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Presse-Infos | Kultur

Mitteilung vom 24.08.10

Kumpel auf vier Beinen - Grubenpferde im Ruhrbergbau
LWL-Industriemuseum stellt neues Buch über das Leben der Vierbeiner unter Tage vor

Dortmund (lwl). Tobias mochte gerne Butterbrote, Äpfel und gepellte Apfelsinen. Zwölf Jahre lang arbeitete das Grubenpferd als Schlepper auf der Zeche General Blumenthal in Recklinghausen ¿ bis zum 23. Juni 1966. Als der braune Wallach in den Ruhestand ging, wurde er als das letzte bekannte Grubenpferd zu einem echten Medienstar. Nach gut 100 Jahren endete so die Ära der Grubenpferde im Ruhrbergbau. Ein neues Buch, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) am Dienstag (24.8.) in seinem Industriemuseum Zeche Zollern in Dortmund vorstellte, berichtet umfassend über Leben und Arbeit der Grubenpferde: von der Rekrutierung bis zum Gnadenbrot.

Fotos, Zeichnungen, Erinnerungen, Interviewpassagen, Zeitungsberichte, Grafiken und eine Karte veranschaulichen dieses wichtige Kapitel der Bergbaugeschichte. ¿Die Grubenpferde bilden für viele Menschen heute auch eine emotionale Brücke zu einer scheinbar weit zurückliegenden Epoche und zu einer Branche, die den meisten fremd geworden ist¿, erklärte Autorin und Museumsleiterin Dr. Ulrike Gilhaus.

Die Darstellung mit dem Titel ¿Kumpel auf vier Beinen¿ knüpft an die gleichnamige Ausstellung an, die 2005 auf der Zeche Zollern Premiere feierte und später in Bochum sowie in Vreden zu sehen war. Weitere Stationen stehen bevor. ¿Mit Unterstützung des Fördervereins Industriemuseum Zollern, der den Druck finanzierte, konnten wir jetzt die Publikation realisieren¿, freut sich die Museumsleiterin.

Hintergrund
Das Bild vom Grubenpferd, das auf der siebten Sohle schuftete und niemals die Sonne sah, erregt heute vor allem Mitleid. Mitte des 19. Jahrhunderts, als Grubenpferde erstmals im Ruhrbergbau eingesetzt wurden, gab es keine moralisierende Diskussion um ihren Einsatz. Zweckrationale Aspekte gaben den Ausschlag: Pferde erleichterten Menschen durch ihre Zugkraft die Arbeit und steigerten die Produktivität der aufstrebenden Branche. Ulrike Gilhaus: ¿Lediglich Künstler sahen im Grubenpferd schon damals ein Symbol für die von der Industriearbeit geschändete Kreatur.¿ Während ein erwachsener Schlepper nur eine Lore fortbewegte, konnte ein Pferd acht bis zehn Loren ziehen. Zeichnungen aus Bergbaukompendien geben eine Vorstellung von der schieren Plackerei im Bergwerk, bevor das Grubenpferd Einzug hielt.

Seinen Höhepunkt erreichte der Pferdeeinsatz im Untertagebetrieb 1910 mit 8.384 Tieren im Bezirk des Oberbergamtes Dortmund. Nach dem Ersten Weltkrieg ging ihre Zahl mit der einsetzenden Mechanisierung deutlich zurück. Lokomotiven und Förderbänder lösten das Pferd in der Streckenförderung ab. 1950 gab es noch 550 Grubenpferde im Oberbergamtsbezirk. Auf Zollern II/IV ging mit Nurmi 1953 das letzte Grubenpferd in den Ruhestand. Von seinem Arbeitsleben sind zahlreiche Fotos überliefert.

Arbeiten und Leben unter Tage
Grubenpferde gehörten nicht den Zechen, sondern waren Eigentum von Pferdeverleihfirmen, die auch das Futter, Geschirr, Decken und sonstiges Zubehör lieferten. Nach der Anlieferung ging es mit dem Förderkorb unter Tage. Wie lange sie dort blieben, war sehr unterschiedlich. Während es auf den kleinen Stollenzechen kein Problem bereitete, die Pferde täglich auf die Weide zurück zu führen, blieben die vierbeinigen Schlepper auf den großen Schachtanlagen monatelang, manchmal auch jahre- und sogar lebenslang unter Tage. ¿Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wäre der logistische Aufwand, Dutzende von Pferden täglich oder wöchentlich ans Tageslicht zu bringen, zu groß gewesen¿, erklärt die Autorin.
Im Stall unter Tage erholte sich das Grubenpferd von den Strapazen der Schicht. Hier wurde das Tier gestriegelt und gepflegt. In regelmäßigen Abständen kamen Schmied und Tierarzt. Zu den häufigsten Krankheiten zählten Verletzungen der Hufe durch Feuchtigkeit oder scharfe Metallteile und Verdauungsstörungen. Außerdem verletzten sich die Tiere in den oft engen Streckenquer-schnitten leicht an Kopf und Flanken, so dass ihr Körper bald mit Narben und Schwielen übersät war.
Erst seit den 1930er Jahren erregten die Arbeits- und Lebensbedingungen der Grubenpferde die Aufmerksamkeit des internationalen Tierschutzes. Gilhaus: ¿Durch internationale Kampagnen versuchte man, Arbeitsbedingungen und Pflege der Tiere zu verbessern und forderte, auf die Arbeitskraft der Pferde zugunsten von technischen Transportmöglichkeiten ganz zu verzichten. Doch erst die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Bergleute änderte etwas an der traurigen Situation der Grubenpferde. Tierschutz und Arbeitsschutz entwickelten sich gemeinsam zum Positiven.¿
Betriebstechnisch galt das Grubenpferd als ¿Schlepper¿ und wurde auf den Schichtenzetteln auch so geführt. Seine Aufgabe war es, die beladenen und leeren Förderwagen von den Abbaustellen zum Schacht und zurück zu ziehen. Neben der Kohle beförderten die Tiere auch sämtliches Material für den Untertagebetrieb ¿ oft in Doppelschichten. Ihre 400 bis 1500 Meter lange Strecke kannten die vierbeinigen Schlepper zwar ¿blind¿. Dass die meisten Grubenpferde in der ewigen Nacht unter Tage ihr Augenlicht verloren, ist aber ein Vorurteil. Ulrike Gilhaus: ¿Zur Hochzeit des Pferdeeinsatzes gab es auf den Strecken und in den Ställen schon elektrisches Licht. Die Tiere lebten also nicht in vollständiger Dunkelheit. Zeitgenössische Tierärzte bescheinigen, dass ein- oder beiseitige Blindheit überwiegend das Resultat mechanischer Verletzungen war.¿

Mythos Grubenpferd
Unmittelbarer Kamerad des Pferdes war oft ein sehr junger Bergmann. ¿Wer aus der Landwirtschaft kam oder mit Tieren umgehen konnte, bekam vom Steiger die Arbeit des Pferdeführers zugewiesen. Eine Anlernzeit gab es nicht.¿ Seit den 1920er Jahren identifizierten sich die Bergleute immer stärker mit ihren vierbeinigen Kameraden; eine Vermenschlichung setzte in dem Maße ein, wie die Sicht vom Pferd als ¿biologische Maschine¿ nachließ. Die schwere tägliche Anstrengung der Tiere beim Schleppen, vor allem aber ihr Dasein in der Dunkelheit und ihr eintöniges Leben in dem unnatürlichen Lebensraum erregten Mitgefühl und weckten Hilfsbereitschaft. Viele Bergleute verwöhnten ihre Tiere deshalb mit Leckereien.
Seit den 1930er Jahren widmeten Bergleute verstorbenen Grubenpferden symbolische Grabsteine, schrieben Bücher und Gedichte, schnitzten oder malten nach Feierabend Abbilder ihrer tierischen Kameraden.

¿Seppel¿ war das letzte Grubenpferd
Nicht alle wurden übrigens so gebührend verabschiedet wie Tobias in Recklinghausen. Bei den Recherchen zum Buch stellte sich heraus, dass ein Schimmel-Wallach mit Namen Seppel auf der Zeche Lothringen in Bochum-Gerthe noch zwei Monate länger unter Tage rackerte, bevor auch er sein Rentnerdasein in Lüdinghausen begann. Im Gegensatz zu Tobias war Seppel allerdings ein Mauerblümchen; vom ihm gibt es kein Foto. Doch mit ihm endete im August 1966 endgültig die Ära der Grubenpferde im Ruhrbergbau.

Ulrike Gilhaus: Kumpel auf vier Beinen. Grubenpferde im Ruhrbergbau
hg. vom LWL-Industriemuseum, Klartext-Verlag Essen 2010
ISBN 978-3-8375-0211-4, Preis 16,95 Euro
147 Seiten, 110 z.T. farbige Abbildungen, 1 doppelseitige Karte, Diagramme, Tabellen, Quellen


Pressekontakt:
Christiane Spänhoff, LWL-Industriemuseum, Telefon: 0231 6961-127 und Markus Fischer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235
presse@lwl.org



Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.





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