Der Beckumer Prudentiaschrein

01.01.2007 Martin Gesing

Abb. 1: Der Beckumer Prudentiaschrein (Foto: S. Kube)

Von allen Kunstwerken der Beckumer Propsteikirche St. Stephanus darf der Goldschrein der heiligen Prudentia den Anspruch erheben, das bedeutendste zu sein. Nach Qualität und Größe ist er sogar der hervorragendste romanische Goldschrein Westfalens. Bürgerstolz, Wohlstand und Frömmigkeit gingen eine innige Verbindung ein, als er um 1230 in Auftrag gegeben wurde. Würdevoll und selbstbewusst zugleich nennt die lateinische Inschrift des Schreines die "POPULUS BEKEMENSIS" (die Bürger Beckums) und die beauftragten Goldschmiede RENFRIDUS, HERMANNUS und SIFRIDUS, die vermutlich in Osnabrück ihre Werkstatt betrieben - eine selten anzutreffende, gemeinsame Nennung von Auftraggebern und Künstlern in mittelalterlicher Zeit. Wie kein anderes Kunstwerk kündet der Goldschrein von der einstigen Blüte Beckums, das wenige Jahre zuvor Stadtrechte erhalten hatte.

Doch erst seit 125 Jahren trägt das kostbare Reliquiar den Namen Prudentiaschrein, denn laut Inschrift beherbergte er ursprünglich Reliquien der Beckumer Kirchenpatrone Stephanus und Sebastian sowie die des Märtyrerpapstes Fabian, dessen Fest gemeinsam mit dem von Sebastian begangen wird. Doch im Zuge der Säkularisierung zu Beginn des 19. Jh.s wurden sämtliche im Schrein befindlichen Reliquien entfernt. 1836 und 1876 wurde er geöffnet und war nachweislich leer. Im Jahre 1842 hingegen befanden sich kleine Gebeine, Paramentenstücke und ein kleines, versiegeltes Kästchen in ihm.

Abb. 2: Stirnseite mit Verkündigungsdarstellung (Foto: S. Kube)

Der Münsteraner Bischof und ehemalige Beckumer Kaplan Johann Bernhard Brinkmann beschloss Abhilfe. Er hatte 1878 anlässlich seines Rombesuches von Papst Pius IX. Reliquien der Märtyrerin Prudentia überreicht bekommen. Diese waren bereits 1672 feierlich aus ihrer Grabstätte in der Praetextatus-Katakombe an der alten Via Appia entnommen und in den Vatikan gebracht worden. Sie bestanden aus den Gebeinen, einem Fläschchen Blut und einer Inschriftplatte mit der Märtyrerpalme. Wie die meisten Gräber in der Praetextatus-Katakombe wird auch das der Prudentia der frühchristlichen Zeit zuzuordnen sein.

Am 24. Juli 1881 erfolgten die feierliche Überführung dieser neuen Reliquien nach Beckum und ihre Einbettung in den romanischen Schrein, der seit diesem Tag den Namen Prudentiaschrein trägt. Zur Erinnerung an dieses Ereignis beging die Pfarre früher alljährlich vom dritten bis vierten Sonntag im Juli eine besondere Festwoche, die sog. Prudentia-Oktav. Bemerkenswert ist, dass Bischof Johann Bernhard der Reliquienüberführung in der Kulturkampfzeit nicht beiwohnen konnte, da er sich in Holland in der Verbannung befand. Auch die Beckumer Pfarrstelle war von 1875-1885 vakant.

Abb. 3: Auf Wolken schwebender Engel, darüber eine sog. Alsengemme (8./9. Jh.) (Foto: S. Kube)

Die Kirchenchronik berichtet über die feierlich begangene Überführung:
In demselben befinden sich die Reliquien der heiligen Märtyrerin Prudentia, welche im Jahre 1878 unserem hochwürdigsten Bischof Johann Bernard bei seiner Anwesenheit in Rom für die Kirche in Beckum geschenkt wurde. Diese Reliquien der heiligen Märyrerin Prudentia wurden von Monsignore de Montel für 400 Mark nach Münster geschickt und 1881 feierlich von Herrn General = Vikar Prälat Dr. Giese nebst Gefolge nach Beckum überbracht.
Am Bahnhof hielt Prälat Giese vor einer Versammlung von 5.000 Menschen eine herrliche Rede, legte die Reliquien in den Schrein ("Bäckerkasten"), der dann von sechs zu Beckum gehörenden Geistlichen getragen, prozessionaliter in die Kirche gebracht und unter dem Hochaltar deponiert wurde.

Die landläufige Bezeichnung "Bäckerkasten"
war entstanden, weil von allen Beckumer Zünften, Ämtern und Bruderschaften nur die Bäcker das Privileg besaßen, den Schrein bei den großen Prozessionen tragen zu dürfen. Dies war eine Ehre, die wahrscheinlich daraus entstanden war, dass die Bäcker seinerzeit den größten finanziellen Beitrag zum Bau des kostbaren Schreines geleistet hatten.

Dieser besteht aus einem mit Silberblech überzogenem Eichenholzkern von 102,5 cm Länge, 41,5 cm Breite und 69,5 cm Höhe. Mit Ausnahme des Daches und der Sockelschrägen wurde das Silberblech vergoldet. Auch die Figuren besitzen einen Eichenholzkern, der mit getriebenem und vergoldetem Silberblech bekleidet ist. Insgesamt wurden 180 kostbare Edelsteine am Schrein angebracht. Sie wurden in der sog. Cabochon-Form halbrund geschliffen, um die feurige Glut der Farben besser zum Ausdruck zu bringen. Die Steine wurden erhaben gefasst, so dass das Licht sie auch von unten durchscheinen kann. An einem der Giebelfirste befindet sich eine Gemme des 8./9. Jh.s. Sie ist mit drei Strichfiguren und einem Stern verziert, eine reduzierte Darstellung der Drei Weisen.

Abb. 4: Apostelfigur der Längsseite (Foto: S. Kube)

Grazile Doppelsäulen gliedern die Seitenwände des Schreines in je sechs Nischen an den Längsseiten und je zwei an den Stirnseiten. Sie enthalten den thronenden Christus, die thronende Muttergottes mit Kind, eine Verkündigungsdarstellung sowie die 12 Apostel. Von ihnen können Johannes und Paulus (mit Schwert) links und rechts von Christus und Jakobus (mit Pilgermuschel) identifiziert werden. Große kleeblattförmige Arkaden mit zierlich gewundenem Filigran rahmen die Köpfe der heiligen Gestalten. Die Gewandfaltelung lässt einen Älteren, noch nach romanischen Stilformen arbeitenden Meister und einen jüngeren, bereits mit gotischem Stilempfinden Schaffenden erkennen. Dem dritten Goldschmied oblag vermutlich die architektonische Gliederung und die Dekoration des Schreines.

Mit diesem prachtvollen Zierrat versehen, waren die Goldschreine dieser Zeit ein Abbild des Himmlischen Jerusalems, wie es in der Geheimen Offenbarung des Johannes beschrieben wird als eine Stadt, deren 12 Grundsteine geschmückt sind mit Edelsteinen aller Art entsprechend der Anzahl der 12 Apostel.

Als 1903 in Beckum die neue Höhere Mädchenschule gegründet wurde, erhielt sie in Anlehnung an den Goldschrein den Namen Prudentiaschule (heute Volkshochschule Beckum-Wadersloh). Im Jahre 2006 jährte sich zum 125. Mal die Überführung der Prudentia-Reliquien. Aus diesem Anlass veröffentlichte das Stadtmuseum im Herbst 2007 eine umfangreiche monografische Untersuchung über den größten romanischen Goldschrein Westfalens.

Beitrag als PDF-Datei ansehen/speichern (Größe: 4,3 MB)

↑ Zum Seitenanfang


Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007