Für die Menschen, für Westfalen-Lippe
Logo des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe

Landschaftsverband Westfalen-Lippe
https://www.lwl.org

URL dieser Seite: https://www.lwl.org/pm13351



Presse-Infos | Der LWL

Mitteilung vom 02.01.03

100 Gramm Brot und 12 Stunden Arbeit
Gemeinsame Ausstellung von LWL und Stadt: Zwangsarbeit in Hattingen


Hattingen (lwl). ¿Wir arbeiteten zu dritt bei der Rangierlokomotive: ein Franzose, ein Deutscher und ich. Der Deutsche sagte uns, was wir machen sollten. Der Franzose konnte Deutsch, er übersetzte für mich. Es gab viel zu tun, und dieser Deutsche trieb mich viel. Der Franzose sah, dass ich keine Kräfte hatte, ich arbeitete doch 12 Stunden, er verteidigte mich etwas. Morgens bekamen wir Brühsuppe und 100 Gramm Brot,
die nächste Mahlzeit gab es erst abends. Ich weiß nicht, wie viele von uns am Leben geblieben wären, wenn wir dort länger geblieben wären.¿

16 Jahre alt war Viktor Babenko, als er 1942 von den deutschen Besatzern nach Hattingen verschleppt wurde. Der Mann aus der Ukraine gehört zum Heer der 4.200 Zwangs- und Fremdarbeiter, die im Zweiten Weltkrieg die Rüstungsproduktion der Henrichshütte aufrecht erhielten. Fast die Hälfte der Belegschaft bestand damals aus Ausländern. Frauen und Männer aus Frankreich, Belgien und Holland, aus Polen, Serbien und Tschechien schuffteten in den Betrieben der Hütte bis zu 70 Stunden pro Woche, um Granathülsen, Panzergehäuse und Geschützrohre für den Krieg gegen ihre eigene Heimat herzustellen.

Je nach Herkunft war ihnen dabei ein unterschiedliches Maß an Freiheit und Lebensstatus beschieden. Viktor Babenko gehörte zur größten und nach der NS-Ideologie minderwertigsten Gruppe der Ostarbeiter. Untergebracht in primitiven Lagern, versorgt mit Lebensmittelrationen am Existenzminimum, der Willkür ihrer deutschen Vorgesetzten ausgesetzt, fristeten sie ihr Dasein bis zu Befreiung Hattingens durch die Amerikaner am 15. April 1945.
58 Jahre später holt eine gemeinsame Ausstellung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), Träger des heutigen Industriemuseums, und der Stadt Hattingen das Thema ans Tageslicht. ¿Zwangsarbeit in Hattingen¿ (15. April bis 27. Juli 2003) stellt Menschen, Motive und Einzelschicksale in den Mittelpunkt. Während es im Stadtmuseum vor allem um das Lagerleben geht, inszeniert das Westfälischen Industriemuseum das konkrete Beispiel Zwangsarbeit im Rüstungsbetrieb Henrichshütte aus zwei Perspektiven. ¿Wir wollen einerseits die Sicht der Deutschen zeigen, ihre individuellen Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund der NS-Ideologie. Auf der Gegenseite bringen wir die leidvollen Lebenserfahrung der Zwangsarbeiter ins Bewusstsein¿, erzählt Anja Kuhn, wissenschaftliche Referentin am Westfälischen Industriemuseum.

Basis der Ausstellung bilden die Recherchen von Stadtarchivar Thomas Weiß, der dem Thema Zwangsarbeit in Hattingen seit vier Jahren auf der Spur ist. Jüngere Erkenntnisse aus dem Konzernarchiv von Thyssen-Krupp lieferten weitere wichtige Bausteine. Das eigentliche ¿Pfund¿, mit dem die Ausstellung wuchern kann, sind allerdings Interviews mit Zeitzeugen. Mit Hilfe ausländischer Historiker und Dolmetscher wurden 20 ehemalige Zwangsarbeiter und ¿arbeiterinnen aus der Ukraine, aus den Niederlanden und Italien ausführlich zu ihrer Hattinger Zeit befragt. O-Töne ¿ im Original und in der Übersetzung ¿ werden die Besucher beim Weg durch die Ausstellung begleiten.
Die Kontakte kamen auf unterschiedliche Weise zustande. Anja Kuhn: ¿Im Zusammenhang mit der Entschädigungsdebatte haben sich einige ehemalige Zwangsarbeiter in den 90er-Jahren ans Stadtarchiv gewandt, um sich die Arbeit auf der Hütte oder in anderen Betrieben Hattingens bestätigen zu lassen. Bei der Verbindung zu Zeitzeugen aus der Ukraine half die Gesellschaft Bochum Donezk e.V., ein Verein, der die Partnerschaft zwischen den Städten Bochum und Donezk fördert, sowie die ukrainische Nationalstiftung ¿Verständigung und Versöhnung.¿

Weil es neben schriftlichen Quellen ¿ und dem eigentlichen Ort des Geschehens - wenige Exponate gibt, setzt das Ausstellungsteam der Henrichshütte auf Inszenierungen, die die Gefühle der Besucher ansprechen. ¿Wir hoffen, damit vor allem Jugendliche zu erreichen¿, erklärt die Wissenschaftlerin. So platzen die Besucher am Ausstellungsbeginn im Bessemerstahlwerk regelrecht in eine Werksleiterbesprechung zum Thema ¿Bedrohung der Rüstungsproduktion durch Arbeitermangel¿ hinein. Auf dem Sitzungstisch finden sie neben Modellen von Rüstungsprodukten Besprechungsmappen mit Zeitungsartikeln, Einberufsbescheiden und Formularen zum Anfordern von Personal. ¿Mit diesen Formularen wurde letztlich am grünen Tisch über das Schicksal 1000er Menschen entschieden¿, so Anja Kuhn.
Etwas weiter stellt eine Fahneninstallation mit Biografien und Portraits die Zwangsarbeiter als ¿Menschen wie du und ich¿ vor ihrer Verschleppung vor, Menschen mit Beruf, mit Heiratsplänen, mit Hoffnungen für die Zukunft. Ein Weg mit Schienenstrang, der sich stetig verengt und als Einbahnstraße zum Werkstor führt, bringt die Besucher ins Zentrum der Schau. Rüstungsgüter, Fotos, Arbeitswerkzeuge und Dokumente stehen für den Arbeitsalltag zwischen den Eckpfeilern ¿Ideologie¿ und ¿Ökonomie¿. O-Töne zeugen von Gesten der Menschlichkeit und Unmenschlichkeit: ein Zwangsarbeiter erzählt die Geschichte vom Butterbrot, das ein deutscher Kollege ihm zusteckt hat, eine Zeitzeugin berichtet von den unmenschlichen Schikanen deutscher Vorgesetzter.

Auch die sogenannte ¿Krautaktion¿ gehört in dieses Spannungsfeld: Bei dem Ernährungsgroßversuch des Kaiser-Wilhelm-Instituts in Dortmund unter Leitung von Heinrich Kraut wollte man herausbekommen, wie viele Kalorien ein Fremdarbeiter braucht, um optimale Arbeitsergebnisse zu erzielen. Die Werksleitung der Henrichshütte ließ 1.500 russische Kriegsgefangene, italienische Militärinternierte und Osterarbeiter daran teilnehmen.
Am Ende erfahren Besucher unter dem Stichwort ¿was bleibt¿ mehr über das Schicksal der Zwangsarbeiter nach der Befreiung, über die Rückkehr in ihre Heimat, über das Verdrängen des Themas in der Nachkriegszeit und und die spät entfachte Debatte um die Entschädigungen. Als Abschluss hat die Hattinger Ausstellung noch eine Besonderheit zu bieten. Anja Kuhn: ¿Wir werden einen Luftschutzstollen wieder begehbar machen, den die Zwangsarbeiter in den Hang gesprengt haben. Der Stollen stand ihnen selbst allerdings nie zur Verfügung, sondern lediglich einigen Angestellten der Henrichshütte, die oben an der Straße wohnten.¿ Tatsächlich verloren viele Hattinger Zwangsarbeiter bei Angriffen der Alliierten ihr Leben.

Zahlreiche Veranstaltungen begleiten zwischen 15. April und 27. Juli die gemeinsame Ausstellung der Stadt Hattingen und des LWL: Vorträge und Filme im Stadt- und Industriemuseum und bei der Volkshochschule Hattingen, Schullesungen der Stadtbücherei, Theaterstücke und Schulprojekte. Anja Kuhn hofft vor allem auf das Gelingen eines
Projektes der Gesamtschule in Welper: ¿Der Geschichtsleistungskurs will erfahren, wie Zwangsarbeit die Biografien der betroffenen Menschen geprägt hat, dazu wollen die Schüler auch selbst mit den Zeitzeugen sprechen. Wenn alles klappt, können wir im Juni eine Gruppe von 20 ehemaligen Zwangsarbeitern in Hattingen begrüßen.¿







Pressekontakt:
Christiane Spänhoff, Westf. Industriemuseum, Tel: 0231 6961127 und Frank Tafertshofer, LWL-Pressestelle, Tel: 0251 591-235
presse@lwl.org



Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.



Foto zur Mitteilung
Zwangsarbeiter auf dem Weg vom Lager zur Henrichshütte (1941).
Foto: LWL


Foto zur Mitteilung
Zwangsarbeiter stapeln Granathülsen auf der Henrichshütte (um 1942).
Foto: LWL


Foto zur Mitteilung
Viktor Babenko (77) und Iwan Shurujew (75) - ehemalige Zwangsarbeiter der Henrichshütte, leben heute in Doniezk in der Ukraine.
Foto: LWL



Die gezeigten Fotos stehen im Presseforum des Landschaftsverbandes zum Download bereit.



Das Presseforum des Landschaftsverbandes im Internet: https://www.lwl.org/pressemitteilungen