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Presse-Infos | Der LWL

Mitteilung vom 30.06.05

Von einem, der mitgemacht hat ¿ Neues Zeitzeugenporträt des Westfälischen Landesmedienzentrums

Witten (lwl). ¿Zeitzeugen schlagen gerade für junge Menschen eine Brücke in die Vergangenheit. Ihre Erinnerungen schaffen einen anschaulichen und authentischen Zugang zur Geschichte. Für Walter Baltes gilt dies in ganz besonderer Weise¿, mit diesen Worten begrüßte Dr. Markus Köster, Leiter des Landesmedienzentrums des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, am Donnerstag (30.06.) das Premierenpublikum des Films ¿Von einem, der mitgemacht hat ¿ Eine Jugend unter Hitler¿. Vor 150 Oberstufenschülern und Gästen hat der LWL den Film im Albert-Martmöller-Gymnasium der Stadt Witten (Kreis Ennepe-Ruhr-Kreis) erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.

Der von Beate Becker realisierte Film, der vierte in der Reihe der Zeitzeugenporträts des LWL-Landesmedienzentrums, porträtiert mit Walter Baltes einen Mann, dessen Jugenderinnerungen exemplarisch für die Erfahrungen der Hitler-Jugend (HJ) und der Wehrmachtsgeneration stehen. Baltes wurde 1918, wenige Monate vor Ende des Ersten Weltkriegs, im damals noch selbständigen Annen bei Witten an der Ruhr geboren. Sein Heimatort ist ein typisches Industriedorf des Ruhrgebiets. Die Verhältnisse im Haus Baltes sind äußerst bescheiden und gleichen damit denen vieler anderer Arbeiterhaushalte in jener Zeit: Es gibt keinen Strom, kein elektrisches Licht, kein fließendes Wasser in der Wohnung. Auf dem Speiseplan stehen fast immer Bratkartoffeln, Brot und Malzkaffee. Seine Mutter ist eine fromme Protestantin, sein Stiefvater, von Beruf Bergmann, hingegen Sozialdemokrat und Freidenker.

1929, mit Beginn der Weltwirtschaftskrise, wird der Vater arbeitslos und bleibt es bis 1933. Mühsam schlägt er sich als Hausierer durch, ansonsten lebt die Familie ¿von der Wohlfahrt¿. Als Hitler 1933 an die Macht kommt, findet der Vater wieder Arbeit ¿ als Hauer auf einer Zeche. ¿Papa hatte wieder Arbeit, wir konnten von heute auf morgen wieder alles kaufen¿, erinnert sich Walter Baltes.

Er selbst, damals 15 Jahre alt und bis dahin Mitglied bei den sozialdemokratischen ¿Roten Falken¿, wird noch im gleichen Jahr ¿mit Begeisterung¿ Hitlerjunge. Dabei reizen ihn weniger Lagerfeuerromantik und Geländespiele als die Karrieremöglichkeiten, die die NS-Jugendorganisation bietet. Als gelernter Handelsgehilfe steigt er in der Hitlerjugend rasch zum kleinen Funktionär auf: er arbeitet in der Geschäftsstelle des HJ-Banners Witten. Das hält ihn bemerkenswerter Weise aber nicht davon ab, auch weiterhin jüdische Jugendliche zu seinen Freunden zu zählen. Umgekehrt führt die zunehmende staatliche und gesellschaftliche Diskriminierung dieser Freunde bei ihm aber auch noch nicht zu einer generellen Infragestellung der NS-Ideologie.

Als die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfällt, meldet sich Baltes als Offiziersanwärter zur Luftwaffe. Früh erfährt er von den Massenmorden an Juden. Doch erst ganz allmählich leiten grauenvolle Kriegserlebnisse einen mentalen Bruch mit dem Hitler-Regime ein. Am Ende ist er den Krieg ¿einfach leid¿. Im März 1945 setzt er sich mit einem gefälschten Krankenschein von der Ostfront in Pommern nach Hannover ab. Als Schiffer verkleidet, entgeht er der Kriegsgefangenschaft, schlägt sich in die Heimat durch und kommt am 6. Mai 1945 wieder in Witten an.

Ein Jahr nach Kriegsende tritt er in die SPD ein, Endergebnis eines politischen Umdenkprozesses, der ihn vom überzeugten Hitlerjungen und Wehrmachtssoldaten zum Gegner von Krieg und Faschismus gemacht hat. Sein beruflicher Werdegang nach dem Krieg ist bunt: Er arbeitet als Bühnenbildner und Karikaturist, ist Bevollmächtigter einer englischen Großverzinkerei in Deutschland, wird Kunsthändler und Galerist und macht sich als Sportreporter und Autor heimatgeschichtlicher Kurzgeschichten einen Namen.

Mit über 80 Jahren wird Walter Baltes dann noch einmal politisch aktiv: Anfang 2001 initiiert er an den Schulen des Ennepe-Ruhr-Kreises die ¿Aktion GoldRegenbogenband¿ als sichtbares Zeichen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Resonanz übertrifft alle Erwartungen: Über 10.000 Schüler nehmen an der Initiative teil. Baltes beginnt vor Schulen über seine Erfahrungen in der NS-Diktatur und im Zweiten Weltkrieg zu berichten. Ein ¿Geschichtsunterricht¿ ganz anderer Art, der ihn inzwischen in zahlreiche Schulen der näheren und weiteren Umgebung Wittens geführt hat. ¿Seid politische Menschen, denkt politisch und sorgt dafür, dass das Ganze nicht noch einmal pas-siert¿, diese Botschaft gibt er den Jugendlichen mit auf den Weg.

Im Auftrag des LWL-Landesmedienzentrums hat Beate Becker die Jugenderinnerungen vom Walter Baltes in ein Filmporträt für die Bildungsarbeit umgesetzt. ¿Zeitzeugenberichte können das Büffeln von Daten und Fakten nicht ersetzen, aber sie bieten die Chance, abstrakte Geschichte anhand eines einzelnen Lebens begreifbar zu machen,¿ erläutert Köster die Intention des Films. Es sei wichtig, Schülern nicht nur die Verbrechen des ¿Dritten Reiches` vor Augen zu führen, sondern sie auch für die Mechanismen der Verführung zu sensibilisieren, mit denen das Hitler-Regime gerade damals junge Menschen für sich gewann. ¿Nur so können wir sie gegen das Manipulationspotenzial antidemokratischer Ideologien immunisieren. Walter Baltes ist als Zeitzeuge ein Glücksfall, weil er sowohl die Faszination des Nationalsozialismus wie dessen furchtbare Konsequenzen überzeugend vermitteln kann¿, ergänzt der Leiter des Westfälischen Landesmedienzentrums.

Der als DVD produzierte Film kann beim Westfälischen Landesmedienzentrum (medienzent-rum@lwl.org, Tel.: 0251/591-3902) zum Preis von 14,90 Euro zuzüglich 2,60 Euro Versandkosten (ohne die Lizenz zur öffentlichen Vorführung und zum Verleih) bzw. 45 Euro (mit der Lizenz zur nichtgewerblichen öffentlichen Vorführung und zum nichtgewerblichen Verleih) erworben werden.

Pressekontakt:
Markus Fischer, Tel. 0251 591-235
presse@lwl.org



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Foto zur Mitteilung
Walter Baltes als Wehrmachtssoldat.
Repro: LWL

Foto zur Mitteilung
Walter Baltes im Februar 2005 auf dem Soldatenfriedhof im niederländischen Venray.
Foto: LWL

Foto zur Mitteilung
Walter Baltes als Einjähriger mit seiner Mutter.
Repro: LWL


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