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Presse-Infos | Kultur

Mitteilung vom 12.06.09

Wie das Eis ins Ruhrgebiet kam
LWL-Industriemuseum zeigt ¿Eiskalte Leidenschaft¿ auf der Zeche Hannover

Bochum (lwl). Meist lag noch Schnee im Zoldotal, wenn sich Giovanni Martini wie jedes Jahr im März auf den beschwerlichen Weg von den Dolomiten ins Ruhrgebiet machte. Seinen Eiskarren hatte er in einem Schuppen in Recklinghausen untergestellt. Von 1903 bis 1913 zog der ¿Gelatieri¿ hier jeden Sommer mit der kalten Köstlichkeit durch die Straßen. 100 Jahre später hat das LWL-Industriemuseum den weiß lakierten Holzkarren mit den beiden Silberhauben zurück ins Revier geholt. Er gehört zu den Schmuckstücken der Ausstellung ¿Eiskalte Leidenschaft¿, die der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) vom 14. Juni bis 11. Oktober 2009 in seinem Industriemuseum Zeche Hannover in Bochum zeigt.

Mehr als 150 Exponate machen die Geschichte und Gegenwart italienischen Eismacher im Ruhrgebiet lebendig. Das Spektrum reicht von Fotografien und Dokumenten über historische Utensilien zur Eisherstellung wie ¿Eiskocher¿, Kühlgeräte, Sahnemaschine und Waffeleisen, ein Notizheft mit Eisrezepten, Schalen und Löffel bis hin zur Einrichtung mit Theke, Tisch und Stühlen des Hagener Eiscafés Venezia aus den 1960er Jahren. Zu sehen auch die obligatorische Gardine, die damals in keiner Eisdiele fehlen durfte und Besucher vor allzu neugierigen Blicken auf das ¿dolce vita¿ schützte. Fotografien aus dem Zoldotal und Exponate wie Schlitten, Schneeschuhe, Nägel und Arbeitsgeräte stehen für die ¿Winterheimat¿ der Eismacher in der Region Veneto, unter deren Schirmherrschaft die Ausstellung steht.

¿Eismachen war von Beginn an ein saisonales Gewerbe, das die Familien über Monate auseinanderriss. Die Wintermonate verbrachten und verbringen die meisten Gelatieri bis heute in ihren Heimatdörfern in Italien¿, weiß Historikerin Anne Overbeck vom LWL-Industriemuseum, die die Ausstellung konzipiert hat. So zeugen viele der gezeigten Stücke von einem Leben in zwei Ländern und zwei Kulturen.

Nachdem die Städte im Revier den Straßenverkauf von Eis immer weiter einschränkten, gründeten Italiener in den 1930er und 1940er Jahre die ersten festen Läden. Aus dieser Zeit stammt auch der Name ¿Eisdiele¿. Anne Overbeck: ¿Da sich viele Gelatieri in den Anfängen keine teuren Lokale leisten konnten, meldeten sie ihre Geschäfte in ihren Wohnungen an und verkauften das Eis aus den Fenstern im Erdgeschoss. Damit die Kundschaft an die Öffnung heranreichen konnte, befestigten sie Holzbretter ¿ Dielen ¿ unter den Fenstern.¿ Ein regelrechter Boom der Eisdielen setzte in den1950er Jahren ein. ¿Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und die erste Reisewelle nach Italien kurbelten die Nachfrage an¿, weiß Museumsleiter Dietmar Osses.

Gegenwärtig befindet sich das Eismacherhandwerk im Wandel. Die traditionellen Familienbetriebe leiden unter Nachwuchsmangel und der wachsenden Konkurrenz durch andere Anbieter. Immer mehr Eisdielen bleiben ganzjährig geöffnet, so dass die Tradition der jährlichen Rückkehr nach Italien schwindet. Mittlerweile werden auch etliche ¿italienische Eisdielen¿ nicht mehr von traditi-onsbewussten Eismachern aus dem Zoldo- oder Cadore-Tal betrieben, sondern von Deutschen oder Zuwanderern aus anderen Regionen Europas.

Zur Ausstellung hat das LWL-Industriemuseum mit seinem Projektparnter, der Kölner Agentur ¿fare ¿ event & promotion¿, ein umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Filmen, Führungen und einem Familientag zusammengestellt. Dazu zählt auch eine Tagung zum Thema ¿Eis verbindet? Handwerk und Industrie im Dialog¿ im September in der Industrie- und Handelskammer zu Dort-mund. Das komplette Programm unter http://www.lwl-industriemuseum.de . Die Agentur ¿fare¿ veranstaltet außerdem einen Fotowettbewerb rund um das Thema Eis. Die Siegerbilder werden ab September 2009 in der Stadtsparkasse Bochum ausgestellt. Infos zum Wettbewerb unter http://www.fareonline.de .

Hintergrund: die Aussstellungsthemen

Vom Eisen zum Eis - Die Heimat der Gelatieri

Der Ursprung der italienischen Eismacher liegt in den zwei kleinen Tälern Zoldo und Cadore in den Dolomiten. Seit über 100 Jahren macht sich ein Großteil der Bewohner im Frühjahr auf den Weg in den Norden, um in Deutschland, den Niederlanden, Österreich oder anderen europäischen Staaten als Eismacher zu arbeiten.
Die Saisonarbeit hat in den Dolomiten eine lange Tradition. Jahrzehnte bevor die ersten Eismacher Ende des 19. Jahrhunderts mit ihren Eiskarren in den Norden zogen, verkauften die Männer der Region in den Wintermonaten Maronen oder heiße Birnen in den umliegende Städten Norditaliens. In den Sommermonaten arbeiteten sie in der Landwirtschaft, der Holz- oder der Eisenverarbeitung. Ende des 19. Jahrhunderts zerstörten Unwetter die Holzsägewerke des Tals und der Absatzmarkt für Nägel brach ein. Die Bewohner der Täler entschlossen sich vermehrt zur Auswanderung. Einige gingen nach Lateinamerika oder die USA. Andere entschlossen sich, ihrer Heimat nicht ganz den Rücken zu kehren. Sie arbeiteten nur in den Sommermonaten in den verschiedenen Ländern Eu-ropas und kehrten im Winter nach Hause zurück.

Von Karren und Cafés - Die Anfänge der italienischen Eismacher in Europa
Die Täler Zoldo und Cadore gehörten bis 1866 zum Königreichs Lombardo-Venetien und damit in den Einflussbereich der Habsburger Monarchie. Entsprechend zogen die ersten Eismacher aus den Tälern Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst in die Regionen der Donau-Monarchie, nach Ös-terreich und Ungarn. Von hier aus breiteten sich die italienischen Eismacher im 19. Jahrhundert immer weiter in den Norden und Osten Europas aus. Schon um die Jahrhundertwende zogen die ersten Eiskarren durch die Straßen des Ruhrgebiets, denn die rasant wachsende Industrieregion bot einen interessanten Absatzmarkt für das Speiseeis. Die Eiskarren waren oftmals aufwändig geschmückt und verziert. Bei den Ordnungsbehörden stießen die fahrenden Händler hingegen vielfach auf Skepsis. Ende des 19. Jahrhundert wurde der Eisverkauf aus Karren in Wien für einige Jahre verboten, um die österreichischen Eiskonditoren mit ihren Ladengeschäften vor der mobilen Konkurrenz zu schützen.

Eiszubereitung und Kühltechnik um 1900
Zur Zeit der Jahrhundertwende war die Zubereitung von Speiseeis eine aufwändige und mühsame Arbeit. Viele Eismacher verwendeten für die Herstellung der Eisspezialitäten eine Eismaschine mit Kurbelantrieb. Der Zwischenraum zwischen Bottich und Metallgefäß wurde zur Kühlung mit zerstoßenem Eis gefüllt. Zum Betrieb waren zwei Personen nötig: Während eine den Kurbelantrieb betätigte, strich die zweite Person eine Masse aus Milch, Ei und Zucker gegen die kalten Wände des Bottichs, die innerhalb von gut zwanzig Minuten gefror. Zur Kühlung wurde bis in die 1950er Jahre industriell gefertigtes Stangeneis verwendet. Die Eismacher mussten die großen Eistangen zerkleinern und in die Kühlbehälter füllen. Das zerstoßene Eis wurde zusätzlich mit Salz vermengt, um die Temperatur weiter zu senken.

Aufstieg und Niedergang: Italienische Eisdielen in den 1930er und 1940er Jahren
Getrieben von der wirtschaftlichen Not in den Heimattälern und der Hoffnung auf gute Geschäfte in Deutschland entschlossen sich ab 1930 mehr und mehr Familien sich zur Saisonwanderung. Die politische Nähe zwischen den faschistischen Regimes in Italien und Deutschland begünstigte die Zuwanderung zusätzlich. Bis zum Ersten Weltkrieg waren meist nur die Männer in den Norden ge-zogen. Da sich der Verkauf des Eises nun zunehmend vom Straßengeschäft in feste Eisdielen verlagerte, folgten die Frauen vermehrt ihren Männern und halfen bei der Bewirtschaftung und Bedienung in den Eisdielen. Die Kinder blieben in der Regel bei den Großeltern in Italien.

Das Jahr 1943 beendete die Hochphase der italienischen Eismacher in Deutschland. Nach dem Sturz Mussolinis zerbrach die deutsch-italienische Koalition. Aus Freuden wurden Feinde. Viele Gelatieri verkauften ihre Eisdielen und zogen sich nach Italien zurück. Während der Bombenangrif-fe auf die Städte des Ruhrgebiets wurden in den letzten Kriegsjahren zahlreiche Eisdielen zerstört.

Zwischen Eispalästen und Arbeiterbaracken ¿ Italienische Eiscafés in den 1950ern und 1960ern
Bereits wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrten die italienischen Eismacher nach Deutschland zurück und nahmen in den weitgehend zerstörten Städten des Ruhrgebiets wieder ihr Handwerk auf. Die ersten Eisdielen entstanden in provisorischen Baracken. Aufgrund der Lebensmittelknappheit hatten viele Eisdielen zunächst nur wenige Stunden am Tag geöffnet und schlossen, sobald das letzte Eis verkauft war.

Die 1950er und 1960er Jahre entwickelten sich zur Hochphase der italienischen Eisdielen in Deutschland. Wiederaufbau und Wirtschaftswunder kurbelten die Nachfrage an. Viele Eisdielen wurden mit modernster Ausstattung neu eröffnet. Allein in Dortmund gab es Mitte der 1960er Jahre über 30 italienische Eisdielen. Mit der Verbindung von italienischem Flair und modernem Design entsprachen sie dem Zeitgeist und wurden vor allem bei Jugendlichen zu gesuchten Treffpunkten. In Schlagern und Filmen dieser Zeit war Italien ein beliebtes Thema und der erste Auslandsurlaub führte für viele Deutsche nach Italien. Die italienischen Eisdielen brachten den Urlaub vor die eigene Haustür.

Gekocht und gekühlt: Die Herstellung des Speiseeises
Eis wird gekocht. So lautet zumindest der Sprachgebrauch der Eismacher. Tatsächlich werden die Grundzutaten des Speiseeises - Eier, Zucker und Milch ¿ vermischt und zunächst auf 85 Grad er-hitzt, bevor die Gelatieri sie dann auf Gefriertemperatur herunterkühlen. Zusätzlich werden entsprechend der gewünschten Geschmacksrichtung, Fruchtsäfte, Gewürzmittel oder Geschmacks-stoffe in die Eismasse gemischt.

Trotz mancherlei Erleichterung blieb die Eisherstellung auch nach der Einführung elektrisch betriebener Eismaschinen in den 1950er Jahren eine anstrengende Tätigkeit. Das Schleppen der schweren Zuckersäcke, vor allem aber das Herausholen der fertigen Eismasse aus dem Bottich war sehr beschwerlich. Erst in den 1970er Jahren brachten elektrische Mixer weitere Erleichterungen. Bis in die 1950er Jahren boten die meisten Eisdielen in Deutschland nur bis zu fünf verschiedenen Sorten an: Vanille, Erdbeere, Schokolade, Zitrone und Mokka. Nach und nach passten sich die italienischen Eismacher den Bedürfnissen ihrer deutschen Kundschaft an. Heute haben viele Eisdielen über 30 verschiedene Geschmacksrichtungen in ihrem Sortiment.

Sommerheimat, Winterheimat ¿ Familienbetrieb Eisdiele
Während in den Anfängen die jungen Männer noch allein ins Ausland gingen und die Frauen in Italien mit den Kindern zurückblieben, war es spätestens in den 1950er Jahren üblich, dass die Ehefrauen ebenfalls mit nach Norden reisten. Dies stellte die Familien vor besondere Herausforderungen. Die Kinder blieben bei den Großeltern in Italien oder besuchten ein Internat. In den Mona-ten der Trennung blieben die Familien per Brief und ¿ später - per Telefon miteinander in Kontakt. Bis in die 1970er Jahre gab es bei weitem nicht in allen Haushalten der Täler in den Dolomiten einen Telefonanschluss. Telefoniert wurde auf der Post oder in den Gastwirtschaften der Dörfer.

Sobald die Tage kürzer und das Wetter kälter wurde, schlossen die Gelatieri ihre Eisdielen oder verpachteten sie an andere Geschäftsleute. Spätestens Ende November zur großen Fachmesse in Longarone am Fuße des Zoldo-Tals kehrten die Eismacherfamilien in ihre Täler zurück. Die Kinder konnten Zeit mit den Eltern verbringen und diese nutzten die Zeit, um zu entspannen. Denn in den Sommermonaten arbeiteten die Gelatieri in der Regel an sieben Tagen in der Woche, oft mehr als zwölf Stunden am Tag.

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Eiskalte Leidenschaft. Italienische Eismacher im Ruhrgebiet. Anne Overbeck und Dietmar Osses (Hg.), LWL-Industriemuseum, Klartext-Verlag Essen 2009, 146 S., ISBN 978-3-8375-0091-2, 19,95 ¿

Eiskalte Leidenschaft
Italienische Eismacher im Ruhrgebiet

LWL-Industriemuseum Zeche Hannover
Günnigfelder Straße 251, 44793 Bochum
www.lwl-industriemuseum.de
Geöffnet: Mi - Sa, 14 - 18 Uhr, So 11 - 18 Uhr

Pressekontakt:
Christiane Spänhoff, LWL-Industriemuseum, Telefon: 0231 6961-127 und Markus Fischer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235
presse@lwl.org



Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.



Foto zur Mitteilung
Mariateresa Majer vom Eiscacafé Majer an der Lindemannstraße in Dortmund.
Foto: LWL/Hudemann


Foto zur Mitteilung
Die Traditions-Eisdiele De Lorenzo in Witten in den 1960er Jahren.
Foto: privat


Foto zur Mitteilung
Anne Overbeck vor dem Eiskarren von Giovanni Martini, mit dem der Italiener Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Straßen Recklinghausens zog.
Foto: LWL/Hudemann


Foto zur Mitteilung
Giovanni Martini mit seinem Eiskarren auf den Straßen Recklinghausens, um 1910.
Repro: Angelo Martini



Die gezeigten Fotos stehen im Presseforum des Landschaftsverbandes zum Download bereit.



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