmelreichallee im Bereich des Aasees durchschlug ein schwerer Ast die windschutzscheibe eines parkenden Pkws, wobei eine weibliche Person im Fahrzeug sehr schwer verletzt wurde. Im Bereich der Sentruper Straße begrub ein umstürzender Baum einen Pkw unter sich, in dem sich eine Familie befand. Hier wurden glücklicherweise keine Personen verletzt. Durch umstürzende Bäume und herabfallende Äste wurden zahlreiche Straßen, insbesondere im Bereich Aasee, Schlossplatz und nördlicher Ring blockiert, wodurch auch der Verkehr streckenweise zum Stillstand kam.

Es regneten insgesamt 40 Mio. m3 Wasser auf die Stadt nieder. Das sind 26 Mal mehr als die 1,5 Mio. m3, die von Wasserläufen und Kanälen aufgenommen werden können. Das Hochwasser hat den größten Einsatz von Feuerwehren und Hilfsorganisationen in Münster seit Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelöst. Tausende Männer und Frauen aus ganz Nordrhein-Westfalen waren beteiligt.

Ähnlich war es mit der Abfallabfuhr. Von Hamm bis Wuppertal kamen Städte den Abfallwirtschaftsbetrieben Münster beim Abtransport des durchnässten und verschlammten Sperrguts, das die Menschen aus ihren überfluteten Wohnungen, Kellern und Geschäften entsorgen mussten, zur Hilfe. Insgesamt wurden über 1.000 Lkw-Ladungen Hausrat in den nachfolgenden drei Wochen entsorgt – mit 10.000 t annähernd doppelt so viel wie sonst in einem ganzen Jahr.

Neuer Umgang mit "Naturkatastrophen"

Immer mehr Geowissenschaftler und Geographen sind der Auffassung, dass es "Naturkatastrophen" nicht gibt, wohl aber durch Naturereignisse ausgelöste (Sozial-)Katastrophen (u.a. Schmidt-Wulfen 1980, S. 24 u. 1982, S. 137; Glade/Felgentreff 2008, S. 443, Otto 2009, S. 35; Merz 2015, S. 104). Denn extreme Naturereignisse bzw. -gefahren werden erst dann zu Sozialkatastrophen, wenn sie auf eine verletzliche Gesellschaft treffen. Das hat Max Frisch (1979, S. 103) schon früh präzise auf den Punkt formuliert: "Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen".

Sozialkatastrophen entstehen zumeist nicht plötzlich, sondern stellen vielmehr Kulminationspunkte einer langfristigen Entwicklung dar, die sich nach dem eigentlichen oft unerwarteten und plötzlichen Ereignis durch Verarbeitungs- und Wiederherstellungsprozesse fortsetzen (Egner 2008, S. 421). Naturereignisse können binnen weniger Sekunden auftreten (z.B. Erdbeben) oder Jahre andauern (z.B. Dürren). Auch deren räumliche Ausdehnung umfasst eine beachtliche Spannbreite: Während z.B. eine Hangrutschung lokal begrenzt ist, können Winterstürme in Regionen wirken, die ganze Kontinentteile umfassen (u.a. Dikau/Weichselgartner 2005, S. 180; Hidajat 2006, S. 4). Ein weiterer zentraler Aspekt besteht darin, dass Naturgefahren sich zumeist nicht zuverlässig vorhersagen lassen (GFZ 2015), weder zeitlich und räumlich noch hinsichtlich der zu erwartenden Stärke/Auswirkungen.

Folgt man dem bereits im Jahr 1999 vom damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan geforderten Umdenken von einer Kultur der Reaktion ("culture of reaction") zu einer Kultur der Vorsorge ("culture of prevention") wird deutlich, dass die Katastrophenvorsorge das primäre strategische Ziel des Bevölkerungsschutzes der Zukunft ist. Diese visionäre Forderung findet sich aktuell in der Roadmap der UNESCO (2014) zur Umsetzung des Weltaktionsprogramms "Bildung für nachhaltige Entwicklung" wieder. In dieser Roadmap werden neben dem Klimawandel (1), der Biodiversität (2) und der Nachhaltigkeit in Konsum und Produktion (3) ebenfalls die Katastrophenvorsorge (4) als eines von vier globalen Schwerpunktthemen hervorgehoben (UNESCO 2014, S. 10).

Im Rahmen der Katastrophenvorsorge spielt vor allem die (Schul-)Bildung eine entscheidende Rolle, denn nur dadurch können die notwendigen Grundlagen für risikobewusstes und -reduzierendes Handeln in der Bevölkerung gelegt werden (Hufschmidt/Dikau 2013, S. 3; Pichler/Striessing 2013, S. 1). Bildung ist somit der zentrale Katalysator für die Sicherung einer besseren und nachhaltigeren Zukunft für alle.

Gerade die Geographie, die sowohl als Schulfach wie auch als Hochschuldisziplin ein Brückenfach darstellt, in dem sowohl naturwissenschaftliche als auch gesellschaftswissenschaftliche Aspekte Berücksichtigung finden und in dem im besonderen Maße Mensch-Umwelt-Fragen im Fokus stehen, kann und muss hierzu einen entscheidenden Beitrag leisten. Denn es gilt: "Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe!"

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Weiterführende Literatur/Quellen

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Erstveröffentlichung 2016