"Westfalen im Bild" - Texte

Killing, Anke
Friedrich Harkort
Münster, 1993



"Mich hat die Natur zum Anregen geschaffen, das Ausbeuten muß ich anderen überlassen."
(Friedrich Harkort)

Einleitung

Die Erinnerung an Friedrich Harkort (1793-1880) ist heute noch weit über seine engere Heimat - die ehemalige Grafschaft Mark - hinaus lebendig. Harkorts wirtschaftliches, politisches und sozialpolitisches Denken und Handeln war eingebettet in die Zeit zwischen der Französischen Revolution und der Gründung des Deutschen Reiches, in der die traditionelle Agrar- und Adelsgesellschaft allmählich ihre Auflösung erfuhr und die Schwelle zur modernen Welt überschritten wurde. Harkorts Wirken beschränkte sich nicht nur auf seine herausragende Vordenkerrolle bei der beginnenden Industrialisierung Westfalens: In seiner Laufbahn als Politiker und vor allem als sozialpolitischer Publizist spiegeln sich die Spannungen einer Gesellschaft wider, die zwischen Restauration und Reform, Legitimität und Revolution, monarchischer Autorität und Volkssouveränität ihren Weg suchte. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs, an deren Ende die schrittweise Durchsetzung und Ausformung einer liberal-kapitalistischen Gesellschaft stand.

Die wirtschaftliche Entwicklung Europas stand im 19. Jahrhundert im Zeichen der "Industriellen Revolution", die zu einer bis dahin ungekannten Umwälzung der Lebens- und Produktionsbedingungen führte. Von England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgehend, erreichte die Industrialisierung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Belgien, die Niederlande, Frankreich und die Schweiz, in der Mitte des Jahrhunderts Deutschland und seit dem letzten Drittel Schweden, Italien, Rußland und das übrige Europa. Der Prozeß der Industrialisierung war unterteilt in mehrere Phasen, die sich wechselseitig bedingten und förderten. Am Anfang stand die Technisierung der Produktion, d.h. die Mechanisierung der Textilherstellung und die Ausnutzung der Kohle zur Erzeugung von Dampfkraft. Die alten Produktions- und Verteilungsmethoden wie Handwerk, Manufaktur und Verlagssystem erwiesen sich mit fortschreitender Entwicklung der maschinellen Fertigung und dem Fabriksystem unterlegen und verloren an Bedeutung oder hörten ganz auf zu existieren. In einer zweiten Phase wurde das Verkehrswesen technisiert, was sich vor allem am Bau der Eisenbahn und am Aufkommen der Dampfschiffahrt festmachen läßt. Daneben wurde die Industrialisierung durch infrastrukturelle Maßnahmen gefördert wie den Bau von Straßen und Kanälen. Der auf diese Weise verbesserte Zugang zu den Rohstoffen sowie zu den Märkten führte in der letzten Phase der Industrialisierung zu einer ungeahnten Ausweitung der Produktion, zum weltweiten Austausch von Gütern, zu neuen Formen des Industriebetriebs und der geschäftlichen Organisation.

Friedrich Harkort gehörte mit der Gründung der "Mechanischen Werkstätte" in Wetter an der Ruhr Anfang der 1820er Jahre zu den Industriepionieren Westfalens. Neben dem Bau von Dampf- und anderen Maschinen befaßte er sich auch mit neuen Produktionsvorgängen. So führte er 1826 das Puddelverfahren in seinem nach englischen Vorbildern gebauten Puddel- und Walzwerk ein und versuchte 1829 als erster Industrieller in Westfalen einen Hochofen anstelle von Holzkohle mit Koks zu beschicken. Beide Verfahren erwiesen sich für ihn als zu kostspielig, doch bereiteten sie den Boden für deren weitere Ausbreitung in Deutschland. Intensiv beschäftigte sich Harkort auch mit der innerbetrieblichen Organisation von Arbeit und Arbeitskräften und befürwortete zudem neue Formen industrieller Ausbildung, eine zukunftsweisende Überlegung, die auch in seinen sozialpolitischen Schriften der 40er Jahre einen hohen Stellenwert einnehmen sollte.

Bereits Mitte der 20er Jahre machte sich Harkort - angeregt durch das englische und amerikanische Vorbild - für den Bau von Eisenbahnen stark, deren wirtschaftliche Vorteile er klar erkannte:
"Eine Maschine von 8 Pferde Kraft würde innerhalb 3 Stunden 1000 Scheffel Kohle von Steele nach dem Rheine schaffen (...). Die sämmtlichen Ruhr-Zechen erhielten durch eine Eisenbahn den unschätzbaren Vortheil eines raschen, regelmäßigen Absatzes unter großen Frachtersparungen. Innerhalb 10 Stunden könnten 1000 Centner von Duisburg nach Arnheim geschafft werden; die Beurtschiffer liegen allein 8 Tage in Ladung." [1]

Neben Friedrich List entwickelte sich Harkort zu einem der eifrigsten Propagandisten des neuen Verkehrsmittels. Ebenso versuchte er gut zehn Jahre später seine Umwelt durch eigene aufsehenerregende Projekte von dem Nutzen der Dampfschiffahrt zu überzeugen. Auch als Politiker bewies Friedrich Harkort später immer wieder seine Kompetenz in verkehrs- und wirtschaftspolitischen Fragen.

Die ersten anderthalb Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts brachten in Deutschland als Folge der Französischen Revolution und der sich anschließenden Napoleonischen Ära bedeutende Zäsuren. Das seit dem Mittelalter gewachsene Territorialgefüge wurde unter dem Druck Frankreichs 1803 durch die "Säkularisation" - die Aufhebung aller geistlichen Territorien und deren Übertragung an weltliche Reichsstände - und die 1806 durchgeführte "Mediatisierung" - die Beseitigung der kleinen Reichsstände zugunsten der Mittelstaaten - grundlegend umgewandelt. Entscheidender aber als diese äußere Umgestaltung waren die wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen, die in den meisten deutschen Staaten unter dem direkten oder indirekten Einfluß des nachrevolutionären Frankreich vorgenommen wurden, und die die Grundlage für den Übergang der alten Ordnung in die Moderne bildeten.

Auch in Preußen hatte die Konfrontation mit Frankreich die strukturellen Schwächen des Staates deutlich gemacht, vor allem die fehlende Identifikation der Untertanen mit dem Staat. Schon vor dem militärischen und politischen Zusammenbruch Preußens in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 hatten leitende Beamte das absolutistische Staatssystem kritisiert, und nach dessen offensichtlichen Bankrott konnten sich zuerst einmal die Reformkräfte durchsetzen. Führend war zunächst Karl vom Stein (1757-1831), der in Westfalen bereits Formen ständischer Selbstverwaltung eingeführt hatte. Über das Ziel der Reformen äußerte sich Stein im November 1808 folgendermaßen:
"Es kam darauf an, die Disharmonie, die im Volke Statt findet, aufzuheben, den Kampf der Stände unter sich, der uns unglücklich machte, zu vernichten, gesetzlich die Möglichkeit aufzustellen, dass jeder im Volke seine Kräfte frei in moralischer Richtung entwickeln könne, und auf solche Weise das Volk zu nöthigen, König und Vaterland dergestalt zu lieben, dass es Gut und Leben ihnen gern zum Opfer bringe." [2]

Verwirklicht wurden Steins Reformpläne nach dessen Absetzung seit 1810 durch den preußischen Staatskanzler Karl August von Hardenberg (1750-1822). Den Anfang machte man mit Sozialreformen zum Abbau von Standesschranken; 1807 wurde ein erstes Edikt zur Bauernbefreiung und 1808 eine neue Städteordnung, die die Selbstverwaltung der Besitzbürger durch gewählte Stadtverordnete zum Inhalt hatte, erlassen. 1810 folgte die beschränkte Gewerbefreiheit und 1812 die rechtliche Gleichstellung der Juden. Weitere wesentliche Schwerpunkte waren die Neuorganisation der Verwaltung durch die Trennung von der Justiz und die Einrichtung von Fachministerien, die Reform des Bildungswesens unter Wilhelm von Humboldt (1767-1835) sowie die Heeresreform unter General von Schamhorst (1755-1813) und Graf von Gneisenau (1760-1831).

Begünstigt durch die Kräfte, die die Französische Revolution in Europa freigesetzt hatte, veränderte die Reformpolitik nachhaltig die politische Atmosphäre in Preußen. Ein neues staatsbürgerliches Bewußtsein durchdrang die Gesellschaft, und vor allem die bürgerlichen Kreise entwickelten ein Gefühl der Verantwortung für den Staat, das allmählich auch einen Anspruch auf politische Mitarbeit und Führung wachsen ließ. Auch Friedrich Harkort, dessen Familie zur gesellschaftlich führenden Schicht der Mark gehörte, war von dieser bürgerlichen Gesinnung erfüllt.

In den Befreiungskriegen (1813-1815) bewährte sich diese neue Verbundenheit dem Staat. Die dem Aufruf zur Bildung von Freiwilligenverbänden folgende spontane Erhebung erfaßte alle Schichten des Volkes. Für Harkort war die aktive Teilnahme an diesen Kriegen ein entscheidendes Grunderlebnis, das den Hintergrund für die Entwicklung und die Entscheidungen seiner späteren Laufbahn als Politiker bildete.

Auf dem Wiener Kongreß (1814/15) wurde das Gleichgewicht der fünf europäischen Großmächte wiederhergestellt. An die Stelle des früheren Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation trat nun der Deutsche Bund unter der Leitung Österreichs, der sich aus 37 souveränen Staaten und vier freien Städten zusammensetzte. Bürgerlich-liberale Forderungen nach Verfassungs- und Rechtsreformen wie Schwurgerichte und Pressefreiheit sowie nach Sozialreformen wurden nur in Ansätzen erfüllt und der Deutsche Bund konsequent zur Unterdrückung nationaler und liberaler Bewegungen eingesetzt. Lediglich die ehemaligen Rheinbundfürsten gewährten nach französischem Muster Verfassungen - konstitutionelle Monarchien entstanden in Nassau 1814, Sachsen-Weimar 1816, Bayern und Baden 1818, Württemberg 1819 und Hessen-Darmstadt 1820 -, die eine beschränkte politische Mitwirkung des Volkes ermöglichten.

In Preußen stand die politische Führung vor dem Problem, daß die Befreiungskriege große Teile der bürgerlichen Intelligenz mobilisiert hatten, die nach nationaler Einheit verlangte und die preußische Reformpolitik unmittelbar zu beeinflussen suchte. Auf dem Wiener Kongreß waren Preußen die Provinzen Rheinland und Westfalen zugesprochen worden, die sich wirtschaftlich und konfessionell deutlich von den ostelbischen Provinzen abhoben. Vor allem im Rheinland mit seinem traditionsreichen und selbstbewußten Bürgertum waren die Errungenschaften der Französischen Revolution tief verwurzelt, und es entstand dort eine aktive Verfassungsbewegung. Trotz des in Artikel 13 der Bundesakte verankerten Versprechens der Einführung "landständischer Verfassungen", wurde dies in Preußen nicht erfüllt, im Gegenteil, die Regierung vollzog eine reaktionäre Wende gegen die Reformpolitik und weitergehende Absichten Hardenbergs. Damit war die Liberalisierung Preußens erst einmal gescheitert.

Nach den Befreiungskriegen begann auch Harkort sich politisch zu Wort zu melden. Zunächst betätigte er sich als eifriger Mitarbeiter beim "Westfälischen Anzeiger" Arnold Mallinckrodts und dem 1814 in Hagen gegründeten "Hermann". Neben der Erörterung von wirtschafts- und kommunalpolitischen Fragen befaßte er sich auch mit dem nicht eingelösten Verfassungsversprechen. Da eine offene Diskussion über dieses Thema wegen der Zensur unmöglich war, behandelte Harkort es in verdeckter Form, indem er einen Artikel "Über die Ausbildung der englischen Verfassung" schrieb und deren Vorzüge - die Verantwortlichkeit der Minister vor dem Parlament sowie die Freiheit der Person, des Eigentums und der Rede - hervorhob. Der Familientradition folgend, die als wirtschaftliche Führungsschicht des auf dem Land ansässigen Bürgertums auch die politische Verantwortung in Gemeinde und Kreis beanspruchte, ließ sich Harkort zum ehrenamtlichen Beigeordneten der Gemeinde Herdecke wählen; 1828 wurde er Kreistagsabgeordneter, 1835 erfolgte seine Wiederwahl.

Harkorts politische und parlamentarische Lehrzeit und zugleich der Auftakt seines überörtlichen Wirkens begann mit seiner Teilnahme an den Provinziallandtagen. Als 1823 ein "Allgemeines Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände" von seiten der preußischen Regierung erging - ein erster zaghafter Schritt zur Erfüllung des Verfassungsversprechens - ließ auch Harkort sich zur Wahl aufstellen. Da er 1826 aber die Voraussetzung des zehnjährigen Grundbesitzes noch nicht erfüllte, konnte er erst 1830 in den 3. Westfälischen Provinziallandtag einziehen. Während seiner gesamten Zeit als Landtagsabgeordneter erwies er sich als einer der engagiertesten Parlamentarier und als ein profunder Sachverständiger in allen technischen wie wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen; Fachgebiete, auf denen auch später seine Haupttätigkeit liegen sollte. Hier wird auch seine politische Grundeinstellung deutlich: In den Diskussionen um die Verfassungsfrage zeigte sich Harkort als Befürworter der konstitutionellen Monarchie. Für ihn bewiesen die Leistungen der Bürger in den Befreiungskriegen deren notwendige staatsbürgerliche Reife, die den Anspruch auf verantwortliche Teilhabe am Staat rechtfertigte.

Harkorts Eintreten gegen die Wiedereinführung des westfälischen Anerbenrechts, welches die Zersplitterung des Besitzes verhindern sollte, bezeugt sein aus den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution abgeleitetes liberales Bewußtsein der Freiheit und Gleichheit der Bürger und verdeutlicht zugleich die wirtschaftlich stark unterschiedliche Entwicklung der Provinz und die daraus resultierenden Probleme. Westfalen war einerseits zusammengesetzt aus Gebieten, die ehemals unter geistlicher Herrschaft gestanden hatten und in denen der landständische Adel weiterhin die Spitze der Gesellschaft bildete und die Wirtschaft rein agrarisch orientiert war. Auf der anderen Seite hatte die Förderung der Wirtschaft durch den Staat in den altpreußischen Gebieten - in der Mark, in Minden-Ravensberg und Tecklenburg-Lingen - eine gut ausgebildete Gewerbelandschaft entstehen lassen. Die Wiedereinführung des alten Erbrechts bedeutete für Harkort ein retardierendes Moment, das den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt gefährdete.

Das soziale Dasein der 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts war bestimmt von dem Phänomen eines strukturellen ländlichen Massenelends, dem Pauperismus. Bereits vor der Industrialisierung setzte ein Wandlungsprozeß ein, der mit einer starken Bevölkerungsvermehrung begann. In dem Zeitraum von 1818 bis 1864 erhöhte sich die Bevölkerungszahl der im Deutschen Bund zusammengefaßten Staaten von etwa 30 Millionen auf über 45 Millionen, und allein in Preußen stieg die Einwohnerzahl von 10,4 auf 19,2 Millionen. Bis zur Mitte des Jahrhunderts zeichnete sich aber noch keine entsprechende Ausweitung des Arbeitsplatzangebotes und des Nahrungsspielraumes ab. Viele Zeitgenossen sahen die pessimistische Bevölkerungstheorie des englischen Nationalökonomen Robert Malthus (1766-1834) bestätigt, die von der Neigung der Bevölkerung ausging, sich über das Maß der vorhandenen Subsistenzmittel hinaus zu vermehren. Die Gründe für den Bevölkerungszuwachs lagen im Wandel der Agrarverfassung, der die Massenarbeitslosigkeit vieler klein- und unterbäuerlicher Schichten zur Folge hatte. Gleichzeitig wurde der Niedergang des ländlichen Heim- und Nebengewerbes noch durch die aufkommende Textilindustrie verschärft. In der gewaltsamen Niederschlagung des schlesischen Weberaufstands 1844 durch das preußische Militär erreichte diese Entwicklung einen dramatischen Höhepunkt. Die Massenarmut nahm überall bedrohliche Gestalt an, als in der zweiten Hälfte der 40er Jahre die letzte durch Mißernten und eine Kartoffelkrankheit verursachte Hungerkrise mit einer internationalen Handels- und Wirtschaftskrise zusammenfiel.

Als Ventil für den ländlichen Bevölkerungsdruck erwies sich die Möglichkeit der Auswanderung in die expandierenden Industriegebiete des Rheinlands oder Sachsens. Über Jahrzehnte war eine steigende Tendenz der Verstädterung zu beobachten, die die Entwicklung einer breiten sozialen Unterschicht zur Folge hatte. Die Situation der Arbeiterschaft, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung in den 30er und 40er Jahren ständig anstieg, war zunächst von schlechten Wohnverhältnissen, niedrigen Löhnen und langen Arbeitszeiten, Frauen- und Kinderarbeit sowie sozialer Unruhe bestimmt.

Seit den 40er Jahren wurde der Ruf nach dem sozialen Korrektiv des Staates immer lauter, und die preußische Regierung sah ihre bis dahin unangefochten propagierten liberalen Wirtschaftsprinzipien in Frage gestellt. Vor allem geriet die liberale Forderung nach freier Nutzung der Arbeitskraft zunehmend in Widerstreit zu den Erziehungs- und Wehransprüchen des Staates. Das darin gründende "Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken" vom März 1839 war der Beginn staatlicher Sozialpolitik in Preußen.

Zur gleichen Zeit traten bürgerliche Sozialreformer - die sich aus den Reihen der Unternehmer, Bildungsbürger und höheren Beamten rekrutierten und von denen sich ein großer Teil in dem 1844 in Berlin gegründeten "Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen" zusammenschloß - mit einer Vielzahl von Programmen zur Integration und Absicherung der neuen Unterschichten an die Öffentlichkeit. Besonders im Rheinland und in Westfalen forderten zahlreiche Unternehmer, unter denen sich auch Harkort befand, schon seit den 30er Jahren die Anpassung der Sozialordnung an die neuen Wirtschaftsformen. Entsprechend ihrer Losung "Hilfe zur Selbsthilfe" stellten sie die Gründung von Assoziationen in den Mittelpunkt ihrer Forderungen.

Friedrich Harkort entwickelte das wohl umfassendste sozialpolitische Programm seiner Zeit in Preußen. Er hatte schon während seiner Lehrzeit in den ersten großen Textilfabriken des Wuppertaler Raumes und auf seinen Englandreisen Einblicke in die sozialen Mißstände der Frühindustrialisierung gewinnen können. Anfang der 40er Jahre sah er den gesellschaftlichen Fortschritt durch das Anwachsen des Proletariats ernsthaft gefährdet:
"Jene alten Formen sind gefallen. Die Zeit hat die Sonderinteressen gelöst, die Menschenrechte über die Stände gestellt und redet einer Gleichheit das Wort, die auf Allgemeinheit der Bildung, des Rechts und der Menschenliebe begründet ist: Familie und Staatsbürgertum sind jetzt die Hauptfactoren der Gesellschaft. Von dieser Seite nähert sich die Menschheit ihrem göttlichen Ziele. Dagegen ist die bedrohend wachsende Zahl der Proletarier ein sicheres Zeichen, daß der rechte Weg verfehlt wird, namentlich in den Städten. (...) Ist einmal die Saat der Armuth und des Elends aufgeschossen, dann hilft kein Schwanenorden und kein Almosen mehr, nein, bei der Wurzel fange man an, das Volk will erzogen sein!" [3]

Harkorts Konzept zur Integration der Unterschichten in die Gesellschaft und auch seine Bemühungen um die Ausbildungs- und Schulpolitik in Preußen zeigen ihn als hellsichtigen Zeitgenossen und Querdenker, dessen Ideen bis in die heutige Zeit nachwirken.

Im Kampf um staatliche Einheit und innenpolitische Freiheit war die Revolution von 1848 nach den sozialen und politischen Entwicklungen im Vormärz der Höhepunkt der liberalen und bürgerlichen Bewegung in Deutschland. Nach anfänglichen Erfolgen setzte sich jedoch letztlich die konservative Gegenrevolution durch. Was waren die Gründe für dieses Scheitern? Die Liberalen wie auch die Demokraten verfolgten bei der Durchsetzung ihrer Vorstellungen jeweils eigene Strategien, doch führte weder der liberale Weg allmählicher Veränderung durch einvernehmliche Vereinbarungen mit dem politischen Gegner noch der demokratische der kompromißlosen Konfrontation zum Ziel. Auch gelang es nicht, die bäuerlichen Massen, die den Hauptteil der Bevölkerung stellten, zu mobilisieren. Zwar konnten die Liberalen aufgrund ihrer Legitimation als gewählte Abgeordnete auf eine breite Gefolgschaft in der Bevölkerung rechnen, aber weder in den Einzelstaaten, noch auf nationaler Ebene hatten sie die entscheidenden Machteliten auf ihrer Seite. Die Revolution hatte den Obrigkeitsstaat gewiß schwer erschüttert, aber nicht im Kern getroffen. Die Bürokratie und das Militär, deren soziale Basis im konservativen Adel lag, verhielten sich gegenüber ihren monarchischen Herren loyal, denn durch die Errichtung eines nationaldeutschen Bundesstaates und einen verstärkten Parlamentarismus mußten sie den Verlust ihrer Machtstellung befürchten.

Nach dem Scheitern der Revolution sowie der preußischen Unionspolitik wurde 1851 der Deutsche Bund in seinen alten Formen wiederhergestellt, und die sogenannte Reaktions-Politik setzte sich durch. In Preußen blieb zwar die konstitutionelle Monarchie - wie auch in den anderen deutschen Staaten - bestehen, doch leitete Ministerpräsident Otto von Manteuffel (1805-1882) eine Phase bürokratisch-konservativer Innenpolitik ein, in der die Errungenschaften von 1848/49 eine weitgehende Revision erfuhren.

Ende der 50er Jahre kamen die bürgerlich-liberalen Kräfte, gefördert durch den wirtschaftlichen Aufschwung, wieder stärker zur Geltung. Mit dem Thronwechsel von 1861 und der anschließenden Einberufung eines liberalen Ministeriums begann die "neue Ära", die die Hoffnung des Bürgertums auf eine Liberalisierung des Obrigkeitsstaates und die nationale Einigung Deutschlands wieder wachsen ließ. Als Wilhelm I. indes für seine Pläne zur Heeresreform nicht die notwendige parlamentarische Mehrheit erhielt, berief er Otto von Bismarck (1815-1898) zum Ministerpräsidenten. In den Jahren 1862 bis 1866 regierte Bismarck ohne gesetzmäßig verabschiedetes Budget mit einem von der Verfassung nicht vorgesehenen Notstandsregime. Die Lösung des Konflikts führte zur Spaltung der Liberalen: Während der linke Flügel - die Fortschrittspartei - in der Opposition verblieb und weiterhin an dem Vorrang innerstaatlicher Freiheit vor nationaler Einheit festhielt, beugte sich der rechte Flügel - der 1867 die Nationalliberale Partei gründete - den außenpolitischen Erfolgen Bismarcks und arbeitete später mit ihm zusammen. Doch weder die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 noch die des Deutschen Reiches von 1871 verliehen dem Parlament die von beiden liberalen Richtungen erhofften bürgerlichen Rechte.

Friedrich Harkort trat 1848 der preußischen Nationalversammlung als Abgeordneter des Wahlkreises Hagen bei. Für ihn hatte sich mit der Erfüllung des Verfassungsversprechens durch den preußischen König das wichtigste seiner politischen Ziele erfüllt. Als Gegner der Revolution sah er es nun als seine dringlichste Aufgabe an, die revolutionäre Bewegung in gesetzliche Bahnen umzuleiten. Wie viele Abgeordnete des liberalen Bürgertums war er zunächst der Ansicht, daß seinen Interessen am ehesten durch ein adelig-bürgerliches Bündnis als Grundlage der konstitutionellen Monarchie gedient sei. Doch mit dem reaktionären Umschwung der Regierung sah Harkort sich in seinen Hoffnungen getäuscht und wandte sich immer weiter der Opposition zu. Trotz seiner Wende vom Gegner der Revolution zum Gegner der Regierung blieben die Wähler Harkort bis zum Ende seiner parlamentarischen Laufbahn treu. Die Jahre seines wirtschaftlichen und sozialpolitischen Wirkens, seine Gradlinigkeit und seine Unbeirrbarkeit hatten in der Bevölkerung quer durch alle Schichten ein Vertrauen und eine Achtung wachsen lassen, die ihm trotz mancher Mißerfolge immer erhalten blieben.


[1] Berger, S. 223.
[2] Freiherr vom Stein. Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen, bearb. v. Erich Botzenhart, Bd. 2, Berlin 1937, S. 583.
[3] Harkort, Civilisation, S. 60f.




Westfalen im Bild, Reihe: Persönlichkeiten aus Westfalen, Heft 9