Der Graureiher – ein Beispiel für erfolgreichen Artenschutz

01.01.2010 Wilfried Stichmann

Kategorie: Naturraum

Schlagworte: Westfalen · Naturschutz · Fauna · Graureiher · Vogelschutz

Inhalt

Abb. 1: Mit seinen langen Beinen kann der Graureiher weit in flache Gewässer hinauswaten (Foto: N. Zapler)
Mit einer Flügelspannweite von 180 bis knapp 200 cm gehört der Graureiher (Ardea cinerea) zu den größten Brutvögeln in Westfalen. Er ist hier seit langem heimisch und den Menschen bekannt, weil er in leicht auffindbaren Kolonien brütet, die oft über Jahrzehnte am selben Ort Bestand haben. Das Verhältnis des Menschen zu dem stattlichen fischfressenden Vogel war wohl immer ambivalent: Für die einen war er Nahrungskonkurrent an den Fischgewässern, für die anderen eine Kreatur, deren Beobachtung Naturerlebnis und ästhetischen Genuss schenkte. Für den Adel war der Graureiher vielerorts ein interessantes Wild für die Beizjagd, das man sich durch den Schutz der Brutkolonien zu bewahren versuchte.

Obwohl der Graureiher in der Vergangenheit immer wieder geschossen und ganze Kolonien ausgelöscht wurden, so stark wie in den 1940er und Anfang der 1950er Jahre wurde er zuvor wohl noch nie verfolgt: hier im Dienste der "Sicherung der Volksernährung", dort durch fischereiinteressierte Besatzungsjäger. Es gab damals keinerlei gesetzlichen Schutz (keine Schonzeit), nicht einmal für "die zur Aufzucht der Jungen erforderlichen Altvögel" (Stichmann 1959), wenn man die Gelege vorher zerstörte oder die Jungen zuvor im Horst erschoss.

Das drohende Erlöschen der Art in Westfalen war Anlass für deren intensivere Erforschung und für Bemühungen um ihren Schutz. Seit über 50 Jahren gehört dazu die alljährliche Erfassung der Graureiher-Brutkolonien und der Zahl der besetzten Horste. Gegenwärtig wirken daran etwa 30 Ornithologen aus ganz Westfalen mit.
Abb. 2: In der Graureiher-Brutkolonie stehen die Horste oft dicht beieinander (Foto: B. Stemmer)

Letzte Kolonien im Großprivatwald

Im Jahr 1957 gab es in Westfalen noch 13 Reiherkolonien mit insgesamt 295 Brutpaaren, bemerkenswerterweise überwiegend im adeligen Großprivatwald, wo mehrfach auf Schutzbemühungen "aus überkommener Familientradition" (Stichmann 1959) verwiesen wurde. Obwohl es gelang, für alle noch bestehenden Brutkolonien eine Zusicherung für einen Verzicht auf den Abschuss von Reihern im Koloniebereich zu erlangen, ging der Brutbestand – nicht zuletzt auch infolge des strengen Winters 1955/56 – im Frühjahr 1958 auf 252 Paare zurück. Von diesem Niedergang erholte sich der Reiherbestand nur leicht, bis ihn der strenge Winter 1962/63 erneut dezimierte. Im Jahr 1964 wurde mit 218 Brutpaaren in 13 Kolonien das Minimum registriert (Abb. 3).

Die Werbung für den Schutz der Graureiher in Jägerkreisen und erste Schutzbestimmungen auf Kreisebene (z. B. Altena und Unna) leiteten eine Erholungsphase ein, die aber erst nach dem Erlass einer ganzjährigen Schonzeit für Reiher im ganzen Land NRW ab 1975 eine echte Trendwende brachte. Bis 1994 stieg der Reiherbestand in Westfalen auf 1.683 Brutpaare in 45 Kolonien an, d. h. er versiebenfachte sich (Abb. 3). Dass sich die Zahl der Brutkolonien nur gut verdreifachte (von 13 auf 45), unterstreicht die Zunahme der Koloniestärke (im Mittel auf durchschnittlich 38 Horste je Kolonie).

Abb. 3: Entwicklung der Graureiherbestände in Westfalen 1957–2009: Anzahl der Brutkolonien und der besetzten Horste (Quelle: W. Stichmannnn, unveröffentlicht)

Ausbreitung über das ganze Land

Gleichzeitig begannen sich die Graureiher – vor allem auch als Nahrungsgäste – weiter auszubreiten und stärker in zuvor wegen der Störungen durch Menschen gemiedene Bereiche vorzudringen. Nicht mehr jagdlich verfolgt, verringerten sie ihre Fluchtdistanz gegenüber dem Menschen. Diese Veränderung des Verhaltens geht so weit, dass inzwischen Reiher Goldfische aus kleinen Gartenteichen holen. Auf das ganze Land bezogen bedeutet dies eine stärkere Verteilung der Reiher über die Fläche und damit eine Entlastung der früher bevorzugten störungsarmen Gewässer. Im Naturschutzgebiet "Hevearm der Möhnetalsperre und Hevesee" sanken die Reiherbestände von durchschnittlich 24 in den 1970er Jahren auf unter 11 seit 2001. Die Zahl der Brutkolonien erhöhte sich nicht nur in der Westfälischen Bucht und im Südwestfälischen Bergland, sondern seit Mitte der 1990er Jahre auch im Ruhrgebiet, wo es wegen der Störungen in der dicht besiedelten Region und wegen der Kleinflächigkeit der zumeist durch den Bergbau entstandenen Gewässer (Bergsenkungsgebiete) zuvor kaum Chancen für einen längerfristigen Bestand der Kolonien gab. Natürlich spielt auch die Verbesserung der Wasserqualität zahlreicher Fließgewässer eine wichtige Rolle. So sind es zweifellos mehrere Faktoren, die heute für eine weite Streuung der 60 westfälischen Reiherkolonien mit 1.112 Brutpaaren (Stand 2009, Abb. 3) sorgen (im Mittel gut 18 Horste je Kolonie).

Inzwischen gibt es Brutkolonien des Graureihers in allen westfälischen Großlandschaften, die meisten in der Westfälischen Bucht, die wenigsten in Ostwestfalen-Lippe. Die Horste, die meistens mehrere Jahre nacheinander benutzt werden, stehen in der Regel auf hohen Bäumen, nur ausnahmsweise auf halbhohen Gehölzen. Laub- und Nadelbäume kommen gleichermaßen als Horstbäume in Betracht, die sich fast immer im Randbereich der Waldungen, vereinzelt auch in kleinen Baumgruppen oder Baumreihen befinden. Im Zentrum der Brutkolonie rücken die Horste – vor allem in starken Eichen oder Rotbuchen – so dicht zusammen, dass einzelne Bäume bis zu 10 Horste tragen können.

Abb. 4: Graureiher legen im Flug und oft auch sitzend den langen Hals s-förmig zurück (Foto: B. Stemmer)

Fortbestand gesichert

Die durch die Bestandsaufnahme des Jahres 1994 geschürte Sorge, bei ganzjähriger Schonzeit des Graureihers und Schutz der Brutkolonien könnte es zu einem unbegrenzten Anwachsen der Graureiherpopulation kommen, erwies sich in den Folgejahren als unbegründet. Von 1994 bis 1997 ging die Zahl der Brutpaare um 37% zurück, um sich in den Folgejahren bei 1.500 Brutpaaren einzupendeln (Abb. 3). Nach den strengen Wintern 2008/2009 und 2009/2010 ging die Zahl der Horste sogar auf unter 1.000 zurück. Je nach Witterungsverlauf in den nächsten Jahren werden die Verluste allerdings früher oder später wieder ausgeglichen sein.

Insgesamt kann der Bestand dieses stattlichen Großvogels, der nach der Brutzeit seinen Nahrungsbedarf u. a. durch den Fang von Kleinsäugern deckt, als gesichert angesehen werden. Seine Verbreitung über ganz Westfalen und seine Vertrautheit tragen dazu bei, dass alle Menschen die Gelegenheit haben, ihm hin und wieder zu begegnen und ihn kennenzulernen. Dank der Streuung der Brutkolonien über ganz Westfalen, der relativ geringen mittleren Koloniegröße und der Vertrautheit der Reiher gegenüber dem Menschen kommt es kaum noch zu der früher häufiger beobachteten Konzentration an wenigen Orten. Der Artenschutz war in diesem Fall so erfolgreich, dass sich der Graureiher von der existenzbedrohten Rarität zu einem vielerorts erlebbaren Bestandteil unserer lebendigen Umwelt entwickeln konnte. Bei Beibehaltung des Schutzstatus und einer weiteren Sanierung der Gewässer bedarf er des jahrelang von ihm belegten Platzes in den "Roten Listen" nicht mehr.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2010