Stilllegungen von Eisenbahnstrecken in Westfalen

01.01.2010 Christian Hübschen

Kategorie: Verkehr

Schlagworte: Westfalen · Geschichte · Schienenverkehr

Vergleicht man das heutige Eisenbahn-Stre­ckennetz mit älteren Karten aus den 1920er bis 1950er Jahren, fällt auf, dass eine deutliche Netzreduzierung stattgefunden hat, die sich vor allem im ländlichen Raum widerspiegelt. Grob gesagt, hat sich die Erschließung Westfalens durch die Eisenbahn wieder auf den Stand von etwa 1885 reduziert (Abb. 1).

Die ersten Stilllegungen im größeren Umfang erfolgten nach der Verstaatlichung in den Jahren nach 1880–1885 (s. Beitrag Tschorn), als die Preußischen Staatsbahnen das Gewirr der privaten, oft in Konkurrenz zueinander stehenden Strecken im Ruhrkohlengebiet zu entflechten, zusammenzulegen, neu zu verknüpfen und teilweise auch neu zu bauen begannen. Prominentestes "Opfer" war die gerade in Betrieb gegangene WE-Strecke Dortmund – Herne, die 1882 nach weniger als drei Betriebsjahren zum größten Teil wieder aufgegeben wurde.

Im vorwiegend ländlichen Westfalen zeigte sich der Straßenverkehr durch seine größere Beweglichkeit und geringeren Betriebskosten gegenüber der Schiene hinsichtlich einer flächenhaften Er­schließung überlegen. Mitte der 1920er Jahre entwickelte sich der Kraftverkehr daher vom Zubringer zum Konkurrenten der Bahn. Zwar war die Eisenbahn weiterhin unverzichtbar, aber die Konkurrenz schlug sich dort im sinkenden Fahrgast- und Güteraufkommen nieder und führte schließlich zu ersten nennenswerten Stilllegungen. Neben der Konkurrenz durch das Kraftfahrzeug kam hinzu, dass im Ersten Weltkrieg und in der Folgezeit "auf Verschleiß" gefahren wurde, die ungünstigen konjunkturellen Rahmenbedingungen aber nicht die dringend erforderlichen Investitionen in die Infrastruktur und das Rollmaterial erlaubten.
Abb. 1: Bis heute (2009) stillgelegte Eisenbahnstrecken(-abschnitte) in Westfalen (Quelle: Eigene Erhebungen)

Wenn diese Stilllegungen zwar in erster Linie Privatbahnen und hier schmalspurige Strecken betraf, so sind erste Stilllegungen von Staatsbahnstre­cken wohl nur durch den ab Mitte der 1930er Jahre beginnenden Wirtschaftsaufschwung vermieden worden, unterstützt durch Autarkiebestrebungen des Dritten Reichs, für die beispielsweise der nicht mehr oder bislang nicht lohnende Abbau von Bodenschätzen (v. a. Erze) (wieder) aufgenommen wurde. Gleichzeitig zog auch die beginnende Aufrüstung einen erhöhten Transportbedarf nach sich. Sicherlich haben auch strategische Überlegungen, für die ein engmaschiges Eisenbahnnetz benötigt wurde, weitere Stilllegungen verhindert.

Die Zerstörungen in dem dann folgenden Zweiten Weltkrieg beseitigten die Eisenbahnunternehmen meist aus eigener Kraft (Investitionen), auch wenn sich der Wiederaufbau bis weit in die 1950er Jahre hineinzog. Allerdings gingen einige untergeordnete Strecken(abschnitte), meist wegen zerstörter Kunstbauten (Brücken), nicht mehr in Betrieb.

Ab etwa Mitte der 1950er Jahre begannen dann die sukzessive Netzausdünnung sowie der langsame, in Wellen schnellere, Rückzug der Eisenbahn aus der Fläche. Zuerst stellten die schmalspurigen, in ländlichen Gebieten liegenden Privatbahnen ihren Betrieb ein, dann folgten die normalspurigen Privatbahnen und teilweise bereits auch Staatsbahnstrecken. Bis Ende der 1960er Jahre verschwanden fast alle schmalspurigen Eisenbahnen aus dem Verkehrsbild Westfalens, und die meis­ten regelspurigen Privatbahnen betrieben zumeist nur noch Güterverkehr. In diesen Jahren begann auch die Deutsche Bundesbahn mit einer massiven Netzausdünnung, die bis heute (2009) fast alle Nebenstrecken im ländlichen Raum, aber auch manche Hauptbahnen in Ballungsräumen betrifft. Während sich die Stilllegungen in den 1970er und 1980er Jahren vorwiegend auf den Reisezugverkehr konzentrierten und die Strecken meist noch im Güterverkehr weiter betrieben wurden, findet seit Mitte der 1990er Jahre der endgültige Rückzug der Eisenbahn aus der Fläche statt.

Während eine Stilllegung im Reisezugverkehr oft noch Proteste hervorruft, gehen die Einstellung des Güterverkehrs und der Rückbau der Gleisanlagen meist unbeachtet von der Öffentlichkeit vonstatten.

Aber was waren die Gründe für diese Entwicklung? Zunächst ist zu berücksichtigen, dass zwischen 1939 und 1945 – wie bereits im Ersten Weltkrieg – abermals "auf Verschleiß" gefahren wurde. Hinzu kam – anders als nach 1918 – zusätzlich die teilweise massive Zerstörung der Infrastruktur auch im Landesinneren, so dass – gerade wieder bei Klein- und Privatbahnen – das Geld für dringend nötige Investitionen in die Infrastruktur und Fahrzeuge fehlte; Reparaturen – meist nur notdürftig – fanden zwar statt, aber eine grundlegende Erneuerung des Rollmaterials oder der Infrastruktur erfolgte nicht.

Auch die Motorisierungswelle in der Nachkriegszeit setzte sich ab etwa Mitte der 1950er Jahre mit dem "Wirtschaftswunder" fort und verursachte bei den Eisenbahnen weitere Rückgänge des Personen- und des Güterverkehrs. Hier kamen die besseren Einsatzmöglichkeiten des Kraftfahrzeugs in der flächenhaften Verkehrsbedienung gegenüber der Schiene gerade im ländlichen Raum deutlich und endgültig zum Tragen.

Zwar versuchten die 1949 gegründete Deutsche Bundesbahn – wie zuvor auch bereits ihre Vorgängerin, die Reichsbahn – und mit ihr die privaten Bahnen durchaus, auch den Nebenbahnbetrieb durch Anpassungen in der Infrastruktur oder im Betrieb ("vereinfachter Nebenbahnbetrieb") sowie durch die Beschaffung geeigneter Fahrzeuge ("Schienenbus") oder neuer Produkte ("Haus-zu-Haus-Behälterverkehr") zu rationalisieren, um effektiver und kostengünstiger zu werden (auch die Einrichtung neuer Haltepunkte sollten zu Mehrverkehr führen), aber letztlich konnten diese Maßnahmen die drohenden Stilllegungen lediglich verzögern, nicht aber verhindern.

Beim Gütertransport, der das Rückgrat der Verkehrsleistungen bildete, kam hinzu, dass sich auch Güterart, -struktur und -aufkommen veränderten. Dominierten anfangs noch die eisenbahntypischen (Massen-)Güterarten wie Kohle, Erze, Stahl und Baustoffe mit direkten und starken Strömen, so wurden sie in der Nachkriegszeit immer kleinteiliger bei gleichzeitig immer stärker differenzierten und gestreuten Start-Ziel-Relationen. Dies verschaffte dem Straßengüterverkehr aufgrund des bis heute hervorragend ausgebauten Straßennetzes deutliche Wettbewerbsvorteile und immer größere Transportanteile. Zudem führte auch im Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet die Mitte der 1960er Jahre hereinbrechende Montan­krise zu einem deutlichen Rückgang des bahnaffinen (Massen-)Güterverkehrsaufkommens und zur Stilllegung zahlreicher Anschluss- und Industriebahnen.

Nicht zuletzt bewegten sich die Eisenbahnen in einem schwierigen politischen Umfeld mit einer Verkehrspolitik, die den Straßenverkehr förderte und vorwiegend auf den Straßenausbau setzte. Die fehlende politische Unterstützung gerade der Bundesbahn schlug sich auch im ambivalenten Bundesbahngesetz (1951) nieder, dass ihr eine Führung nach kaufmännischen (also betriebswirtschaftlichen) Grundsätzen verordnete, ihr gleichzeitig aber volkswirtschaftliche Pflichten und Aufgaben auferlegte, wenn auch mit einem gewissen finanziellen Ausgleich.

Die Fesseln des Bundesbahngesetzes sollten erst mit der Bahnstrukturreform (1994) gesprengt werden, dann aber auch mit allen negativen Folgen einer streng betriebswirtschaftlichen Betrachtung und Bewertung insbesondere der (Schienen-)Infrastruktur. Für viele Kritiker liegt gerade hierin der Kardinalfehler der Bahnstrukturreform.

Und damit sind wir beim Hauptgrund für die letzte Stilllegungswelle angekommen. Dass eine streng be­triebswirtschaftliche Bewertung für das nach 1885 (v. a. im ländlichen Raum) unter volkswirtschaftlichen As­pekten entstandene Netz bei den seit Jahrzehnten bestehenden Rahmenbedingungen zu einem negativen Ergebnis führen musste, ist wenig überraschend. Da weder Öffentlichkeit noch Politik sich ernsthaft mit dieser Problematik auseinandersetzten, kam es dann auch in Westfalen seit 1996 zu einer erneuten massiven Stilllegungswelle der meist nur noch im Güterverkehr betriebenen Strecken. Durch die Aufgabe der meis­ten ländlichen Verladestellen und Kündigung von Anschlussgleisen auch an den noch im Reisezugverkehr befahrenen Stre­cken ist heute fast der gesamte ländliche Raum Westfalens güterzugfrei. Bemerkenswerte Ausnahmen sind die größeren nichtbundeseigenen Eisenbahnen, wie z. B. die Teutoburger Wald-Eisenbahn TWE oder die Westfälische Landes-Eisenbahn WLE, die weiterhin Güterverkehr auf ihren Strecken betreiben; andererseits hat z. B. die Ahaus-Enscheder Eisenbahn AEE ihre – wenn auch vergleichweise kurze – Stichstrecke ebenfalls aufgegeben.

In Westfalen wurden infolge dieser Entwicklungen bis Ende 2008 insgesamt etwa 1.300 Kilometer Eisenbahn­stre­cken wieder aufgegeben. Dabei ist festzustellen, dass spät gebaute Strecken, die insbesondere in der Phase nach 1885 in Betrieb gingen, weitaus "anfälliger" für eine Stilllegung waren als früher entstandene Bahnen.

Durch die Stilllegungen ist bis heute fast ein Drittel des westfälischen Eisenbahnnetzes, das insgesamt eine Länge von rund 4.000 km umfasste, wieder von der Bildfläche verschwunden. (Es waren nicht alle Strecken zeitgleich in Betrieb; der Zeitpunkt der größten Ausdehnung war etwa Mitte der 1930er Jahre).

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2010